Artikel zur Nachwuchsförderung

Werbung
Die Neu-Erfindung der LINKEN als zukunftsfähige
Mitgliederpartei – ein existenzielles Projekt*
2., überarbeitete Version (01.11.2011)
von Daniel Förster
Freiwilliges Engagement in den Parteien und in der modernen Gesellschaft
Die Misere der Parteien, auch der LINKEN…
Strategien für den längst überfälligen Aufbruch in das 21. Jahrhundert
Mit einer modernen Parteiorganisation zurück in die Zukunft
2
4
7
12
Die gesellschaftliche Linke in Deutschland steht vor einer großen Herausforderung. Es fehlt die
Perspektive eines glaubwürdigen Politikwechsels der Verantwortlichen, den es doch vorzubereiten
gilt. Diese Perspektivlosigkeit, die zu einem nicht unerheblichen Teil mit Selbstbeschäftigung und
politischer Ohnmacht einhergeht, wird von einer ganzen Reihe von Faktoren beeinflusst. Zuvorderst
drängen sich allerdings zwei besonders bedeutende auf: Der Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf
die Politik schwindet, ebenso wie die Verankerung der Parteien in der Zivilgesellschaft als eigentliche
Vermittlerinnen zwischen Staat und Bürger. Die Abkoppelung der politischen Eliten nicht nur von den
Wählern, sondern auch von der eigenen Basis hat zu einer beispiellosen Parteienverdrossenheit
geführt. Dem bundesrepublikanischen Demokratiemodell, das auf von breiten Massen getragene
Volksparteien ausgerichtet ist, rennt das Volk davon – die Legitimation der Parteien aufgrund ihrer
Wähler und Mitglieder zerfällt.
Das trifft auch die Partei DIE LINKE. Viele politische Fragen und Themen, die sich aus der
Abkoppelung der politischen Eliten ergeben, werden von der gesellschaftlichen Linken aufgenommen
und in ihrer Problematik formuliert. Die LINKE ist ihre parlamentarische Vertretung und aufgrund der
bundesdeutschen Machtstrukturen, in denen politische Parteien mit enormen Privilegien
ausgestattet sind und voraussichtlich auch bleiben, das Kernprojekt einer aus vielen
unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft bestehenden „Mosaik-Linken“. Denn trotz einer
tendenziellen Radikalisierung der politischen Einflussnahme durch die Bürger, wie sie bei Stuttgart 21
o.ä. entdeckt werden kann, findet ein Protest gegen die bereits seit den 1980ern andauernde
Umgestaltung des modernen Wohlfahrtsstaats kaum statt. Und so liegt es an den Parteien, im
*
Dieses Essay basiert auf grundlegenden Diskussionen in der Projektgruppe „Ideenpool Nachwuchsförderung“
im Rahmen der aktuellen Parteireform des Brandenburgischen Landesverbandes der LINKEN. Für die vielen
Anregungen und interessanten Sichtweisen, durch die ich viel gelernt habe, möchte ich insbesondere den
Mitgliedern der Projektgruppe Diana Bader, Dieter Schlönvoigt, Roman Piffrement, Susanne Meier und Tobias
Bank danken. Darüber hinaus haben mich viele Gespräche und Diskussionen im Kontext der LINKEN inspiriert
und auf neue Sachverhalte aufmerksam gemacht, wofür ich stellvertretend für viele andere Andrea Johlige,
Chriss Kühnl, Fritz Viertel, Harald Petzold, Jan Eckhoff, Michael Böhner, Moritz Kirchner, Olaf Gabrysiak, Stefan
Ludwig, Susanna Karawanskij, Sven Kindervater, Wolfgang Sachse und meiner Frau Eva danken möchte. Dieses
Essay fußt weiterhin auf den Materialien und Arbeiten verschiedener Politik- und Sozialwissenschaftler, der
Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung, der LINKEN Sachsen und Sachsen-Anhalt und der
wegweisenden Arbeit von Thomas Leif zur Nachwuchsarbeit in deutschen Parteien.
1
Bündnis mit den für sich genommen zu schwachen Gewerkschaften, Verbänden und sozialen
Bewegungen den politischen Konflikt auszutragen.
Doch auch die LINKE als diejenige Partei, die diese Konflikte als Einzige wirklich glaubhaft im Kampf
um eine gerechte Gesellschaft austragen kann, schwächelt. Sie leidet unter den gleichen
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie die anderen Parteien, unter Wähler- und vor allem
Mitgliederschwund. Parteipolitik wie wir sie kennen ist für viele Menschen schlichtweg uninteressant
geworden. Ohne engagierte Mitglieder und ungebundene Freiwillige, die gleichwohl zu einem
Engagement für die LINKE bereit sind, steht allerdings die Wirkungsmacht der gesamten
gesellschaftlichen Linken auf dem Spiel. In der erfolgreichen politischen Arbeit lässt sich dabei nicht,
wie manchmal angenommen wird, zwischen Inhalt und Form trennen. Dennoch möchte ich die These
aufstellen, dass es kaum an unseren oftmals richtigen und wichtigen Inhalten liegt, weshalb sich
Menschen nicht für unsere Sache begeistern können. Ginge es nur darum, sie müssten in Scharen zu
uns strömen. Es ist vielmehr die Form, die Organisation und Struktur, der Politikstil, die Angebote die
wir (nicht) besitzen – wegen ihnen erscheinen unsere Inhalte und deren Durchsetzung Vielen als
unattraktiv und unglaubwürdig, oder sie können sich zu einem Engagement aufgrund persönlicher
und gesellschaftlicher Umstände nicht durchringen. Aus der Perspektive der politischen
Nachwuchsförderung steht die Aufgabe, dies zu verändern, an erster Stelle für eine qualitativ
hochwertige politische Repräsentation.
Die Aufgabe einer wirkmächtigen LINKEN, die ihre große Verantwortung für die
gesamtgesellschaftliche Linke wahrnimmt, besteht unter den heutigen Umständen daher im Schaffen
einer attraktiven Mitgliederorganisation mit ansprechenden Strukturen, in denen sich Menschen
gern engagieren und ihnen dies trotz widriger Umstände auch ermöglicht wird.
