Memorandum Anmerkungen der ungarischen Regierung zum Bericht des Europäischen Parlaments zur Lage der Grundrechte in Ungarn Am 4. Juli 2013 stimmt das Europäische Parlament über seinen Bericht zur Lage der Grundrechte in Ungarn ab. Nach Ansicht der ungarischen Regierung stellt der Bericht durch seine Vorgehensweise, seinen Inhalt und seine Folgerungen die grundlegenden Prinzipien der Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen den Institutionen der Mitgliedstaaten und der Union, bzw. zwischen den europäischen Institutionen in Frage. Daher sind die möglichen Folgen dieses Berichts nicht nur für Ungarn von außerordentlicher Bedeutung. Durch seine Annahme wird eine Berufungsgrundlage geschaffen, die es künftig dem Europäischen Parlament möglich macht, beliebig ausgewählte Mitgliedstaaten willkürlich, ohne jegliche Ermächtigung unter Vormundschaft zu stellen. Daher sieht sich die ungarische Regierung für verantwortlich, ihre wichtigsten Anmerkungen zum Bericht wie folgt zusammenzufassen. Die europäischen Grundwerte und die Rücksichtnahme auf das Recht der Europäischen Union Nach einer grundsätzlichen Folgerung das Berichtes stehe der Inhalt der Rechtsvorschriften, die in den vergangenen drei Jahren in Ungarn erlassen worden sind, im Widerspruch zu den europäischen Grundwerten, zum Schutz der menschlichen Würde, zur Freiheit, zur Demokratie, zur Gleichheit, zur Rechtsstaatlichkeit und zum Schutz der Rechte der Minderheiten. Überdies verletze Ungarn den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit innerhalb der Union. Im Bericht wird jedoch kein einziges konkretes Beispiel der Verletzung der europäischen Grundwerte oder des Rechtes der Europäischen Union genannt. Statt dessen werden einem Trend gemäß falsche Perzeptionen bekräftigt und unverhältismäßige Folgerungen gezogen. Zahllos legte Ungarn schon Zeugnis darüber ab, dass es den europäischen Grundwerten verpflichtet ist. Das Land arbeitet aufs Engste mit den europäischen Institutionen und internationalen Organisationen zusammen. Wichtig ist es, hierfür als Beispiel zu nennen, dass -selbst die Regierung die Venedig-Kommission um Gutachten über das 2011 verabschiedete Grundgesetz, über zahlreiche Kardinalgesetze, sowie über die Vierte Änderung des Grundgesetzes ersuchte. Auf Grund der zahlreichen Empfehlungen der Kommission sind die Rechtsvorschriften mehrfach geändert worden; - über die Angelegenheiten der Medien führte die Regierung einen konstruktiven Dialog mit der Europäischen Kommission und dem Generalsekretär des Europarates. Als dessen Ergebnis ist die Regelung über die Medien sogar dreimal geändert worden; 2 - auch gegenwärtig führt die Regierung fortwährend sachliche Verhandlungen über sämtliche Einwände, die seitens der Union das ungarische Grundgesetz (bzw. dessen Vierte Änderung) betreffen. Als Ergebnis hat sie bereits einen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes dem ungarischen Parlament unterbreitet, durch dessen Annahme die Möglichkeit, dass für die Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht bestimmt werden kann (Verlagerung von Gerichtssachen), sowie die Möglichkeit der Einführung von Sondersteuern zur Finanzierung der durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes entstandenen Zahlungsverbindlichkeiten abgeschafft würde. Überdies machte die ungarische Regierung in einem Schreiben an die Europäische Kommission klar, dass sie bereit sei, die unentgeltliche Veröffentlichung von politischer Werbung auch im kommerziellen Fernsehen und Rundfunk möglich zu machen. - Überdies einigte