Ellen Frieben-Blum: „Gemischte“ Herkunft und die Frage der

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Ellen Frieben-Blum
„Gemischte“ Herkunft und die Frage der Anerkennung in Familie und
Gesellschaft
Diese Veranstaltung trägt den Obertitel, wer ist fremd. Und dies ist keineswegs als eine rein
rhetorische Frage gemeint. Denn was als Fremdes oder Eigenes wahrgenommen wird, ist
keineswegs immer so eindeutig unterschieden wie die Begriffe suggerieren. Das Eigene bedarf
des Fremden ebenso wie das Fremde des Eigenen bedarf, um überhaupt unterscheidbar zu sein.
Sie gehören zusammen wie yin und yang.
Das Eigene wird mit Identität und Authentizität gleichgesetzt, das Fremde ist das Andere. Doch
ist es schon fast ein Allgemeinplatz zu betonen, dass es Identität nicht an und für sich gibt. Das
Wort Identität leitet sich von dem lateinischen Wörtchen iden ab, und das bedeutet: derselbe,
dieselbe, dasselbe. Identität bedarf also der Identifikation, um etwas als gleich wahrzunehmen.
Und damit eben auch der Unterscheidung bzw. der Unterscheidbarkeit. Dies gilt sowohl für
personale Identität, also für Individuen, als auch für kollektive Identität, sogenannte WirGruppen oder vorgestellte Gemeinschaften.
1. Herkunft und soziale und kulturelle Fremdheit
Ein wesentliches Kriterium für die Unterscheidung von fremd und zugehörig ist die Herkunft.
Dies auf allen Ebenen, der individuellen, nationalen, regionalen oder ethnischen. Wenn man die
Tageszeitungen liest und die politischen Debatten verfolgt, dann kommt man nicht umhin
festzustellen, dass die Frage der Herkunft eine zunehmende Bedeutung gewonnen hat. Im
Zeitalter der Globalisierung, der permanenten Grenzüberschreitungen und Verschiebungen
sowie der Abschließungen ist die ethnische, nationale und kulturelle Herkunft von Menschen zu
einem umkämpften Thema geworden. Dies ist sicher kein Zufall oder gar Paradox. Vielmehr ist
die Mobilität der Menschen als Folge von so unterschiedlichen sozialen Prozessen wie
transnationale Migration, Vertreibung und Tourismus eines der wesentlichen Merkmale des
beschleunigten Wandels unserer heutigen Welt.
Die heutigen Wanderungsbewegungen stellen sowohl die Migranten als auch eine Aufnahmegesellschaft wie Deutschland vor neue Anforderungen. Dies setzt bei den Einheimischen die
Bereitschaft voraus, Fremde dauerhaft aufzunehmen, und bei den Zuwanderern, sich unter
Wahrung ihrer persönlichen Identität zu integrieren. Hinzu kommt, dass der beschleunigte
gesellschaftliche Wandel individuelle wie kollektive Identitäten in Frage stellt. Ich möchte zu
diesem Punkt einige Überlegungen aus einem Arbeitspapier der Hessischen Stiftung für Frieden
und Konflikt zitieren. Dort heißt es:
„Die Globalisierung hat das Phänomen der kulturellen Differenz in den westlichen
Gesellschaften vervielfacht. Das ‚Fremde’ ist dort heute in unterschiedlichsten Formen präsent,
und es nimmt weiter zu. Die Verunsicherung vieler Menschen führt dazu, dass Fremde,
fremdartig erscheinendes Verhalten oder ungewöhnliche Situationen als Bedrohung angesehen
werden. Dieses Gefühl der Bedrohung verstärkt sich noch durch die Verteilungskonflikte, die
mit dem Abbau wohlfahrtsstaatlicher Regelungen einher gehen. Hier wiederholt sich das aus
vielen ethnischen Konflikten bekannte Muster, dass Differenz zur Mobilisierung führt, wenn
sich mit ihr latente Ängste oder manifeste Auseinandersetzungen über die Verteilung
wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Werte verbinden. Solche aufgeladenen
Konflikte bergen in unseren Gesellschaften das höchste Gewaltpotential“.
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Auch in demokratischen Gesellschaften bestehen seit jeher soziologische und kulturelle
Ungleichheiten. Individuen und Gruppen werden aufgrund physischer, ethnischer, religiöser
und geschlechtlicher Merkmale als je besondere unterschieden und oft auch als ungleiche
behandelt und ausgegrenzt. Die Herausforderung für Demokratien liegt darin, die damit
verbundenen Konflikte und gewaltträchtigen Momente gesellschaftlicher Entfremdung
konstruktiv zu bearbeiten.