Dies ist eine Herausforderung, die keineswegs unterschätzt werden sollte, denn mit dem Drehen von
ein paar kleinen Stellschrauben ist es bei Weitem nicht getan. Sollte die notwendige, in ihrem
Ausmaß beinahe schon revolutionär zu nennende Umgestaltung der Parteiorganisation, die die LINKE
ins 21. Jahrhundert heben kann, zu lange auf sich warten lassen oder sogar scheitern, droht der
Rückfall in die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Die Chance, mit der Idee von Gerechtigkeit in
einer besseren Gesellschaftsordnung Deutschland und Europa für alle Menschen zu gestalten, wäre
auf Jahrzehnte dahin.
Freiwilliges Engagement in den Parteien und in der modernen Gesellschaft
Wie politische Arbeit bisher organisiert wurde, war nicht falsch. Es haben sich allerdings die Zeiten
geändert, die Bedingungen für Politik sind andere geworden. Die Umweltbedingungen, unter denen
sich ehrenamtliches bzw. freiwilliges Engagement heute abspielt, sollen im Folgenden in den Fokus
gerückt werden. Mit der Kenntnis über die gesellschaftlichen Veränderungen können auch die
veränderten Anforderungen, die Freiwillige an ihr Engagement haben, verstanden werden.
Zu den gewaltigen Veränderungen, die sich teils schleichend vollzogen haben, gehört zuallererst die
umfassende Krise der politischen Repräsentanz. Es herrscht Parteienverdrossenheit, das Vertrauen
an eine glaubwürdige Vertretung in den Parlamenten ist durch Jahrzehnte ernüchternder Macht- und
Lobbypolitik erodiert. Die immer wiederkehrende Aufgabe von Wahlversprechen, wenn es der
eigenen Macht nutzte, und die Entfernung der Entscheidungsgremien vom Bürgerwillen haben tiefe
Spuren hinterlassen. Der Aderlass der großen ehemaligen Volksparteien CDU/CSU und SPD an
2
Mitgliedern ist gigantisch. Doch auch das Wahlvolk bleibt zuhause, immer weniger Menschen sehen
einen Sinn im Wählen, wenn „die da Oben sowieso alle das Gleiche machen“. Das mag
undifferenziert sein, es drückt jedoch die Erfahrung aus, dass die machthabenden Parteien meist
weniger im Interesse ihrer Wähler handelten und diese deswegen keinen wirklichen Einfluss haben.
So wird die Gesellschaft immer undemokratischer, weil politische Entscheidungen in kleinen Gremien
und beeinflusst von einer gut ausgestatteten Lobbymaschinerie gefällt werden.
Es ist allerdings nicht das politische System allein, das sich verändert hat. In der heutigen
Arbeitsgesellschaft herrschen ebenfalls ganz andere Bedingungen für politisches Engagement. Die
Arbeitsbelastung ist seit den 80ern sukzessive gestiegen, während die Reallöhne stagnieren. Die
klassischen Arbeiter gibt es kaum mehr, sie wurden gemeinsam mit den Arbeitslosen und prekär
Beschäftigten politisch marginalisiert. Auch das Berufsbild hat sich für eine Vielzahl von Menschen
verändert: Wir leben in einer Welt, in der das ganze Leben immer mehr als eine Abfolge von
Projekten begriffen wird, immer weniger planbare und gleichförmige, auf langfristige Sicherheit und
Karriere orientierte Beschäftigungen existieren. Für viele Beschäftigte zählen nicht mehr fordistische
Fließbandarbeit unter Aufsicht, sondern Autonomie, Kreativität, Flexibilität und „Soft Skills“. Diese
prinzipiell positiven, zur Selbstentfaltung hilfreichen Anforderungen haben ihre Schattenseite in dem
Zwang, sich auch gedanklich voll „verwerten“ zu müssen, wobei die Grenze zwischen Beruf und
Privatleben verschwimmt. „Employability“, also der individuelle Verwertungsnutzen für die
Wirtschaft, nimmt viel Raum ein und wird bei Aus- und Weiterbildung ebenso wie bei
Freizeitbeschäftigung und Ehrenamt mit bedacht. Das Bewegen in Netzwerken ist wesentlich für das
berufliche Fortkommen; Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit sowie
Veränderungsbereitschaft sind wichtiger geworden als rein fachliche Kompetenzen. Und vielleicht
das Grundlegendste: Heute ist Zeit eine viel bedeutendere persönliche Ressource als Geld. An all
diese Anforderungen müssen wir unsere neuen Angebote anpassen.
Die Krise der politischen Repräsentanz und die Veränderungen in der Arbeitsgesellschaft gehen
einher mit einer seit der Nachkriegszeit zunehmenden Individualisierung in allen Lebensbereichen
und einem Wertewandel, bei dem klassische materialistische Werte wie Sicherheit und Wohlstand
von postmaterialistischen Werten wie Freiheit und Lebensqualität ergänzt werden. Dies bedeutet,
dass das klassische Verständnis von Links und Rechts in ökonomischen Dimensionen nicht mehr
greift, um politische Positionen zu erklären. Politikwissenschaftler schlagen vor, das politische
Koordinatensystem um die Dimensionen „eher libertärer“ und „eher autoritärer“ Werte zu
erweitern. Aus diesem Grund ist eine alleinige Verengung auf die alte Links-Rechts-Dimension nicht
mehr zeitgemäß. Neue Themen wie Datenschutz, Freiheitsrechte, Umweltschutz etc. müssen
gleichberechtigt mit unseren traditionellen Positionierungen auf die Agenda – oder man muss den
potentiell Engagierten die Freiheiten geben, diese Themen selbstständig im Rahmen der LINKEN zu
vertreten.
Bei alldem muss mitbedacht werden, dass politisches Engagement heute immer mehr in einer
gespaltenen Gesellschaft stattfindet, das vor allem von sozial besser gestellten und formal höher
gebildeten Interessengruppen verfolgt wird, während sich sozial Benachteiligte aus dem öffentlichen
Leben weiter zurückziehen. Das bedeutet auch, dass sich vor allem diejenigen engagieren, die
sowieso wenig Zeit haben. Das kann u. a. damit begründet werden, dass die benachteiligten
Interessengruppen weder organisationsstark sind, noch auf eine breite gesellschaftliche Solidarität
hoffen können, denn angeblich ist ja (trotz struktureller Benachteiligung der Armen) „jeder seines
eigenen Glückes Schmied“. Diese Problematik wirft die alte Frage nach Kümmerer- oder
3
Mitmachpartei auf. Viel progressiver noch wären allerdings Vorschläge, wie man auch die sozial
Benachteiligten im Rahmen der gesellschaftlichen Linken an politischen Willensbildungs- und
Entscheidungsprozessen beteiligen könnte – noch sind keine überzeugenden in Sicht.