sich die ungarische Regierung in sämtlichen europarechtlichen Fragen mit der Europäischen Kommission. In Rechtsstreitigkeiten, in welchen das Europäische Gerichtshof Ungarn verurteilte, hat sie die Urteile des Gerichtshofes restlos vollstreckt. Dass die Feststellungen des Berichts unbegründet sind, beweist auch der Beschluß der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vom 25. Juni, in welchem der Vorschlag, Ungarn einem Monitoringsverfahren zu unterziehen, mit großer Mehrheit abgestimmt wurde. Rassismus, Antisemitismus, Zigeunerfeindlichkeit, Kriminalisierung von Obdachlosigkeit Der Bericht enthält eine ernste Kritik gegenüber Ungarn. Demnach verletze das Land die grundlegenden Meschenrechte schwer und in systematischer Art und Weise. Indem Tatsachen, die dieser Behauptung widersprechen, unbeachtet bleiben, wird Ungarn im Bericht als Heimat des Rassismus, der Antisemitismus, der Zigeunerfeindlichkeit und der Verfolgung von Obdachlosen dargestellt. Dies offenbart sich nicht nur in konkreten, obgleich unbegründeten Behauptungen, sondern auch in der Narrative des Berichts, wonach Ungarn früher eine offene Gesellschaft gewesen sei, gegenwärtig jedoch rassistische Verbrechen und antisemitische Hetzreden das öffentliche Leben des Landes beherrschten, und die ungarische Regierung dies in aktiver Weise fördere. Diese schwerwiegendsten und gefährlichsten Behauptungen gegen den guten Ruf eines Landes sind in detaillierter Weise zu dementieren. Ohne Rücksicht auf unsere mehrmaligen schriftlichen Anmerkungen wird im Bericht die gegenwärtige Regierung auch für Menschenrechtsverletzungen, die vor 2010 geschahen, verantwortlich gemacht, obwohl sie weit mehr unternommen hat, rassistischen Tendenzen in der ungarischen Gesellschaft und im öffentlichen Leben des Landes Einhalt zu gebieten, als irgendeine ihrer Vorgänger. Trotz der mehrfachen schriftlichen Ersuchen seitens der ungarischen Regierung war der Berichterstatter nicht gewillt, folgende Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen: 3 - erst die gegenwärtige Regierung machte drohende Aufmärsche rechtsextremer paramilitärischer Verbände zum Straftatbestand; - erst die gegenwärtige Regierung schuf die Möglichkeit eines zivilrechtlichen Anspruchs gegen volksverhetzende Äußerungen; - das von der gegenwärtigen Regierung initiierte neue Strafgesetzbuch macht das Leugnen des Holocaust, das Zeigen nationalsozialistischer Symbole, Gewalt und Verhetzung zum Haß gegen Angehörige der jüdischen Gemeinschaft und der Gemeinschaft der Roma zum Straftatbestand; - die gegenwärtige Regierung machte den Unterricht über den Holocaust und die Kultur der Roma in den Schulen zur Pflicht, und das Jahr 2014 zum Gedenkjahr des Holocaust; - die gegenwärtige Regierung fördert in aktiver Weise die Geburt einer neuen jüdischen Renaissance; - die gegenwärtige Regierung erhob die Integration der Roma zu einer nationalen und europäischen Angelegenheit von erstrangiger Wichtigkeit; - das gegenwärtige Parlament machte die Schaffung von menschenwürdigen Wohnbedingungen für Obdachlose zur verfassungsmäßigen Pflicht des Staates und der Gemeinden. Tatsache ist, dass der Ministerpräsident der gegenwärtigen Regierung seit Jahren im Kreuzfeuer der Angriffe antisemitischer und rassistischer Gruppen steht. Im Einklang mit dem Prinzip der „Null-Toleranz” wies und weist die Führung des ungarischen Staates jede Form von rassistischen Erscheinungen in Ungarn zurück, und das wird sie auch künftig tun. Hiervon wird im Bericht jedoch keine Kenntnis genommen, sondern - anhand eines bedauernswerten