Die Frage wer ist fremd und was ist fremd, stellt sich also mit großer Dringlichkeit. Und es stellt
sich die Frage nach dem Umgang mit dem „Eigenen“ und dem „Fremden“. Ich möchte jetzt den
Faden dort wieder aufnehmen, wo bei der Unterscheidung zwischen Wir-Gruppe und Anderen
die Herkunft als bedeutsam gilt. Und es geht mir um die Wahrung persönlicher Identität, auch in
Gruppen.
Der Begriff der Herkunft weist in zwei Richtungen. Zum einen Herkunft als unsere biologische
und genealogische Herkunft, unsere Verbindung zu den Eltern, Verwandten und Vorfahren.
Aber auch Herkunft in einem räumlichen Sinne, als Ort oder Region und damit verbundenen
Großgruppen wie Nationen, Ethnien und „Rassen“.
Es ist in Deutschland nicht üblich, bei der Einordnung von Menschen von „Rassen“ zu
sprechen. Das tun hier nur Rassisten. Aufgrund seiner zentralen Rolle in der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ist der Begriff „Rasse“ völlig diskreditiert und wird
deshalb vermieden oder strikt abgelehnt. Dennoch spielt auch in unserem Land der Phänotyp,
also die körperlichen Merkmale von Menschen - wie Haare, Hautfarbe und Gesichtszüge -, für
uns alle eine große Rolle bei der Zuordnung von Herkunft, wenn auch nicht gleich mit
rassistischen Bedeutungen verbunden. Die Assoziation der sozialen Kategorie „Rasse“ bezieht
sich also auf vermeintlich grundlegende biologische Unterschiede, die allerdings nach
wissenschaftlichen Kriterien nicht aufrechtzuerhalten sind.
In vielen englischsprachigen Ländern wird das Äquivalent race differenzierter benutzt als im
Deutschen. Dort wird „Rasse“ nicht ausschließlich als ein biologisches Konzept verstanden,
sondern es wird die kulturelle Konstruktion, die diesem Begriff zugrunde liegt, gerade auch im
kritischen und antirassistischen Diskurs mitgedacht. Die Irritationen, die die Verwendung des
Begriffs „Rasse“ bei uns in der Rezeption von Debatten aus anderen Ländern und sozialen
Kontexten auslösen, zeigen aber auch, dass wir uns hier weiter mit dem Rassenbegriff
auseinandersetzen müssen, denn als soziales Konstrukt der Ausgrenzung und
Fremdenfeindlichkeit ist er weiter wirksam.
Ich möchte noch auf eine weitere Beobachtung eingehen. Die Anwesenheit von Fremdem und
Pluralität wird in den komplexen westlichen Gesellschaften zunehmend in Begriffen kultureller
Differenz thematisiert. Man spricht in diesem Zusammenhang kritisch von einer
Kulturalisierung der Diskurse und Fremderfahrung. Dabei werden zwei unterschiedliche
Dimensionen von Fremdheit oft vermischt oder gar gleichgesetzt. Fremdheit kann als kulturelle
oder soziale Fremdheit erfahren werden. Da sie unterschiedliche Bedeutungsdimensionen
haben, seien sie hier kurz definitorisch charakterisiert (vgl. Waldenfels 1998:13-35).
Soziale Fremdheit wird als Nichtzugehörigkeit bestimmt. Fremdheit bezeichnet in diesem Fall
die Distanz zu einer sozialen Gruppe. Sie ist das Resultat einer besonderen Grenzziehung,
nämlich durch Ausschluß oder Ausgrenzung. Diese kann als Selbst- oder Fremdexklusion
erfolgen, abhängig davon, ob die Fremdheitszuschreibung von den Subjekten selbst oder von
anderen vorgenommen wird. Kulturelle Fremdheit hingegen bezieht sich auf Unvertrautheit,
Unverständlichkeit oder gar Unzugänglichkeit. Diese Fremdheitserfahrung kann durch die
Begegnung mit anderen Personen wie mit anderen Kulturen ausgelöst werden. Soziale
Fremdheit kann durch Inklusion aufgehoben werden, also durch die Einschließung meiner selbst
oder der Anderen. Kulturelle Fremdheit kann durch Prozesse des Lernens und des
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Umgewöhnens aufgelöst werden. Verstehen bedeutet aber zunächst nur das Wissen über die
Sache selbst, nicht unbedingt auch ihre Aneignung.