Ungeahnte Möglichkeiten für Beteiligungsprozesse, von denen alle Bevölkerungsgruppen profitieren
könnten, bietet allerdings das Internet. Wir erleben eine epochale Ausweitung des Lebens in die
Netzwelt, deren Auswirkungen viele von uns noch immer nicht realisiert haben. Das Internet hat
bereits heute das Denken zweier Generationen junger Menschen verändert; es ist dabei schon längst
keine rein virtuelle Realität mehr, sondern eine Erweiterung und ein Abbild der Welt um uns herum.
Nicht nur das Denken, sondern auch die Kommunikation und das daraus erwachsende politische
Potential ist durch die Möglichkeit, immer und überall in Sekundenschnelle mit jedem Menschen auf
der Welt Kontakt aufzunehmen, vollkommen revolutioniert worden – der Iran, die Aufstände in der
arabischen Welt oder die Occupy-Wall-Street-Proteste sind nur die prominentesten und
einflussreichsten Beispiele. Und auch in dieser Sphäre tobt ein unerbittlicher politischer Kampf: Wird
das Netz ein Ort des freien Wissenstransfers (bleiben), wird der Gemeinschaftsgedanke weiter im
Vordergrund stehen? Oder wird sich die immer weiter voranschreitende, kommerzielle
Durchdringung und Überformung aller Bereiche im World Wide Web letztlich durchsetzen, ebenso
wie die Zensur und Kontrolle durch den Staat und wirkmächtige Medien? Dies ist ein Kampf, den
beispielsweise die Piratenpartei bereits spürt und aufgenommen hat, selbst wenn ihr der
ideologische Hintergrund zur Analyse und Benennung dieser Probleme fehlt. Und so
unwahrscheinlich es zuerst klingen mag, diese Frage wird aufgrund der enormen und noch immer
rasant wachsenden Bedeutung des Internets und der voranschreitenden Vernetzung sämtlicher
Lebensbereiche zu einer der großen politischen Konfliktlinien in dieser Gesellschaft werden, die
dieses Jahrhundert bestimmen werden. Gleichzeitig wird der Wissensraum, den Menschen erfassen
können, mit dem Internet tendenziell unendlich. Dies hat auch Auswirkungen auf die klassische
politische Bildungsarbeit, die nicht mehr nach den Vorgaben und der Anordnung der Lehrenden
funktioniert. Stattdessen muss ein individueller Weg durch den Informations- und Wissensraum
gefunden werden, und zwar nach den ganz eigenen Interessen jedes Menschen – der Einzelne wird
zum absoluten Maßstab der Aneignung von Wissen und des politischen Engagements.
Die Misere der Parteien, auch der LINKEN…
… liegt in einer ganzen Reihe von unattraktiven, teilweise sogar abschreckenden Strukturen und
Verhaltensweisen, so dass die übergroße Mehrheit der Menschen ihre knappe Zeit lieber anders
verbringt. Die LINKE hinkt in ihrer Parteiorganisation der Gegenwart weit hinterher. Eine echte
Beteiligung an parteipolitischer Arbeit ist zeitaufwändig – Zeit, über die man kaum mehr frei
verfügen kann und die somit extrem kostbar geworden ist. Gemeinsam mit den gewandelten
Wertesystemen und dem Druck, sich auch in der globalisierten Welt um seinen Lebensunterhalt
kümmern zu müssen, lässt sich konstatieren: Die konservativen Parteistrukturen passen einfach nicht
mit den modernen Ansprüchen der Freiwilligen an ihr Engagement zusammen. Dies wird von
extremem Mitgliederschwund und damit einhergehend auch von der immer schwächeren
gesellschaftlichen Verankerung begleitet. Politische Arbeit vor Ort wird so immer schwieriger – das
aktive Bemühen um bisher wenig Interessierte wird so zu einer existenziellen Frage unseres
Parteilebens. Bevor man jedoch Lösungen präsentieren kann, müssen die Probleme kritisch und
ehrlich benannt werden. Dabei gibt es selbstverständlich auch viele positive Beispiele, die hier nicht
alle angesprochen werden können – sie bleiben bisher jedoch (leider) die Ausnahme.
4
Warum engagieren sich so Wenige bei und mit uns? Das Parteileben ist vollkommen an der
Motivation der meisten Menschen vorbei organisiert und orientiert sich am Ideal des Parteisoldaten,
so dass sich vor allem diejenigen mit viel Zeit oder einem Höchstmaß an Idealismus, Disziplin und
Veränderungswillen engagieren. Der Spaß bleibt in der Politik meist völlig auf der Strecke, ebenso
wie ein tatsächliches Miteinander – das wissen die meisten Politikmacher selbst. Eine angenehme
Debatten- und Sitzungskultur ist ebenso wie die Sachbezogenheit politischer Arbeit sehr viel
ansprechender als politischer Kleinkrieg und Parteien-Hickhack. Freiwillige wünschen sich, mit ihrem
Engagement etwas für das Gemeinwohl zu tun und anderen zu helfen, wollen sich dabei aber
gleichzeitig auch selbst in ihren Wünschen und Vorstellungen verwirklichen. Dazu gehört echte
Partizipation an Diskussions- und Entscheidungsprozessen, allerdings auch die Möglichkeit, selbst
Verantwortung übernehmen zu können. Dabei ist es für sie sehr interessant, die eigenen Erfahrungen
und Kenntnisse zu erweitern, die möglichst auch einen Mehrwert für das eigene Leben außerhalb der
Politik haben sollen, bspw. im Beruf. Während ein solches Engagement zwar für sich genommen
schon erfüllend wäre, so ist doch das Zusammenkommen mit anderen Menschen ebenfalls ein
wesentlicher Motivator, der noch viel mehr begleitet werden muss von der sichtbaren Anerkennung
der freiwillig geleisteten Tätigkeiten. Auf diese Ansprüche wird selten bewusst und meist nur am
Rande eingegangen, weil sie bisher hinter der großen Politik, hinter „der Sache“ zurückzutreten
schienen. Wir müssen beides miteinander verbinden.