Falles, der keineswegs irgend etwas mit der Regierung zu tun hat, und mit Hilfe der Verschweigung oder tendenziösen Entstellung wahrer Tatsachen - ein Bild über Ungarn produziert, das zugleich der schweren Verurteilung des Landes zu Grunde gelegt wird. Die Umgestaltung des Verfassungssystems in Ungarn Eine weitere wichtige Folgerung des Berichts ist, dass die Regierung im Besitz der Zweidrittelmehrheit im Parlament gleichsam eine „Verfassungsdiktatur” in Ungarn ausübe. Nach Ansicht des Berichts habe die Regierungsmehrheit zuerst wider Willen der Opposition und ohne das Volk zu fragen, „staatsstreichartig” eine neue Verfassung verabschiedet, dann in den darauffolgenden Wochen durch Gesetze, die nur im Besitz einer Zweidrittelmehrheit beschlossen werden können (sog. Kardinalgesetze), ihre Macht zementiert. Nach den Feststellungen des Berichts sei durch den Umstand, dass die Regierungsmehrheit in kurzer Zeitspanne „systematisch und wiederholt” die verfassungsmäßigen Rahmen verändert habe, die Rechtsstaatlichkeit, der Grundpfeiler der EU gefährdet. 4 Der historische Kontext ist jedoch folgender: Die Verfassung, die dem 2011 verabschiedeten Grundgesetz voranging, ist nach der gewalttätigen Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1949 beschlossen, und vom letzten nicht-demokratisch gewählten Parlament (Einparteienparlament) vor den ersten demokratischen Wahlen im Jahr 1989 wesentlich geändert worden. Sogar ihrer Präambel nach galt diese Verfassung als eine vorübergehende Regelung. Zwischen 1994 und 1998 gestaltete die damalige sozialistisch-liberale Zweidrittelmehrheit das Verfassungssystem durch Verabschiedung einer Verfassungsänderung und zahlreicher Kardinalgesetze. Unter den ehemals sowjetisch beherrschten Staaten wurde nach 1990 nur in Ungarn keine neue demokratische Verfassung beschlossen. Das 2011 beschlossene neue Grundgesetz erfüllt ein zwanzigjähriges Versprechen, und ist der symbolische Abschluß der politischen Wende von 1990. Der Bericht enthält zahlreiche Tatsachen nicht, die mit den Umständen der Verabschiedung des Grundgesetzes zusammenhängen, und auf die die Regierung schon mehrfach hingewiesen hat. Es wurde nicht zur Kenntnis genommen, dass die Vorbereitung des Grundgesetzes auf verschiedenen politischen, sozialen und fachlichen Ebenen über ein Jahr lang dauerte. An der Volksbefragung (nationale Konsultation) über die wesentlichen Regelungen des neuen Grundgesetzes nahmen in schriftlicher Form mehr als eine Million Wahlberechtigte teil. Die Sitzungsperiode des ungarischen Parlaments im Frühling 2011 befaßte sich ausschließlich mit dem Grundgesetz, keine andere Rechtsnorm war an der Tagesordnung der Sitzungen. Daher ist die Behauptung in erheblichem Maße irreführend, dass die neue ungarische Verfassung in nur 35 Tagen fertiggestellt worden sei. Die Vorschriften zur Verfassungsgebung haben sich nicht geändert, es sind dazu nach wie vor zwei Drittel der Stimmen der Parlamentsabgeordneten erforderlich. Dass zwei Oppositionsparteien die Teilnahme an der Verfassungsgebung verweigerten, war eine autonome politische Entscheidung, die weder die Legitimität des Verfahrens, noch die des angenommenen Textes in Frage stellt. Unwahr sind auch die Behauptungen im Bericht über die im März 2013 beschlossene Vierte Änderung des Grundgesetzes. Die Vierte Änderung hatte einzig und allein die Regelung einer vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuften Rechtslage zum Ziel. Demnach mußten diejenigen allgemeinverbindlichen Verfassungsbestimmungen, die früher in den sog. Übergangsbestimmungen