„Sensory Re-education“ Sensibilitätstraining nach Nervennaht Birgitta Rosén, 2006 Department of Hand Surgery, Malmö University Hospital, Sweden Deutsche Übersetzung mit Erlaubnis der Autorin Lilian Santschi, 2011 Kantonsspital St.Gallen, Schweiz Was passiert, wenn ein Nerv wiederhergestellt wird? Nach einer Nervenverletzung gehen Sensibilität und Muskelfunktion in einem Teil der Hand verloren und es kommt oft zu einer Kälteintoleranz. Nach der Operation, wenn die Nervenhülle genäht ist, wachsen neue Nervenfasern (Axone) zur Haut und zu den Muskeln hin. Überempfindlichkeit bei leichter Berührung ist während der Wachstumsphase des Nervs normal. Diese kann durch sogenannte Desensibilisation beeinflusst werden, sodass sich die Haut schrittweise wieder an normale Berührung gewöhnt. Der Nerv braucht viel Zeit um zu wachsen, etwa 1mm pro Tag. Das Resultat ist eine neue Sensibilität, eine neue Empfindung, die zu interpretieren neu gelernt werden muss. Man kann sagen, dass die Hand „eine neue Sprache zum Hirn spricht“. Das Gehirn weist eine detaillierte Karte des Körpers auf, wo Berührung registriert und interpretiert wird. Berührung der rechten Hand wird zwar hauptsächlich in der linken Hirnhälfte verarbeitet, dennoch sind beide Hirnhälften aktiv, während die Berührung wahrgenommen wird. Alle unsere Sinne arbeiten zusammen wenn wir etwas berühren. Sehen und hören kann beispielsweise helfen, eine Berührung verstärkt wahrzunehmen. Eine Nervenverletzung hat zur Folge, dass im Gehirn das Programm für die Interpretation von Berührungsinformationen für eine gewisse Zeit stillsteht, da keine oder wenig Sensibilität in der Hand vorhanden ist (Phase 1). Während dieser Zeit wird die Karte im Gehirn verändert, das Areal der Hand wird schnell von benachbarten Arealen „besetzt“. Wenn die neuen Nervenfasern bis zur Haut und den Muskeln gewachsen sind, wird die Karte erneut verändert, da die Fasern nicht genau den gleichen Weg wachsen, wie vor der Verletzung. Die Karte der Hand wird unstrukturiert und die Sensibilität ist während dieser Zeit wenig nützlich. Man braucht die Hilfe der Augen, um zu verstehen was die Hand berührt (Phase 2). Diese funktionelle Reorganisation des Gehirns ist ein natürlicher Prozess. Sie hängt von der Kapazität des Gehirns ab, sich den neuen Signalen des Körpers anzupassen. Schematische Darstellung der Veränderung der „ Handkarte“ im Gehirn nach einer Naht des Nervus medianus. a) Vor der Schädigung b) Phase 1 c) Phase 2 Aus: handkirurgi – Skador, sjukdomar, diagnostik och behandling. Lundborg 1999. a b c Weshalb ist Sensory Re-education notwendig? Mit strukturiertem, regelmässigem Training kann man die „neue Sprache“ der Hand verstehen lernen. Ohne Training kann es sein, dass sich eine einfache Berührung fremd anfühlt. Die Kontrolle über die sensorischen Informationen der Hand ist wichtig, um eine gute Greiffunktion zu erlangen und die Hand für Alltagsaktivitäten einsetzen zu können. Aus: handkirurgi – Skador, sjukdomar, diagnostik och behandling. Lundborg 1999. Prinzipien der Sensory Re-education nach Naht des Nervus medianus. (a) Schematische Darstellung der „Handkarte“ einer unverletzten Person, die eine Kugel berührt. (b) Nach Nervendurchtrennung und erneuter Aussprossung der Nervenfasern ist die Karte durch fehlgeleitete Nervenfasern und nachfolgende funktionelle Reorganisation verändert. (c +d) Durch die Kombination von visuellen und sensiblen Informationen lernt das Gehirn, die „neue Sprache“ der Hand zu verstehen. „Sensory Re-education“ - Sensibilitäts-Training Gemeinsam mit Ihrem