Hinzu kommt, dass die Partei noch immer sehr hierarchisch funktioniert und politische Arbeit
klassischerweise mit einem Parteiamt verbunden wird. Permanente Arbeitsgemeinschaften, die als
Mitwirkungsmöglichkeit eine gute Idee sind, sind zugleich doch selbst in der Mitgliedschaft mehr
oder weniger unbekannt und funktionieren kaum auf Dauer. Termine finden teilweise zu
unmöglichen Zeiten statt, eine Mitwirkung von zuhause aus ist fast nie möglich. Von einer
Mitgliederbetreuung kann man auch nicht sprechen, denn die eigentlich zuständigen
Geschäftsstellen und Gremien begreifen sich nicht als Dienstleister und Drehscheiben der
Kommunikation, die Interessierte an zu ihren Interessen passende Menschen und Projekte
(Arbeitsgemeinschaften, Fachpolitiker etc.) vermitteln – dafür reicht meist schon allein die Zeit nicht.
Auch die klassische Basisorganisation funktioniert kaum noch, die große Mehrzahl der üblicherweise
von älteren genutzten BOen ist sogar völlig aus dem Politikbildungsprozess ausgeschlossen. Gerade
diese Interessierten bilden jedoch das Fundament für eine langfristig erfolgreiche Arbeit auf allen
Ebenen.
Dabei ist der Umgang mit diesen Interessierten, dem potentiellen politischen Nachwuchs (jeden
Alters) also, sehr ambivalent zu bewerten. Einerseits kommt es vor, dass wegen des gravierenden
Nachwuchsmangels vor allem junge Menschen nach oben zu fallen scheinen, während es in vielen
anderen Fällen eine regelrechte Blockadehaltung gegen neue unkonventionelle Ideen gibt und
unbequeme Köpfe über kurz oder lang ausgegrenzt werden. Allgemein sind Entscheidungsträger
einfach kaum wirklich bereit, talentiertem und aktivem politischen Nachwuchs inhaltliche und
strukturelle Zugeständnisse zu machen. Das fördert den Typ des stromlinienförmigen, angepassten
und strukturell von den Entscheidungsträgern abhängigen Berufspolitikers – einer der Gründe,
weshalb das politische Personal aller Parteien immer mittelmäßiger in Kompetenz und
Professionalität wird. Kompetenz und Professionalität kann man allerdings erlernen, niemand ist
perfekt. Die besondere Brisanz dieser Entwicklung liegt vielmehr darin, dass man Abhängigkeiten
erzeugt, die die Abgeordneten unfrei machen – sie haben tendenziell kaum eine andere Wahl als sich
an ihren Stuhl zu klammern, wenn sie nicht in die heutzutage extrem unsichere Jobsuche und
5
möglicherweise sogar Arbeitslosigkeit fallen wollen. Weil sie immer öfter keine nennenswerte
Berufserfahrung besitzen, ihnen deshalb wenig erfolgsversprechende Perspektiven offen stehen,
scheuen sie eher innerparteiliche Konflikte und sind in ihrem Handeln dadurch beinahe zwangsläufig
unpolitischer – und das ist in dieser Situation vollkommen menschlich. Wir haben eine
Verantwortung, niemanden in solch eine Lage der Abhängigkeit geraten zu lassen, die nicht nur der
Partei schadet, sondern auch in persönlichen Tragödien enden kann.
Es gibt aber auch noch andere Gründe für die mangelnde Attraktivität der LINKEN, allen voran die
Mechanismen hinter der Kandidatenauswahl für wichtige Parteiämter und Mandate. Sie erfolgt
weniger nach Kriterien wie Leistung oder Eignung, stattdessen werden vorrangig Loyalität und die
langjährige, aufopfernde Parteiarbeit belohnt. Doch es ist dabei nicht die Parteibasis, die diese
Auswahl trifft. Die „Torwächter“ zu derartigen Positionen, die den größten Einfluss ausüben, sind
politische Schwergewichte in den Orts- und Kreisverbänden, welche im Hintergrund über die
richtigen Kandidaten befinden. Dabei folgt die Parteibasis oftmals entsprechenden Vorschlägen der
Vorstände, die Bestätigung per Wahl ist nur selten und bei sehr umstrittenen Personen wirklich
unsicher. So ist das Erfolgsrezept der politischen Laufbahn die Pflege der eigenen Unterstützerkreise,
die auch einen Großteil der Zeit von bereits gewählten Politikern einnimmt. Gerade deshalb, weil
Leistung und Qualifikation nur in geringem Maße Gradmesser parteiinternen Aufstiegs sind, die
Auswahlmechanismen intransparent in Hinterzimmern besprochen werden und selbst bei einem
aufopfernden Engagement eine politische Karriere und der damit verbundene Einfluss auf
Veränderungen unsicher ist, kommt Politik als Beruf für Viele kaum in Betracht. Der schlechte Ruf
von Politikern und Parteien resultiert u.a. hieraus.
Diese problematischen Rekrutierungsmechanismen greifen nicht nur bei der Kandidatenauswahl,
sondern in abgewandelter Form auch bei Mitarbeitern von Abgeordneten, Parteigliederungen und
nahestehenden Organisationen. Während die grundsätzliche Politisierung und diffuse Identifikation
mit linken Politikinhalten noch fast immer gegeben sind, so fehlt zunehmend eine tiefergehende
Kenntnis linker Politikkonzepte und Deutungsmuster, ebenso wie eine echte Identifikation mit der
Partei. Während man über die Notwendigkeit eines Parteibuchs für die Einstellungspraxis von
derartigem Personal debattieren kann, so ist grundlegendes politisches Denken, die ideelle
Verknüpfung von Parteigliederungen sowie parteinaher Organisationen und die mindestens
oberflächliche Kenntnis über zentrale linke Politikkonzepte für Mitarbeiter essentiell.
Eine Art Seiteneinstieg bietet theoretisch der Jugendverband, zumindest im Rahmen seiner Aufgabe,
Jugendliche an die politische Arbeit der LINKEN heranzuführen. Er wird dieser an ihn
herangetragenen Erwartung allerdings oft nicht gerecht, und darüber herrscht große Ratlosigkeit in
der Partei. Aber wenn bereits „normalen“ Jugendlichen ein Engagement in einer Partei unattraktiv
erscheint, wie sollen dann erst besonders kritische Geister, die in Teilen auch der parlamentarischen
Arbeit per se ablehnend gegenüber stehen, für die allgemeine politische Arbeit gewonnen werden?