Soziale und kulturelle Fremdheit begegnen uns lebensweltlich in Überkreuzungen und
Mischungen. Auch bei Annäherungen an kulturelle Fremdheit über Wissen und Verstehen kann
soziale Fremdheit im Sinne von Nichtzugehörigkeit fortbestehen. Wichtig scheint mir jedoch zu
vermeiden, kulturelle Differenz und Pluralität mit sozialer Fremdheit gleichzusetzen. Auf diese
Weise wird zu leicht aus dem Auge verloren, dass die Zuschreibung von fremder Kultur und
Anderssein leichtfertig zur Grenzziehung und sozialen Exklusion mißbraucht werden können.
2. „Gemischte“ oder komplexe Herkunft
Ich habe diesen Redebeitrag mit „gemischter“ Herkunft angekündigt und will nun darauf eingehen, warum ich das Wort nur in Anführungszeichen verwende. Es gab und es gibt
selbstverständlich immer Menschen von „gemischter„ Herkunft, nach welchen sozialen
Kriterien auch immer so definiert. Die Geschichte der Menschheit und Kulturen ist in
prähistorischer Zeit wie in allen Epochen seit der Antike von Wanderungsbewegungen,
Kolonisation und Handelsbeziehungen begleitet gewesen. Eroberer haben sich häufig an die
Kultur der von ihnen unterworfenen assimiliert. Alle Kontinente haben heute eine Bevölkerung,
deren Vorfahren und Ursprünge historisch und demographisch in alle Himmelsrichtungen
weisen.
Welchen Sinn macht also die Frage nach der Herkunft von Menschen? Ist die Herkunft im
Sinne von einer Herkunft nicht sowieso nur eine Fiktion? Haben nicht alle Menschen eine
komplexe Herkunft, denn das ist der politisch korrekte Begriff für „gemischt“?
Traditionelle Eliten, wie der Adel, legen Wert darauf, ihre weit verästelten Stammbäume
zurückzuverfolgen. Dabei zeigt sich, dass Grenzen nie ein Hindernis für Eheschließungen
waren. Im Sinne von Allianzbildungen und Machtkonzentration war es eher interessant, sich
über Grenzen hinweg zu verbünden. Doch zeigte der Adel schon immer eine gewisse Vorliebe
dafür, in den eigenen Kreisen zu heiraten, um Nachkommen, sprich legitime Erben, zu zeugen.
Dies weist darauf hin, dass die Herkunft in der Geschichte der Menschheit schon lange dazu
herhalten musste und manipuliert wurde, um Macht und Herrschaft zu konzentrieren, zu
tradieren und zu legitimieren.
Ich möchte noch einmal auf den Begriff „gemischte“ Herkunft zurückkommen, der im
Englischen und Französischen ganz unbefangen geläufig ist. Welchen Sinn macht es in Bezug
auf die genealogische Herkunft eines Menschen zu betonen, dass er oder sie eine „gemischte„
habe? Ist das nicht paradox, weil es in der Natur aller Menschen liegt, dass sie eine Mischung
sind? Denn das ist ja gerade der Vorteil der geschlechtlichen Fortpflanzung. Aber auch im
sozialen Sinne sind wir von „gemischter“ Herkunft, da die Menschen in der Regel aus der
Herkunftsfamilie heraus heiraten.
Diese Überlegungen sind nicht müßig. Wenn betont wird, dass jemand eine „gemischte“
Herkunft habe, so soll das wohl zum Ausdruck bringen, dass da etwas Besonderes vorliegt. Eine
Abweichung von der Norm, eine Ausnahme vom Üblichen. Dieser Aspekt macht etwas
Wichtiges deutlich, dass nämlich alle diese Kategorien von Nation, „Rasse“ und Ethnie, die wir
benutzen, um Menschen zuzuordnen, zu unterscheiden und oft auch zu trennen, sehr stark mit
Herkunft verbunden werden.
Das heißt, es sind naturalisierende Konzepte, denen eine quasi-natürliche Bedeutung unterlegt
wird. Die Tatsache, dass die meisten Kinder eine Staatsangehörigkeit durch die nationale
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Zugehörigkeit ihrer leiblichen Eltern als eine Form von Erbschaft erlangen, wird naturalisierend
mit Vorstellungen verbunden, dass wir ursprünglichen Abstammungsgemeinschaften
angehören, die sich durch besondere Traditionen, Kultur und Geschichte unterscheiden. Auf
diese Weise wird aus den Augen verloren, dass das, was uns als quasi-natürliche Prozesse
erscheint, in Wirklichkeit unter historischen Bedingungen sozial produziert wird. Oft sind die
Annahmen und Bedeutungen subtil, aber damit nicht weniger wirksam.