zum Grundgesetz enthalten waren, in den Text des Grundgesetzes selbst übernommen werden. Die Tatsachen werden irreführend entstellt auch durch die Behauptung, wonach durch die Vierte Änderung des Grundgesetzes Bestimmungen auf Verfassungsebene gehoben worden seien, die früher vom Verfassungsgericht annulliert wurden. Selbst die Venedig-Kommission hat in ihrem am 14. Juni angenommenen Schlußbericht (CDL-AD(2013)012) zur – übrigens von der ungarischen Regierung initiierten – Überprüfung der Vierten Änderung festgestellt, dass die Entscheidungen des Verfassungsgerichts von der Legislative nicht außer Acht gelassen worden seien. Gerade das Gegenteil ist der Fall: Die Legislative hat in der Vierten Änderung neue Lösungen eingeführt, die auf die Entscheidungen des Verfassungsgerichts Rücksicht nehmen oder Rechtsgrundlagen für solche geschaffen. 5 Eine weitere unbegründete Behauptung ist, dass das ungarische Parlament die Zweidrittelmehrheit dadurch mißbrauche, dass es Verhältnisse des Alltagslebens massenweise in Kardinalgesetzen regele, und somit die künftigen Regierungen der Möglichkeit der effektiven Regierungstätigkeit beraube. Das System und die Gegenstände der Kardinalgesetze sind eine Erbschaft der Verfassungsänderung von 1989. Seit 1990 ist die Zahl der Regelungsgegenstände der Kardinalgesetze im Großen und Ganzen unverändert. Der Bericht unterläßt es, darauf hinzuweisen, dass auch die Kardinalgesetze vom Verfassungsgericht unbeschränkt überprüft werden können. In Bezug dieser Gesetze, die nur eine Zweidrittelmehrheit beschließen kann, ist hervorzuheben, dass zwischen 1994 und 1998 die damals regierende sozialistisch-liberale Mehrheit im Besitz von zwei Dritteln der Stimmen (verfassungsgebende Mehrheit) sechsmal die Verfassung geändert, 20 neue Kardinalgesetze und 19 weitere Änderungen zu den Kardinalgesetzen beschlossen hat, ohne Rücksicht auf die Meinung der Opposition. Diese Zahlen sind weit höher, als die, die aus der Aktivität der Gesetzgebung nach der Verabschiedung des Grundgesetzes resultieren, und über welche im Bericht Kritik geübt wird. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Umgestaltung des ungarischen Verfassungssystems abgeschlossen ist. Nur die Feinabstimmung bereits existierender Regelungen ist noch im Gange. In den vergangenen zwei Jahren erwiesen sich das Grundgesetz und die beschlossenen Kardinalgesetze als ein funktionsfähiger Rahmen zur Erschaffung eines erfolgreichen und modernen Ungarns. Die Befugnisse des Verfassungsgerichts Im Bericht wird wiederholt Kritik geübt über die Einengung der Befugnisse des Verfassungsgerichts (Haushaltsvorschriften, Annullierung der früheren verfassungsgerichtlichen Praxis, Verbot der inhaltlichen Überprüfung von Verfassungsänderungen), sowie über die Regelung der Wahl der Verfassungsrichter. Auf Grund der Regelung in der vorangehenden Verfassung konnte sich jeder – auch ohne berechtigtes Interesse – an das Verfassungsgericht wenden, und die Annullierung von Rechtsvorschriften ohne Einschränkung beantragen. Selbst nach Auffassung des Verfassungsgerichts ergab sich aus dieser Möglichkeit der actio popularis eine so hohe Zahl von Angelegenheiten, die nicht mehr bearbeitet werden konnte. Das 2011 reformierte ungarische Verfassungsgericht ist im Weltvergleich noch immer eines der Verfassungsgerichte mit den umfangreichsten Befugnissen. (Den Einklang des neuen Systems der Verfassungsgerichtsbarkeit mit den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit hat auch die Venedig-Kommission bestätigt (CDL-AD(2012)009)). Der Gesetzgeber hat durch die Einengung des Kreises der Antragsberechtigten und die Einführung der Verfassungsbeschwerde die Antragsberechtigung zur verfassungsgerichtlichen Prüfung von Rechtnormen auf Personen beschränkt, deren Recht tatsächlich verletzt wurde. 