Es helfen selbst Kooptierungen in den Vorständen und Fraktionen wenig, wenn die grundlegende
Organisation nicht ansprechend gestaltet ist und der Unterschied zwischen der Verwaltung des
Status Quo und echter Politik wenig erkennbar ist.
Von den vielen angesprochenen Problemen wird natürlich auch die innerparteiliche Kultur
beeinflusst; sie ist ihrerseits allerdings auch für mangelnden Zusammenhalt und große persönliche
Verwerfungen in der momentanen heterogensten Partei Deutschlands verantwortlich. Die bereits
erwähnte katastrophale Debattenkultur, welche notwendige inhaltliche Auseinandersetzungen
6
regelmäßig zu einer Machtprobe über Wahrheit und Verrat verkommen und scharenweise
politischen Nachwuchs (insbesondere Frauen) das Weite suchen lässt, zeigt grundlegend menschliche
Defizite auf. Es kommt regelmäßig vor, dass andere Perspektiven auf ein Problem ebenso wie die
Meinung von Frauen allgemein in Diskussionen als geringwertig eingeschätzt oder gar nicht erst
abgefragt werden. Dies gilt auch für Organisatorisches, denn „Das haben wir immer schon so
gemacht“ ist ein Standard-Satz, den wahrscheinlich jeder Neuling schon gehört hat. Auch erscheint
der Ablauf vieler Sitzungen selbst den eigenen Mitgliedern als ineffizient, unproduktiv und letztlich
Zeitverschwendung, vielfach aufgrund mangelnder Vorbereitung der Teilnehmer (die selbst unter
permanenter Überlastung leiden) und wenig interessanter bzw. zielführender Strukturierung.
Die wirklich interessanten Dinge werden dabei meist in den Hinterzimmern besprochen, informelle
Netzwerke und sogenannte „Klüngelrunden“ sind in den Parteien Gang und Gäbe. Hier treffen sich
Gleichgesinnte in Netzwerken, Freundeskreisen oder Strömungen, die wichtige Initiativen,
Beschlüsse und Personalfragen bereits im Vorfeld von Sitzungen oder Parteiversammlungen
miteinander ausmachen, um das Ergebnis dann nur noch offiziell absegnen zu lassen. In der LINKEN
gibt es unzählige solcher Zirkel, die ihre Partikularinteressen vertreten, wenngleich bisher immer ein
relatives Machtgleichgewicht existierte. Die Zugehörigkeit zu solchen Netzwerken ist für die
erfolgreiche Vertretung eigener Interessen von höchster Bedeutung, in einer Großorganisation
scheint Durchsetzungsmacht fast nur noch so erzeugt werden zu können. Die damit einhergehende
Intransparenz und das Gefühl vieler Menschen, meist nur pro forma in inszenierten (Groß)Veranstaltungen beteiligt zu werden, sind reale Hürden für ein langfristiges politisches Engagement
und begründen mit den schlechten Ruf der Politik.
Ein Element der politischen Arbeit, das jedoch enorme Bedeutung erlangt hat, ist das Internet. Doch
schaut man sich einmal nüchtern das Verhältnis von Online-Aktivität zur politischen Arbeit an, dann
kann man von der LINKEN nur als netzpolitischer Wüste sprechen. Das mag für viele Aktive
überraschend sein, weil sie die Webseiten, Presseaktivitäten und Mail-Kommunikation kennen und
regelmäßig erleben. Das alles ist jedoch Standards unterworfen, wie sie im Jahr 2000 up to date
waren! Ansprechende Beteiligungsmöglichkeiten im Internet sucht man beinahe vergeblich, die rein
informativen Webseiten machen wenig Lust auf sofortige Mitarbeit. Die externe Kommunikation der
Vorstände und Fraktionen spielt sich noch viel zu wenig in den Sozialen Netzwerken ab. Eine
Vernetzung mit attraktiven Webpräsenzen und Angebote, die nur den Hauch eines linken Lifestyles
im Web aufkommen lassen könnten, sind nicht zu finden. Blogs und andere
Diskussionsmöglichkeiten werden kaum wahrgenommen, während die modernen Möglichkeiten zu
Debatten sowie echter Partizipation an Parteileben und politischer Arbeit per Internet gar nicht
genutzt wird – und das, obwohl sie eine so unvergleichlich höhere Reichweite und Flexibilität
besäßen und geringere Kosten verursachen würden als konventionelle Methoden
Strategien für den längst überfälligen Aufbruch in das 21. Jahrhundert
Wie sich zeigt, hängen mit der Attraktivität der LINKEN für politischen Nachwuchs unglaublich viele
Aspekte der generellen Parteiorganisation zusammen. Die insgesamt kaum zu bewältigenden
Probleme stellen fundamentale Verhaltensmuster des (partei-)politischen Systems in Frage. Doch die
Machtposition der Parteien als solche im Staatsapparat ist nicht wirklich bedroht. Hinein in die
Zukunft führen deshalb zwei Wege: Entweder verweigern sie sich weiterhin den dringend
notwendigen Reformbemühungen und setzen das Abtragen der demokratischen Fundamente fort,
was letztlich zu einer Oligarchie der Reichen, Mächtigen und politisch Einflussreichen führen wird.
7
Oder die LINKE macht sich auf den Weg, die politischen Mechanismen in ihrem Innern grundlegend
weiterzuentwickeln – um nicht nur denjenigen eine Chance zu bieten, die zu den Abgehängten
gehören und die für den Gedanken einer besseren Welt antreten wollen, sondern sie auch
tatsächlich aus ihrer Enttäuschung zu befreien, sie Mut für real mögliche Veränderungen fassen zu
lassen und mit ihnen schon hier und heute ein anderes politisches System zu leben.
Um dieses hochgestochene Ziel auch zu erreichen, steht die Idee der Demokratie im Mittelpunkt aller
Bemühungen. Die von Entscheidungen Betroffenen müssen realen Einfluss auf diese Entscheidungen
haben – und das ist mehr als nur alle vier, fünf oder acht Jahre zu wählen. Sie müssen zu den
Sachverwaltern ihrer eigenen Interessen werden, indem sie zur Initiative und Beteiligung motiviert
und eingeladen werden. Deshalb muss dezentrale Demokratie und umfassende Partizipation ein
unverzichtbarer Bestandteil in jedem einzelnen Bundesland und in jeder Kommune werden. Oftmals
ist dies nur mit geringen zusätzlichen Kosten verbunden, allerdings sollten uns derartige
Anstrengungen auch finanzielle Unterstützung wert sein. Es gibt unzählige Vorschläge, von denen
Bürgerhaushalte, Volksbegehren mit geringen Hürden und die Chancen des E-Governments nur
Beispiele auf der Höhe der Zeit sind. Über diese partizipatorische Erneuerung der Gesellschaft
werden sich auch wieder Menschen mit den Möglichkeiten beschäftigen, selbst politische Arbeit zu
leisten.