Quer zu solchen naturalisierenden Vorstellungen von Zugehörigkeit liegt die Tatsache, dass immer mehr Menschen eine komplexe Herkunft im Sinne von Abstammung und Lebensgeschichte
haben. Dieser Entwicklung wird in den Debatten zu transnationaler Migration, Einbürgerung
und interkulturellem Zusammenleben aber noch viel zu wenig Bedeutung geschenkt. In den
Diskursen der Politiker wie in unseren Alltagsgesprächen scheint sich vielmehr die Vorstellung
zu verfestigen, dass sich die Menschen durch ihre ethnische Herkunft unterscheiden und dass sie
daran gekoppelt differente kulturelle Identitäten leben und als Recht postulieren.
Besonders deutlich kann man diese Entwicklung in den USA nachzeichnen. Dort hat sich in den
letzten 20 Jahren ein erstaunlicher Wandel in der offiziellen Kulturpolitik vollzogen. Die USA
gelten historisch und aktuell als ein klassisches Einwanderungsland, sie haben den Debatten
zum Multikulturalismus entscheidende Anstöße gegeben. Darum möchte ich einige zentrale
Aspekte des Multikulturalismus kritisch hinterfragen, gerade weil im Multikulturalismus die
Frage der Herkunft eine so große Aufwertung erfährt.
3. Herkunft und Abstammung im Multikulturalismus der USA
Bis in die 70er Jahre war in den USA der Ethos vorherrschend, dass die Nation als ein Schmelztiegel unterschiedlicher Migrantengruppen und Kulturen zu verstehen sei. Dieser Ethos ging
von der Annahme aus, dass die Kulturen der Herkunftsländer und die Loyalitäten der
Einwanderungsgeneration mit den Generationen dahin schmelzen würden, bis vielleicht jeder
Bürger ein nicht-ethnischer Amerikaner geworden sei.
Dieser Ethos wurde nach und nach durch den des Multikulturalismus ersetzt, der heute sowohl
den populären als auch den akademischen Diskurs beherrscht. Im Unterschied zum Projekt der
Assimilation geht der Multikulturalismus davon aus, dass jeder Amerikaner ethnisch
identifizierbar bleibt. Das hieße, dass alle Bürger der Vereinigten Staaten Mitglieder einer
kulturellen Kategorie bleiben, die mit ihren Vorfahren verbunden ist.
Der Frage nach Herkunft und Abstammung gemäß der Vorfahren wird nun auch in den statistischen Daten der Volkserhebungen Rechnung getragen (Byron 1999:9-29). Dort wird jeder
aufgefordert, sich ethnisch zu verorten. Die Daten sind Grundlage für die Politik der affirmative
action, durch die Minderheiten gefördert werden sollen. Kinder werden von den Lehrern
aufgefordert, zu sagen, was sie „sind“, egal wie irrelevant das für ihre Lebenssituation sein mag.
Sie werden über ihre „Traditionen“ und „Geschichte“ informiert, wobei wohl vorausgesetzt
wird, dass sie sie zusammen mit ihrer Haut- und Haarfarbe ererben.
Im Bevölkerungszensus von 1980 wurde zum ersten Mal die Frage nach der Abstammung
aufgeführt. Er lieferte die Information, dass es heute mehr als 40 Millionen Amerikaner mit
irischen Vorfahren gibt. Wenn man diese Zahl ernst nimmt, so stellt sich die Frage, wie aus 4,5
Millionen irischen Einwanderern 40 Millionen irische Amerikaner wurden? 75 Prozent der sich
so als irisch-amerikanisch Deklarierenden fügten jedoch hinzu, dass sie „gemischter“ irischer
Herkunft seien. 30 Millionen der Befragten hätten also auch die Wahl gehabt, sich nach
eigenem Wissen über ihre eingewanderten Vorfahren ethnisch anders zu verorten. Warum sich
so viele Nachfahren europäischer Herkunft als irisch und nicht norwegisch, polnisch oder
deutsch einstuften, kann hier nicht ausgeführt werden (vgl. Byron).
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Bleiben wir zunächst bei den 10 Millionen, die nach ihren Angaben als reine irische Amerikaner
anuehen seien. Wie erklärt sich diese „Eindeutigkeit„? Hier mag die Politik des Multikulturalismus selbst Vorschub geleistet haben, weil sie ermutigt, in vereinfachenden folkloristischen
Kategorien eines ethnischen Populismus zu antworten. Es gibt Hinweise, dass viele Menschen
komplexer Abstammung mit einem einzigen Etikett antworteten. Je weiter Genealogien
zurückgehen, sich verzweigen und komplexer werden, desto mehr Leute gehen den Spuren ihrer
Abstammung nicht nach und geben nur ein oder zwei vage Etiketten an ihre Kinder weiter.