6 Vorübergehend – bis die Staatsverschuldung die Hälfte des Bruttoinlandprodukts übersteigt – erstrecken sich die Befugnisse des Verfassungsgerichts nicht auf die Überprüfung von haushaltsrechtlichen Vorschriften, es sei denn, dass deren Regelungen die Grundrechte betreffen. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme ergab sich aus der überhohen Staatsverschuldung Ungarns. Die Vierte Änderung des Grundgesetzes setzte die vor dem In-Kraft-Treten des Grundgesetzes gefaßten Entscheidungen des Verfassungsgerichts außer Kraft, jedoch hielt sie deren Rechtswirkungen weiterhin aufrecht. Im Gegensatz zu den Behauptungen im Bericht bedeutet dies aber nicht, dass sich das Verfassungsgericht künftig nicht mehr auf seine früheren Entscheidungen berufen könne, wenn diese nicht im Widerspruch zum Grundgesetz stehen. Unwahr ist auch die Behauptung im Bericht, dass nach der vorangegangenen Regelung zur Wahl der Verfassungsrichter ein Konsens im Parlament nötig war. Nach wie vor sind zwei Drittel der Stimmen der Parlamentsabgeordneten zur Wahl eines Verfassungsrichters nötig. Die Aufforderung im Bericht, wonach das Parlament dem Verfassungsgericht wieder ermöglichen soll, Verfassungsänderungen auch ihrem Inhalt nach überprüfen zu dürfen, stellt eine Unmöglichkeit dar. Das ungarische Verfassungsgericht hatte nie eine solche Befugnis, so gibt es auch nichts, das wiederherzustellen wäre. Durch die Möglichkeit der Überprüfung von Verfassungsänderungen würde der elementare Grundsatz der repräsentativen Demokratie aufgehoben, das Verfassungsgericht zugleich aber zu einer Entität erhoben, die jeglicher Kontrolle durch die Volksvertreter entzogen wäre. Die Unabhängigkeit der Judikative Ähnlicherweise sind auch die Feststellungen im Bericht zur Unabhängigkeit der Judikative unwahr. Nach dem Inhalt des Berichts sei in Ungarn die Unabhängigkeit der Judikative in Gefahr, da das Mandat des Präsidenten des früheren Obersten Gerichtshofes vorzeitig erloschen sei, die Befugnisse des Präsidenten des Gerichtsverwaltungsamtes zur Verlagerung von Gerichtssachen (d. h. die Befugnis, zur Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht zu bestimmen) zu umfangreich seien, und die Wiedereinsetzung rechtswidrig entlassener Richter nicht restlos erfolgt sei. Das Mandat des Präsidenten des früheren Obersten Gerichtshofes war vorzeitig erloschen, weil zugleich die Position selbst - die früher zwei verschiedene Aufgabenbereiche (die Rechtsprechung und die Gerichtsverwaltung) in sich vereinigte - abgeschafft wurde. Einerseits nimmt der Präsident des neuen Obersten Gerichtshofes (der Kurie) nunmehr ausschließlich Aufgaben der Rechtsprechung wahr, andrerseits wurde an Stelle des früheren Landesjustizamtes das Gerichtsverwaltungsamt - mit einem eigenständigen Präsidenten an der Spitze - eingerichtet. Angesichts dieser Umstände erfolgte das vorzeitige Erlöschen des 7 Mandats des Präsidenten des früheren Obersten Gerichtshofes auch nach Auffassung des Verfassungsgerichts verfassungsmäßig. Im Zusammenhang mit der Verlagerung von Gerichtssachen (d. h. mit der Regelung, wonach zur Verhandlung bestimmter Gerichtssachen ein vom Gericht mit allgemeiner örtlicher Zuständigkeit abweichendes anderes Gericht bestimmt werden kann) nimmt der Bericht nicht zur Kenntnis, dass die Regierung Ungarns bereits eine Einigung mit der Europäischen Kommission über die Abschaffung dieser Regelung getroffen hat. Daher ist jede diesbezügliche Kritik gegenstandslos. Ähnlicherweise unbegründet ist die Kritik, dass Ungarn nicht restlos die Wiedereinsetzung der entlassenen Richter vollziehe. Ungarn sieht sich vollends verpflichtet zur Vollstreckung des Urteils des Europäischen Gerichtshofes vom November 2012. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass sich dieses Urteil nicht auf die Verletzung der Unabhängigkeit der Judikative, sondern auf die der Antidiskriminierungsrichtlinie gründet. Die Wiedereinsetzung früher entlassener Richter erfolgt fortwährend aufgrund einer Lösung, die gemeinsam mit der Europäischen Kommission ausgearbeitet wurde. Das neue Wahlsystem Die Kritik des Berichts am neuen Wahlsystem gründet sich darauf, dass die Opposition diesem nicht zugestimmt habe, und das System die Verhältnismäßigkeit und Unabhängigkeit der Nationalen Wahlkommission (die Instanz, die Aufsicht über die Rechtmäßigkeit des Ablaufs der Wahlen ausübt) nicht gewährleiste. Das neue Wahlsystem ist dadurch weder illegitim, noch antidemokratisch, dass die Parteien der Opposition dessen Einführung mit ihren Stimmen nicht unterstützt haben. Es hat auch keiner die von der sozialistisch-liberalen Zweidrittelmehrheit im Jahr 1997 erlassenen Wahlvorschriften in Frage gestellt. Die neue Wahlordnung ist nötig, da ab 2014 die Anzahl der Parlamentsabgeordneten von 386 auf 199 verringert wird. Die Vorbereitung der Regelung erfolgte im Rahmen einer auf der Grundlage der Parität gegründeten mehrparteilichen Parlamentsausschusses. Das neue System enthält mehrere von den Oppositionsparteien initiierte Erleichterungen. Es macht die Kandidatur an den Wahlen leichter, und die kleinen Parteien werden positiv diskriminiert. Die Kritik im Bericht über die Nationale Wahlkommission ist völlig unbegründet. Die Wahl dieser Instanz mit stark beschränkten Befugnissen beruhte aufgrund der von der sozialistischliberalen Zweidrittelmehrheit im Jahr 1997 beschlossenen Regelung vollends auf parteipolitischen Grundlagen: Der Innenminister schlug die Mitglieder vor, die vom Parlament mit einfacher Mehrheit gewählt wurden. Dagegen führte das neue System wichtige Garantien der Unabhängigkeit ein: Die Mitglieder werden vom Präsidenten der Republik vorgeschlagen, und vom Parlament mit Zweidrittelmehrheit gewählt. Die Nationale Wahlkommission wird in der Wahlkampfzeit ergänzt mit Interimsmitgliedern, die von den 8 Parteien delegiert werden. Das neue System stärkt die Unabhängigkeit der Instanz, wobei die Teilnahme der Parteien an der Aufsicht über die Wahlen nach wie vor gesichert ist. Auf Ersuchen seitens der ungarischen Regierung wurde 2012 das neue ungarische Wahlsystem von der Venedig-Kommission und der OSZE überprüft. In ihrem gemeinsamen Bericht (CDL-AD(2012)012) wird festgestellt, dass die überprüfte Regelung zur Wahl der Parlamentsabgeordneten ab 2014 als eine solide Grundlage diene zur Veranstaltung von glaubwürdigen und demokratischen Parlamentswahlen. Im Spiegel dieser Tatsachen ist der Versuch im Bericht völlig unbegründet, im Hinblick auf die Transparenz der Wahlen von 2014 Zweifel zu säen. Medienpluralismus, Wahlwerbungen Der Bericht enthält allgemeine kritische Anmerkungen zum Medienpluralismus. Im weiteren wird die Einschränkung der Veröffentlichung von politischer Werbung in den audiovisuellen Medien beanstandet. In den vergangenen drei Jahren hat das ungarische Parlament als Ergebnis der Konsultationen mit der Europäischen