Bürgerschaftliches Engagement wird darüber hinaus auch mit sozialen und kulturellen Angeboten
unterstützt, und echte Anerkennung (wie bspw. öffentliche Ehrungen und entsprechende
Dankveranstaltungen, Vergünstigungen im ÖPNV und für kulturelle Einrichtungen, Weiterbildungsund Informationsmöglichkeiten uvm.) motiviert enorm zum freiwilligen Engagement – auch in der
Politik. Von einer Kultur des Engagements profitieren somit alle Gesellschaftsbereiche und das
gesellschaftliche Leben als Ganzes. Und warum sollte nicht auch die LINKE herausragend engagierte
Bürger bspw. im sozialen Bereich mit ehren?
Insgesamt fällt beim Betrachten des Ist-Zustandes auf, wie sehr die Verankerung der LINKEN in der
Gesellschaft abgenommen hat. Noch vor zehn Jahren hatte die PDS immer ein offenes Ohr und eine
helfende Hand direkt vor Ort in der Arbeiterwohlfahrt und in den Gewerkschaften, im Sport- und
Heimatverein, bei den Unternehmern und den Kleingärtnern – das war eines ihrer Markenzeichen. In
nicht wenigen Regionen ist diese Verankerung verschwunden. Es ist keine Frage der Manipulation,
sondern eine der Bodenhaftung, die Kontakte zu all diesen zivilgesellschaftlichen Akteuren wieder
aufleben zu lassen. Wenn wir Politik für die Bevölkerung machen wollen, dann müssen wir auch die
tatsächlichen Wünsche des „Kleinen Mannes“ kennen und sie in unsere Vorstellung von einer
besseren Gesellschaft integrieren. Dazu gehört allerdings auch insgesamt eine Öffnung der Partei in
die Gesellschaft, die mit transparenten, einladenden und beteiligungsorientieren
Veranstaltungsformaten jenseits des klassischen Referats einhergehen muss, und auf denen
Bürgerinnen und Bürger nicht nur angehört und informiert werden, sondern selbst Politik
mitgestalten können. Es muss eine Regelmäßigkeit der politischen Kommunikation über solche
Veranstaltungen und mit entsprechendem Material mit den Bürgerinnen und Bürgern etabliert
werden, die weit über den Wahlkampf hinausgeht. Wir haben viele Antworten, aber warum stellen
wir deshalb keine Fragen mehr? Die Menschen vor Ort werden so manch überraschende Antwort für
uns haben, und dabei müssen wir sie dazu ermutigen, sich mit unserer Unterstützung selbstständig
für das Übertragen dieser Antworten in die Politik einzusetzen.
8
Dabei sei Eines deutlich gesagt: Das Internet ist als umfassendes Kommunikations- und
Informationsmedium von enormer gesellschaftlicher und somit auch politischer Bedeutung. Die
Öffnung in die Gesellschaft, die wir vor Ort mit neuen Angeboten erreichen können, ist unumgänglich
und fundamental für unsere zukünftige politische Arbeit. In Reichweite, Einfachheit, attraktiver
Gestaltung, Beteiligungsmotivation, Zeitersparnis, Kosten-Nutzen-Relation und vielen anderen
Aspekten können Internetangebote die konventionellen Methoden je nach Ausgestaltung allerdings
Lichtjahre hinter sich lassen. Dabei ist die Piratenpartei momentan maßgebend für den InternetStandard der Parteien, sie hat allerdings auch nicht alle interessanten Konzepte für sich gepachtet.
Neben unzähligen Detailverbesserungen sollten Diskussionsmöglichkeiten in jedweder Form,
Vernetzung innerhalb der Partei, gemeinsames Arbeiten und Zugriff auf die Ergebnisse anderer sowie
eine grundlegende Überholung unserer Internetpräsenz nach modernen Prinzipien im Vordergrund
stehen. Ein zentrales Instrument für modernste Politikgestaltung ist das Konzept der sogenannten
„Liquid Democracy“, das Bestandteile von direkter und repräsentativer Demokratie vereint und die
Vorteile beider Ansätze miteinander kombiniert. Mit ihr haben wir ein mächtiges Instrument zur
Hand, das ein Höchstmaß an Transparenz und Beteiligung gewährleistet und dabei gleichzeitig
Machtstrukturen minimiert und (ausgesprochen professionelle) politische Arbeit ermöglicht.
Die vorhergehenden Strategien betreffen vor allem die Wirkung der LINKEN in die Gesellschaft
hinein. Um als Vorbild für die Idee der Gerechtigkeit in einer besseren Gesellschaft auszustrahlen,
müssen sich moderne und beispielhafte Strukturen und Verhaltensweisen vor allem auch in der
Selbstorganisation niederschlagen. Dabei finden sich Debattenteilnehmer oft in einer Situation
wieder, in der ein Gegeneinander der traditionellen Politikformen und modernisierter Konzepte
erhebliche Konflikte erzeugt. Doch die Entscheidung zwischen Tradition und Modernisierung ist
schlichtweg eine falsche. Wir müssen stattdessen aufgrund unserer die gesamte Altersstruktur
abdeckenden Mitgliedschaft ein „Sowohl als auch“ umsetzen. Das bedeutet, vertraute Formen der
politischen Arbeit wie bspw. die Basisorganisationen oder klassische Veranstaltungsformate
einerseits zu erhalten, um den oftmals jahrzehntelangen und sehr verdienten Mitgliedern nicht
„ihre“ Partei wegzunehmen, während sich andererseits die parteiliche Modernisierung in einer
Verlagerung der Gestaltungs- und Willensbildungsprozessen hin zu einer entsprechend progressiven
Parteiorganisation und -kultur widerspiegeln muss. Es mag sein, dass für unsere erfahrenen
Genossinnen und Genossen nicht absolut alles so bleiben kann wie es bisher war, denn einige
Veränderungen betreffen grundlegende Fragen. Andererseits haben wir auch kein Recht dazu, sie in
ihren Ansprüchen an ein Parteileben zu ignorieren.