Das Phänomen der komplexen Abstammung wirft allerdings die Frage auf, ob der Ethos der Assimilation - also des Schmelztiegels - tatsächlich nur eine reine Ideologie gewesen ist. Die
Untersuchung, aus der ich hier referiere, widerspricht einer solchen Annahme vehement und
weist das Gegenteil - zumindest für weite Teile der europäischen Einwanderer und ihrer
Nachkommen - nach. Die freie Wahl von Heiratspartnern - also intermarriage - jenseits der
(ethnischen) Abstammungslinien hat im Laufe der Generationen dazu geführt, dass die meisten
Menschen europäischen Ursprungs in den USA heute eine gemischte Herkunft haben. Damit
wird die ethnische Identität im Sinne von Herkunft immer unbestimmbarer. Die Grenzen der
Zugehörigkeit überlappen, verlieren ihre Aussagekraft und schmelzen dahin. Die Identifikation
mit den Ursprüngen der Vorfahren wird optional, eine Sache der persönlichen Neigungen und
Interpretationen.
Die offizielle politische Idee des Schmelztiegels erfasste die Kinder von Einwanderern als
gebürtige Amerikaner, deren Kinder wiederum assimilierte, nicht-ethnische Amerikaner sein
würden. Für Millionen von Menschen europäischen Ursprungs war das nicht nur eine
verordnete Ideologie, sondern ein moralisches Projekt, ein fundamentaler ziviler Wert des
Amerikanerseins. Über Generationen strebten sie danach, ihre Kinder zu dem gleichen zu
machen wie die Kinder ihres Nachbarn: nicht-ethnische, ohne Bindestrich-Identitäten und
Etiketten ununterscheidbare Amerikaner. So wurde ein hoher Grad an Assimilition erreicht zumindest für die letzten Generationen von Nachkommen europäischen Ursprungs. Die harten
Kanten der Ethnizität verschwanden. Aber während paradoxerweise die gelebte und gefühlte
Erfahrung von Ethnizität durch den Abstand der Generationen schwand und sich durch
intermarriage verkomplizierte, entstand die neue politische Arena des Multikulturalismus.
Heute werden in den USA neue Ethnien erfunden, die von den Vorfahren kaum wiedererkannt
würden, da sie auf Grenzen von Inklusion und Exklusion beruhen, die nicht identisch sind mit
denen, die für die Immigranten bedeutsam waren. Es sind weitgehend künstliche Ethnizitäten,
nicht länger gelebte Realität. Dennoch trifft es heute in den USA auf breite Akzeptanz, dass
jeder Amerikaner eine „ethnische Identität“ haben sollte und dass jede neu erfundene oder
wiedergefundene Ethnie mit einer Kultur und einer Geschichte ausgestattet werden sollte.
So mehren sich auch die kritischen Stimmen, die darauf hinweisen, dass der Multikulturalismus
zentral damit beschäftigt sei, zu klassifizieren und Grenzen zwischen einzelnen Segmenten festzulegen, um dann die Beziehungen zwischen ihnen zu regeln. Dadurch tendiert der
Multikulturalismus selbst dazu, zu einer Identitätspolitik zu werden, in der das Konzept der
Kultur mit dem der ethnischen Identität verschmilzt. Er läuft Gefahr, die Idee der Kultur als den
Besitz einer ethnischen Gruppe oder Rasse zu essentialisieren. Damit geht er auch das Risiko
ein, zur Konkurrenz zwischen Ethnien zu ermutigen und Spaltungen hervorzubringen.
4. Narrative Identität
Soweit zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Multikulturalismus nordamerikanischer Prägung. Es drängt sich geradezu die Frage auf, ob es nicht auch andere Ansatzpunkte für den Umgang mit Unterschieden und Vielfalt geben kann? Was könnte alternative und offene Modelle
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von Subjektivität und Umgang mit Fremdheit auszeichnen? Gibt es Vorbilder, die heute bei der
Suche nach einer Kultur der Differenz hilfreich sein können, in der man „ohne Angst
verschieden sein kann“ ? (Adorno) Ich glaube, ein zentraler Punkt liegt darin, welche
Vorstellungen wir vom Konzept der Identität teilen. Einen vielsprechenden Weg aus dem
Dilemma scheint mir das Konzept der narrativen Identität zu weisen. Ich möchte es deshalb in
einigen Grundzügen vorstellen.