Kommission, dem Europarat und der OSZE die ungarische Medienregelung dreimal geändert. Der Präsident des Europarates hat bestätigt, dass sie den Anforderungen entspricht. Die Feststellungen des Berichts im Zusammenhang mit der politischen Werbung gründen sich auf einen schweren Irrtum. In Ungarn darf politische Werbung sowohl in der gedruckten Presse, wie auch im Internet veröffentlicht werden, ohne Rücksicht auf die Wahlkampfzeit. Es darf plakatiert werden, es dürfen Flyer verteilt werden, jedes Mittel des direkten Wahlkampfes darf frei angewandt werden. Ohne Einschränkung dürfen in jedem Zweig der Medien politische Diskussionen veranstaltet und Analysen veröffentlicht werden. Die Einschränkung gilt ausschließlich für die Fernseh- und Rundfunkwerbung in der Wahlkampfzeit. Da haben die öffentlich-rechtlichen Medien den Parteien unentgeltlich und im gleichen Ausmaß Erscheinungsmöglichkeiten anzubieten. Solche Einschränkungen gibt es in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Die Regelung hat zum Ziel, den Wirtschaftslobbies eine unverhältismäßige Beeinflussung der Wahlen unmöglich zu machen. Dessenungeachtet hat die ungarische Regierung den Vorschlag der Europäischen Kommission angenommen, in der Wahlkampfzeit die unentgeltliche Veröffentlichung politischer Werbung auch in den kommerziellen Medien möglich zu machen. Die Anerkennung von Kirchen, die freie Religionsausübung Im Zusammenhang mit den Kirchen und der Religionsausübung nimmt der Bericht keine Rücksicht auf die Informationen der ungarischen Regierung. 9 Da die frühere Regelung über die Anerkennung von Kirchen im Februar 2013 vom Verfassungsgericht als eine verfassungswidrige verworfen wurde, schlug die Regierung im April 2013 folgende neue Lösung dem Parlament vor: - nach wie vor darf sich jede Religionsgemeinschaft frei zu ihrem Glauben bekennen und ihre religiösen Akte ausüben; - eine jede Religionsgemeinschaft darf sich frei „Kirche” nennen; - der Staat hält eine privilegierte Beziehung zu bestimmten Religionsgemeinschaften aufrecht, die sich vor allem in rechtlichen und finanziellen Privilegien manifestiert. Diese Kirchen nehmen in aktiver Weise an der Verwirklichung staatlich anerkannter gemeinschaftlicher Ziele teil; - der privilegierte Kirchenstatus wird vom Parlament mit zwei Dritteln der Stimmen veliehen; - das neue Verfahren zur Privilegierung besteht aus zwei Abschnitten: Aus einem Verwaltungs-(Vorbereitungs-)abschnitt und einem parlamentarischen (politischen) Abschnitt. Nach der neuen Regelung bestehen in beiden Verfahrensabschnitten Möglichkeiten zur Einlegung von Rechtsmitteln. Institutionelle Vorschläge des Berichts Die Unbegründetheit und politische Voreingenommenheit des Berichts ist vor allem für Ungarn von Bedeutung. Jedoch werden im Bericht institutionelle Lösungen für alle Mitgliedstaaten vorgeschlagen, aus welchen sich eine schwere Verletzung des heute bekannten - auf der strengen Rücksichtnahme auf die Gründungsverträge fußenden – Systems der Europäischen Union ergibt. Erstens: Im Bericht ist eine Aufforderung an alle Mitgliedsstaaten zum Schutz der Grundwerte der Union formuliert. Darauf gegründet werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, am „Artikel 2 Trilog” teilzunehmen, der zum Monitoring von Ungarn aufgestellt werden soll. Im Bericht wird der Europäische Rat verurteilt, da dieser sich nicht mit der „ungarischen Angelegenheit” befaßt habe, der Ratspräsident wird zur Fertigstellung einer Auswertung der Lage in Ungarn aufgefordert. Zweitens: Die Kommission wird im Bericht zur Erfüllung von Aufgaben