Der erste Schritt, um die innerparteiliche Kultur über profane Parteitagsbeschlüsse hinaus tatsächlich
zu verändern und somit ein angenehmes Miteinander zu gestalten, ist das Schaffen einer echten
Anerkennungskultur gegenüber Personen, ihren Vorstellungen und ihren Leistungen im freiwilligen
Engagement. Diese Kultur muss gemeinsam mit den Freiwilligen entwickelt werden, vor allem weil
auch unterschiedliche Motivlagen für das Engagement existieren. Es muss ihnen gezeigt werden, wie
wichtig sie für die politische Arbeit sind und dass ihr Einsatz wertgeschätzt wird. Die Bausteine dafür
sind (1) eine intensive Betreuung auf Augenhöhe, (2) die aktive Förderung ihrer Fähigkeiten und
Fertigkeiten, (3) das gemeinsame Beraten über mögliche Interessenfelder und konkretes,
projektbezogenes Engagement, (4) Verantwortung und Autonomie zugestehen und (5) die
persönliche Wertschätzung durch Aufmerksamkeiten jedweder Art zeigen. Ein besonderes
Spannungsfeld findet sich zudem im Umgang der Hauptamtlichen mit den Freiwilligen.
9
Die innerparteiliche Kultur ist die Grundlage für ein nachhaltiges Engagement in der LINKEN, doch
müssen auch attraktive Angebote für politische Arbeit gemacht werden. Dazu muss zuerst einmal
erfasst werden, welche wichtigen Projekte und Arbeitsbereiche momentan konkrete Unterstützung
bräuchten. Anstatt also wie bisher Menschen anzusprechen und allgemein für eine Mitarbeit in
bestimmten Zusammenhängen (z.B. Arbeitsgemeinschaften) zu gewinnen, in denen sie sich dann ihre
Aufgaben selbst suchen müssen, ist die Formulierung ganz konkreter projektbasierter Angebote
notwendig. Zu einem solchen Angebot gehört eine detaillierte Beschreibung (1) des Inhalts und
Umfangs, (2) des Sinns der Aufgabe, (3) des (zeitlichen) Aufwands, (4) den Anforderungen an den
Freiwilligen, (5) die organisatorische, logistische und inhaltliche Unterstützung durch die LINKE, (6)
begleitende Möglichkeiten für den Freiwilligen wie den Erwerb bestimmter Kompetenzen und (7)
weitere mit dem Engagement verbundene Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven. Diese
Angebote müssen selbstverständlich effektiv beworben werden, wobei sich auch die Frage nach
explizit auf Parteimitgliedern beschränkten Angeboten stellen kann. Ein intensives Erstgespräch
durch entsprechend geschulte Parteimitglieder wird insbesondere dann nötig sein, wenn bisherige
Mitglieder aktiviert oder neue Mitglieder und ungebundene Freiwillige an diesen Angeboten
interessiert sind – für diese Gespräche sind bisherige Standards jedoch nicht mehr ausreichend.
Weiterhin muss eine kontinuierliche Betreuung bspw. per Mentoring ermöglicht werden, wobei
dafür allerdings auch eine gute Ausbildung der Mentoren benötigt wird. Darüber hinaus gilt, dass die
Zusammenarbeit mit Hauptamtlichen geklärt wird, eine tatsächliche Information und Einbindung
stattfindet und Zuständigkeiten klar sind. Diese Herangehensweise wird ein professionelles System
der Aktivierung, Einbindung, Betreuung, Entwicklung und Anerkennung von Freiwilligen etablieren.
Es kann jedoch nicht nur um die innerparteiliche Kultur gehen. Eine entscheidende Stärke der
Arbeiterbewegung war immer, dass sie neben der gelebten Solidarität innerhalb ein
gesellschaftliches Kulturprojekt war, das im Alltag der Menschen verwurzelt war. Dieses
Selbstverständnis ist der gesellschaftlichen Linken schon lange abhanden gekommen, am ehesten
noch wurde es ersetzt durch eine Art intellektuelles Avantgarde-Verständnis nach Lenin. Wir müssen
Mittel und Wege finden, um wieder „den Sozialismus aus dem Alltag der Menschen heraus zu
entwickeln“. Dazu gehört die ernsthafte und schwierig zu beantwortende Frage, welche Rolle der
Alltag denn überhaupt in unserem politischen Denken spielt. Gemeinsam sind daraus Ansprüche an
unsere politische Kultur und den notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten für sozialistische Politik
in dieser Gesellschaft zu entwickeln.
An welchen Idealen wollen wir uns orientieren und wie wollen wir diese dem politischen Nachwuchs
mit auf dem Weg geben? Eine grundlegende Frage unserer Arbeit in der politischen Weiterbildung ist
doch, was unser Anspruch an den so geschulten Nachwuchs sein soll. Er sollte in jedem Fall mit
neuen (manchmal auch altbewährten) Denk- und Verhaltensmuster in Kontakt kommen, bspw. mit
Gramsci oder der Dialektik von Besserwerden und Anderssein. Nach Gramsci müsse man „nüchterne,
geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich
nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“.
Dialektisches Denken, ein „Sowohl–als-Auch“ statt eines „Entweder-Oder“, ist ebenfalls wichtig für
den Umgang miteinander und das Weiterdenken in gesellschaftlichen und politischen
Widersprüchen. Man sollte nicht der Taktik des Gegners, der Herrschenden folgen, sondern
stattdessen mit überraschenden Mitteln an überraschenden Orten eingreifen. Gerade im
neoliberalen Turbokapitalismus ist es wichtig, wo möglich das Tempo der Langsamsten zu gehen und
Prozesse zu entschleunigen. Man sollte das Zuhören wichtiger nehmen als das Sprechen, und das
10
Fragen wichtiger als die geschlossenen Antworten und Weltbilder. Dies sind nur einige Aspekte einer
neu entwickelten, teilweise aus altbewährten Elementen bestehenden politischen Kultur, die
gemeinsam mit den Weiterbildungs- und Qualifizierungsangeboten vermittelt werden müsste.