Narrative Identität heißt erzählende Identität. Es ist eine biographische Methode, die den Weg
aufzeichnet, wie Menschen ihre eigene Identität konstruieren. Eine erzählende Sicht von
Identität erkennt an, dass Identität auf einer kontinuierlichen Basis konstruiert und umgestaltet
wird. Die Erzählungen können sich im Laufe der Zeit und unter verschiedenen Umständen
verändern und entfalten. Dazu ein Beispiel: In einer Studie über junge Erwachsene „gemischter“
Herkunft - nämlich afrikanisch-amerikanischer und jüdisch-amerikanischer Herkunft - habe ich
folgendes Zitat gefunden:
„Wie immer du dich auch identifizierst ist etwas Authentisches und nicht nur auf
Äußerlichkeiten gegründet. Was auch immer dein wahres Selbst ist ...Ich habe mich selbst erst
stärker als jüdisch identifiziert und fühle mich jetzt mehr als schwarz. Das war so ein Prozeß
wie das Schwingen eines Pendels. Darum finde ich es okay, wenn man sich zu verschiedenen
Zeiten auch unterschiedlich identifiziert, solange es darauf basiert, was man selbst fühlt, und
nicht darauf, was andere einem sagen.“ (Segal 2000:273)
Ich glaube, der Ansatz der narrativen Identität weist einen sehr produktiven Weg, die Identitätsfrage in „gemischten“ Familien nachzuzeichnen. Es befreit uns davon, nach der „essentiellen“
Natur interkultureller Beziehungen und komplexer Herkunft zu suchen.
Nun zu den zentralen Annahmen des narrativen Identitätskonzepts (vgl. Charles Taylor in Benhabib 1999:343-348). Die erste Annahme besagt, dass das Selbst nur in „Geweben von Gesprächen“ existiert. Ein Mensch kann also nicht aus sich selbst heraus ein Selbst sein. Ich bin nur in
Beziehung zu bestimmten Gesprächspartnern ein Selbst. Dies einerseits in Beziehung zu den
Gesprächspartnern, die wesentlich für meine bisher geleistete Definition von mir selbst sind.
Und andererseits zu denen, die jetzt bedeutsam für mein weiteres Verstehen von mir selbst sind.
Das Selbst existiert also nur in „Geweben von Gesprächen“. Die Frage „wer ich bin“ beinhaltet
immer den Bezugspunkt, von wo ich spreche und zu wem und mit wem. Ein Selbst zu sein, heißt
zweitens sich in Gesprächsnetzwerke zu begeben. Das heißt, dass man zu antworten weiß, wenn
man angesprochen wird und andersherum zu lernen, wie man andere anspricht.
Drittens begeben wir uns nicht wirklich in Gesprächsnetzwerke, sondern wir werden in sie
hineingeboren. Familien, Personen und kollektive Gruppen haben ihre Erzählungen. Und wir
werden, wer wir sind, indem wir lernen Gesprächspartner in diesen Erzählungen zu werden.
Viertens besteht unsere Handlungsfähigkeit darin, aus diesen Erzählungen und Bruchstücken
eine Lebensgeschichte zu weben, die für uns Sinn macht und die uns als ein einzigartiges Selbst
einen Sinn gibt.
Hierzu wieder ein Beispiel aus der jüdisch-afrikanisch-amerikanischen Studie:
„Ich glaube, dass mixed race eine besondere Gabe ist, obwohl wir beim Aufwachsen zu
kämpfen haben und uns immer erst noch mal selbst prüfend betrachten, bevor wir uns irgendwo
reintraun. Doch wenn wir älter werden, können wir das immer besser integrieren und weigern
uns, Teile von uns abzuspalten. Aber die Gabe ist die des Verstehens, und das ist etwas, was
dringend gebraucht wird. Ich glaube, wir sind in einer einzigartigen Lage, Verständnis zu
fördern“. (Segal 2000:273)
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Es sei noch auf einen fünften Aspekt hingewiesen. Das narrative Modell wird der Erkenntnis gerecht, dass Identität nicht heißen kann, über die Zeit gleich zu bleiben. Es betont vielmehr die
Fähigkeit der Menschen, über die Zeit Bedeutungen zu produzieren, um Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft zusammenzuhalten. Es beinhaltet also auch eine narrative Suche nach
Kohärenz, nach dem was uns als Subjekte in unserem Lebenslauf zusammenhält. Ich glaube,
dass ein solches Verständnis von Identitätssuche und Findung auf allen Ebenen nützlich ist, und
zwar sowohl auf der Ebene der individuellen Identität wie auch auf der kollektiven.