angewiesen, die fern außerhalb ihrer Zuständigkeit liegen. So wird die Kommission aufgefordert, nicht nur die konkrete Geltung des europäischen Rechts zu beobachten, sondern auch bedeutende Änderungen der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten einer Prüfung zu unterziehen. Überdies fordert der Bericht die Aufstellung eines „Frühwarn-Mechanismus” auf hoher Ebene zur Beaufsichtigung der Mitgliedstaaten. Ein wichtiges Element wäre, dass die Kommission beliebig ausgewählte fachpolitische Verhandlungen der Union mit dem als renitent eingestuften Mitgliedstaat zu hindern hätte. 10 Für Ungarn schreibt der Bericht die Pflicht zu Maßnahmen und Berichterstattung vor, deren Nichterfüllung durch die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 7 des Vertrages über die Europäische Union sanktioniert werden soll. Zur Durchführung will der Bericht eine neue, aus den Unionsverträgen nicht bekannte Institution aufstellen, den sog. „Artikel 2 Trilog”, der aus den Berichterstattern des Europäischen Parlaments, sowie aus den Vertretern des Rates und der Kommission bestehen soll, und zur Aufgabe hätte, die Verwirklichung der Empfehlungen des Europäischen Parlaments durch Ungarn zu kontrollieren. Ungarn – künftig aber auch ein jeder Mitgliedstaat – würde so lange einem Monitoring unterzogen, bis dieses Gremium dies für nötig hält. Der „Artikel 2 Trilog” wäre in einem vollkommenen rechtlichen Vakuum tätig. Weder sein Verfahren wäre zu kennen, noch wären seine Ermessensgesichtspunkte festgelegt. Gegen seine Entscheidungen gäbe es kein Rechtsmittel. Schlußfolgerungen Nach Beurteilung der ungarischen Regierung bedeutet die Annahme des Berichts eine Gefahr für die Entwicklung der europäischen Integration. Der Bericht ignoriert die Befugnisse des Europäischen Parlaments, die Aufgabenteilung unter den Institutionen der Europäischen Union und das juristisch definierte System der Gleichgewichte zwischen den Mitgliedstaaten und der Union. Ebenfalls wird die vertragsmäßige Verpflichtung zur gegenseitigen Rücksichtnahme auf die Verfassungstraditionen und Identität ignoriert. Entgegen der Funktionsordnung der Union, die sich auf die strenge Einhaltung der Gründungsverträge gründet, stellt der Bericht auf willkürliche Art und Weise verpflichtende Kriterien fest, führt neue Verfahren ein und kreiert neue Institutionen. Nach Beurteilung der ungarischen Regierung basiert der Bericht auf politisch voreingenommenen und unbegründeten Behauptungen. Wichtige Tatsachen werden verschwiegen. Institutionen, die in der alltäglichen Praxis anderer Mitgliedsstaaten funktionieren, werden im Fall von Ungarn als Angriffe gegen die Rechtstaatlichkeit dargestellt. Überzogene Folgerungen ergeben sich aus labilen Behauptungen. Den Empfehlungen mangelt es an Exaktheit, sie sind unvollziehbar. Sie entbehren jede Kenntnis der institutionellen, juristischen und politischen Umstände in Ungarn. Zusammenfassend: Der Bericht ist ein Mißbrauch der Macht des Europäischen Parlaments, und zugleich eine tiefe Ungerechtigkeit gegen Ungarn und dessen Volk, wobei in offener Weise ein doppeltes Maß an die Tatsachen angelegt wird. Die ungarische Regierung weist aus diesem Grund den Bericht zurück. Sie ist überzeugt, dass das Verhältnis zwischen Ungarn und dem Europäischen Parlament auch künftig innerhalb der vertraglich bestimmten Rahmen bleiben, und - unter Beobachtung der angenommenen Verfahrensweisen - in jeder Hinsicht identisch sein muß mit der Praxis der Europäischen Union im Verhältnis zu anderen Mitgliedsstaaten. Budapest, am 2. Juli 2013