Allein diese neue, emanzipatorische Herangehensweise an die Weiterbildungsangebote in der
LINKEN und ihrem Umfeld wäre schon revolutionär. Es braucht aber gleichzeitig auch neue und
veränderte Formate, die auf die individuellen Interessen und Ansprüche der Lernenden eingehen und
gleichzeitig ihre bereichernden Gedanken und Ideen für alle produktiv machen können. Die
Zielgruppen müssen erweitert werden, der Fokus muss sowohl auf Neumitglieder und Aktivisten als
auch auf klassischen Funktionären liegen. Das so qualifizierte politische Personal muss man allerdings
auch kennen, man muss tatsächlich auf dieses zurückgreifen können. Aus diesem Grund ist bspw.
eine freiwillige interne Datenbank, in der sich solche Menschen mit ihren Qualifikationen darstellen
und bei Bedarf angesprochen werden, sehr sinnvoll. Letztlich sind diese Weiterbildungsangebote
auch ein Teil der Identitätsbildung, ein Teil der ganz persönlichen Wege zu einem gemeinsamen
linken Selbstverständnis in einer pluralen Partei. So oder so, das Einbinden des politischen
Nachwuchses im Gleichklang von professioneller, moderner Weiterbildung und Learning by Doing
durch Einbinden in die politischen Prozesse ist unerlässlich und wird den Aufwand wert sein.
Dass es in diesem Rahmen notwendig ist, überhaupt auf die notwendige Einbindung von Freiwilligen
einzugehen, zeigt auch Einiges über den bisherigen Umgang mit der Basis und Sympathisanten. Die
LINKE hat bereits große Schritte im Bereich der innerparteilichen Mitbestimmung und Partizipation
unternommen. Gleichzeitig finden Debatten zu wichtigen Fragen und Entscheidungen noch immer zu
selten im großen Rahmen statt. Eine echte Partizipation der Mitglieder besteht nicht nur in
Information und Anhörung, sie bedeutet mindestens Mitbestimmung. Aus diesem Grund ist das
Delegiertenprinzip für Parteitage zu überdenken, wichtige Entscheidungen und Wahlen sollten durch
Mitgliederentscheide und Vorwahlen geöffnet werden. Selbst die sehr gute Form der Aktiven- und
Regionalkonferenzen ist letztlich nur eine Vorstufe der Partizipation, denn die hier Engagierten bzw.
die Mitglieder unserer postulierten Mitgliederpartei können voraussichtlich nicht direkt über die
Umsetzung der erarbeiteten Dinge mitbestimmen. Prinzipiell sollten Vorstände und Parteitage
Kompetenzen so an einen erweiterten Kreis von Mitbestimmenden abgeben und daraus
hervorgehende Steuerungsverluste gegen eine enorm verbesserte politische Wirkmächtigkeit
eintauschen. Denn das Einbeziehen vieler Menschen macht Entscheidungen verbindlicher, erhöht die
Wertschätzung auch „einfacher“ Mitglieder, lässt von interessanten und innovativen Gedanken aus
der Basis profitieren und kann bei der Beschränkung auf Parteimitglieder auch eben diese
Mitgliedschaft attraktiver machen. Gleichzeitig sollte man auch über die partielle Öffnung
innerparteilicher Entscheidungen für Nicht-Mitglieder nachdenken, um auch die Unterstützerkreise
der Partei in der gesellschaftlichen Linken zu einem Engagement in der eigentlichen
Parteiorganisation anzusprechen – die Sozialisten in Frankreich machen es vor.
Innerparteiliche Partizipation kann und sollte zudem gezielt durch elektronische Abstimmungsformen
unterstützt werden, beispielsweise durch Liquid Democracy, Diskussionsportale und OnlineUmfragen. Zur Partizipation gehören jedoch auch Information und Transparenz. Die
Informationsflüsse insbesondere direkt in die Basisorganisationen funktionieren nicht, einfache
Mitglieder bekommen Informationen oft nur über Umwege und mit großer Verspätung. Verbesserte
Möglichkeiten zur Selbstinformation setzen höchstmögliche Transparenz in den politischen
Angeboten voraus. Dafür sind bspw. breitgestreute Einladungen, Sofortinformationen und OnlineMitschnitte von Versammlungen und Veranstaltungen wichtige Elemente.
11
Mit einer modernen Parteiorganisation zurück in die Zukunft
Dieses Essay kann letztlich trotz seines Umfangs nur eine Übersicht sein, bereits die noch immer
unvollständige und lückenhafte Darstellung so vieler unterschiedlicher Aspekte einer zukunftsfähigen
Parteiorganisation zeigt dies. Meine Hoffnung ist, dass es wachrüttelt für die Gründe der
strukturellen Krise der LINKEN als Mitgliederpartei, die die aktuelle politische Krise mitbegünstigt hat.
Auch die Lösungsstrategien sind nur skizziert, man könnte sie noch viele Seiten lang ausführen –
dafür ist hier allerdings nicht der Ort.
Stattdessen arbeitet momentan die Projektgruppe „Ideenpool Nachwuchsförderung“, die im Rahmen
der aktuellen Parteireform des Brandenburgischen Landesverbandes der LINKEN aktiv ist, an einem
noch sehr viel tiefer gehenden und umfangreicheren Konzeptpapier. Aus ihm werden wir ganz
konkrete Handlungsleitfäden für alle Parteigliederungen und zu einzelnen Problemkomplexen
herausarbeiten, um nicht im Theoretischen stehen zu bleiben. Den Politikmachern vor Ort sollen
ganz konkrete Lösungsmöglichkeiten für die umfassenden Probleme der überholten
Parteiorganisation und –kultur an die Hand gegeben werden.
Doch umsetzen können die Neugestaltung der LINKEN nur wir alle gemeinsam. Insbesondere die
Verantwortlichen in den Kreis- und Ortsverbänden, die Landesvorstände und –fraktionen und die
Bundespartei sind dabei in der Pflicht, die notwendige Parteireform anzugehen. Sie ist eine
existenzielle Frage, denn ohne die Unterstützung durch aktive Mitglieder und Interessierte, die am
linken Gesellschaftsprojekt in der Partei mitwirken wollen, wird sie als Kern dieser
gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeitsbewegung langsam und leise in sich zusammenfallen.
Deshalb müssen den vielen Debatten, dem Rumoren in der Basis und den durchaus nicht wenigen
positiven Beispielen weitere Taten folgen. Dafür möchte ich euch alle gewinnen – egal welchen Alters
und welcher Funktion, setzt euch für diese Neugestaltung ein. Wir müssen zurück an den Punkt, an
dem die sozialistischen Parteien die Parteien der Zukunft waren. Es ist verdammt nochmal an der Zeit
dafür.
12
Herunterladen