5. Erfahrungen in „gemischten“ Familien
Ich meine, aus den Forschungsergebnissen über „gemischte“ Familien kann man Anknüpfungspunkte für einen anderen Umgang mit Differenz herauslesen. Das Bild von den Gesprächsnetzwerken dürfte schon deutlich gemacht haben, dass die Einbindung in Familie und Gesellschaft
bei der Frage der Identitätsentwicklung von großer Bedeutung ist. Um dieses Spannungsfeld
von Familie und Gesellschaft zu verdeutlichen, möchte ich einige zentrale Ergebnisse einer
empirischen Studie aus London vorstellen (Katz 2000:93-133).
Ilan Katz hat sich die Konstruktion von Identität bei Kindern aus sogenannten interracial
families genauer angesehen. Interracial bezieht sich darauf, dass die Kinder Eltern haben, die
unterschiedlichen „Rassen“ angehören. Der Begriff interracial ist in England geläufig.
Großbritannien verfolgt in seiner Integrationspolitik offiziell eine Politik des
Multikulturalismus, die unterschiedliche kulturelle Herkunft anerkennen und antirassistisch sein
soll.
Die Untersuchung zeigt, dass in den Familien eher Vorstellungen von Identität entwickelt
werden, die über verallgemeinernde Konzepte von Nation, Ethnizität und „Rasse“ hinausgehen.
Identität wird dabei eher als ein Prozess gesehen, durch den die Personen und Familien ihrer
eigenen Situation einen Sinn geben. Dieser wird miteinander ausgehandelt. Da Katz sich mit
jungen Familien - mit kleinen Kindern - befasste, machte er die Beobachtung, dass die Familien
auf dem Wege waren, Umgang mit Unterschieden zu entwickeln und Grenzen zu verhandeln.
Dieser Umgang mit Unterschieden betraf nicht nur die Kategorien „Rasse“ und Kultur, sondern
auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, den Generationen und den Individuen.
Hier stellt sich die Frage, ob sich Ehepartner aus verschiedenen Kulturen oder von unterschiedlicher „Rasse“, tatsächlich einander so fremd sind, wie diese starren Kategorien vermuten
lassen. Katz beobachtet eine große Ähnlichkeit zwischen den Familien, die darin bestand, dass
die Partner aus ähnlichen Bildungsschichten stammten oder sich dahin orientiert hatten. Das
heißt, dass die Partner häufig schon in vielerlei Hinsicht zu dem Kreis zählten, aus dem ein
möglicher Partner in Betracht gezogen werden kann und dass sie sich allein in ihrer
„Rassenzugehörigkeit“ unterschieden. Somit gab es ebenso viele Ähnlichkeiten wie
Unterschiede im Lebenshintergrund der Partner, und sie empfanden oft eine große Gleichheit
zwischen sich, manchmal selbst in unerwarteten Bereichen. Dies bedeutet, dass die
Beziehungen nicht nur durch „Unterschiede“ charakterisiert sind. Gleichheit spielt ebenso eine
wichtige Rolle.
Interessanterweise sahen viele Partner, schwarze wie weiße, eine ebenso positive Möglichkeit
wie Herausforderung darin, sich am Rande konventioneller Ethnizität zu bewegen. Einige Eltern
sprachen das Fehlen von Rollenvorbildern und die Abwesenheit jeglicher Berichterstattung über
„gemischte“ Familien an. Sie betonten aber auch, dass das Fehlen von Stereotypen sie selbst in
die Lage versetze, ethnische und kulturelle Aspekte in einer Weise zu verhandeln, wie es mit
Mitgliedern ihrer eigenen Gruppe nicht möglich sei.
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Tatsächlich wurde den Begriffen „Rasse“, Nationalität und Kultur in den einzelnen Familien
sehr unterschiedliche Bedeutungen gegeben. Manche sagten, diese seien für sie nicht sehr
wichtig, aber alle berichteten, Erfahrungen mit Rassismus gemacht zu haben, auch in den
eigenen schwarzen und weißen Herkunftsfamilien. In allen Familien war die Identität der
Kinder allerdings ein bedeutsames Thema. Die Familien achteten darauf, die Kinder vor
rassistischen Diskriminierungen zu schützen und sie darauf vorzubereiten. „Weiße“ und
„schwarze“ Eltern verfolgten dabei sehr ähnliche Strategien. Alle Eltern wünschten ihren
Kindern eine positive, „gemischte“ Identität. Diese „Mischidentität“ wurde als wandelbar und
offen für Wahlmöglichkeiten der Kinder verstanden. Daher brachten die Eltern ihre Kinder auch
bewußt in Kontakt mit der „schwarzen Kultur“. Der Kontakt differierte jedoch entsprechend der
jeweiligen Möglichkeiten.
Kultur wurde nicht als ein einheitliches Ganzes von Sitten und Gebräuchen verstanden, sondern
ihre Eigenart wurde fortwährend in den Familien konstruiert und verhandelt. Folglich wurde die
Identität der Kinder als nicht vorhersehbar gesehen. Die Familien betrachteten Identität als abhängig von den Entscheidungen, die die Kinder selbst treffen würden, vom zukünftigen
Wohnort der Familie und den eigenen Erfahrungen der Kinder. Katz machte die Beobachtung,
dass für die Eltern das wichtigste zu sein schien, die Werte ihrer Mittelschicht – also Bildung
und Wahlmöglichkeiten – an die Kinder weiterzuvermitteln. Aber niemand formulierte es so,
dass eine Mittelschichtkultur in der Familie weitergegeben werden soll.
Katz kommt zu der Einschätzung, dass „eine Mischung zu sein“, für die meisten Menschen zu
einem Aspekt ihrer Identität gehört. Außerdem haben viele Familien mit Unterschieden und
Diskriminierungen zu kämpfen, nicht nur die, die willkürlich als „schwarz“ oder „gemischt“
definiert werden. „Gemischte“ Identitäten können für sich selbst als positiv erlebt werden, nicht
nur als Summe zweier Hälften unterschiedlicher Kulturen. Wie schwierig das in der Praxis
allerdings sein kann, verdeutlicht folgendes Selbstzeugnis:
„Wichtig ist, dass man nicht glaubt, man müsse sich entscheiden... Der Druck, sich zuzuordnen
und mit einer Seite zu identifizieren, ist sehr groß. Ich glaube, es ist wichtig, eine Art von
schizophrener Identität oder eine öffentliche und eine private Identität zu haben. Du wirst eh
öffentlich irgendwie zugeordnet, und darüber hast du nicht viel Kontrolle...Aber so lange dir
klar ist, wer du bist und was deine Identität dir bedeutet, kommst du besser zurecht.“
Josylyn Segal, die dieses Zitat aufgezeichnet hat, betont daher: Die größte Herausforderung für
Menschen „gemischter“ Herkunft, scheint darin zu liegen, beide Identitäten leben zu können,
wenn nur eine davon gefragt ist.
Ellen Frieben -Blum ist Ethnologin und Soziologin: Sie hat für verschiedene Institutionen in
Forschung und Lehre zu soziologischen Entwicklungsfragen in Lateinamerika und der Karibik
gearbeitet. Von 1996 bis 1999 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die
Landeskommission Berlin gegen Gewalt tätig.
Literatur
Benhabib, Seyla (1999): Sexual Difference and Collective Identities: The New Global
Constellation. In: Signs. Journal of Women in Culture and Society; Vol. 24, No. 2. Chicago,
335-361
Byron, Reginald (1999): Ethnicity at the Limit. Ancestry and the Politics of Multiculturalism in
the United States. In: The Politics of Anthropology at Home I. Anthropological Journal on
European Cultures; 8. Greverus, Ina-Maria / Giordano, Christian / Römhild, Regina (Hrsg.),
Hamburg, 9-29
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Frieben-Blum, Ellen / Jacobs, Klaudia / Wießmeier, Brigitte (Hrsg.) (2000): Wer ist fremd? Ethnische Herkunft, Familie und Gesellschaft. Opladen
Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (2000): Antinomien des demokratischen
Friedens. Frankfurt a.M.
Katz, Ilan (2000): Rassenidentität in „gemischten„ Familien. In: Frieben-Blum et al. (Hrsg);
a.a.O., 93-133
Segal, Josylyn (2000): „Du siehst weder schwarz noch jüdisch aus„. Identität bei jungen Erwachsenen schwarzer und jüdischer Herkunft in den USA. In: Frieben-Blum et al. (Hrsg.);
a.a.O., 251-273
Waldenfels, Bernhard (1998): Kulturelle und soziale Fremdheit. In: Einheit und Vielfalt. Das
Verstehen der Kulturen. Studien zur interkulturellen Philosophie, Bd. 9. Schneider, Notker /
Mall, R.A. / Lohmar, Dieter, Amsterdam, 13-35
Kontakt
Ellen Frieben - Blum
Geschäftsstelle der Landeskommission Berlin gegen Gewalt
c/o Senatsverwaltung für Schule, Jugend und Sport
Beuthstr. 6-8, 10117 Berlin
Tel.: 030 / 9026-5253
Fax: 030 / 9026-5003
E-Mail:[email protected]
www. berlin-gegen-gewalt.de
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