Therapeuten oder Ihrer Therapeutin stellen Sie ein Trainingsprogramm zusammen, um die funktionelle Sensibilität zu verbessern. Das Programm wird auf die Erholungsphase des Nervs abgestimmt. Die Übungen sollten mehrmals täglich für einige Minuten durchgeführt werden. Achten Sie auf eine ruhige und angenehme Umgebung, wo Sie sich gut konzentrieren können. Training in Phase 1 In Phase 1 ist die Hand ohne Sensibilität und die „Handkarte“ im Gehirn ist verschwunden. Diese Phase dauert bis zu drei Monate nach einer Verletzung auf Höhe des Handgelenks. Sie umfasst die Zeit direkt nach der Nervennaht bis einige aussprossende Nervenfasern die Handfläche erreicht haben. Während dieser Phase haben Sie keine Schutzsensibilität. Um Verletzungen zu vermeiden, ist es daher wichtig, Ihre Hand im Alltag gut zu beobachten. Das sensorische Wiedererlernen in Kombination mit dem Training der Beweglichkeit der Hand hat in dieser frühen Phase zum Ziel, die „Handkarte“ im Gehirn zu aktivieren und aufrechtzuerhalten. Dadurch wird das sensorische Wiedererlernen vereinfacht, wenn die Nervenfasern wieder gewachsen sind. Dies geschieht durch eine Illusion von Sensibilität der Hand, die dem Gehirn vermittelt wird. Das Training Wenn Sie jemand anderen etwas berühren sehen, stellen Sie sich vor, wie sich das normalerweise anfühlt. Wenn Sie die gefühllosen Areale der Hand berühren und dies konzentriert beobachten, wird die Handkarte im Gehirn aktiviert. Wiederholen Sie das mehrmals täglich. Sie können zum Beispiel jemand anderen fragen, Ihre gefühllosen Finger und die korrespondierenden Finger Ihrer anderen Hand simultan zu berühren, während Sie dies aufmerksam beobachten (Bild 1). Sie können die gefühllosen Finger auch selbst mit dem korrespondierenden Finger der anderen Hand berühren (Bild 2). 1 2 3 4 Eine andere Möglichkeit ist der Gebrauch des Spiegels, wo Sie die unverletzte Hand im Spiegelbild sehen, als ob es die verletzte Hand wäre. So wird dem Gehirn die Illusion vermittelt, in der verletzten Hand sei Aktivität (Bild 3). Man kann in Phase 1 auch andere Sinne als Ersatz zur Hilfe nehmen, z.B. das Hören, indem beim sogenannten Sensor-Handschuh die Reibungsgeräusche der Berührung über kleine Mikrofone übertragen werden (Bild 4). Training in Phase 2 In Phase 2 haben die Nervenfasern die Hand erreicht und die „Handkarte“ im Gehirn weist ein verändertes Muster auf. Das ist ungefähr drei Monate nach einer Nervennaht auf Höhe des Handgelenks der Fall. Sie haben etwas Sensibilität in der Handfläche. Nun ist es Zeit das Training der Phase 2 zu beginnen. Das Training Um Berührungen zu lokalisieren, berühren Sie Ihre Haut an einer der markierten Stellen (siehe Bild nächste Seite) mit einem stumpfen Gegenstand, z.B. einem Kugelschreiber. Drücken oder bewegen Sie den Gegenstand so stark, dass Sie die Berührung spüren. Vergleichen Sie es mit einem Areal, wo Sie normale Sensibilität haben. Konzentrieren Sie sich auf das WO, WAS und WIE der Berührung. Ist es im Areal, das Sie berühren oder irgendwo anders? Ist es eine statische oder bewegte Berührung? Unterscheidet es sich vom Areal mit normaler Sensibilität? Wiederholen Sie die Berührung, zuerst mit geöffneten und danach mit geschlossenen Augen, bis Sie den Eindruck haben, den Ort und die Art der Berührung zu erkennen. Arbeiten Sie zuerst an wenigen Arealen, bis Sie sicher sind, dass Sie die Berührung richtig lokalisieren können. Danach gehen Sie weiter zu benachbarten Arealen. Bitten Sie jemand anderen die Stimuli zu setzen. Kontrollieren Sie mit Hilfe der Abbildung unten, ob Sie die Berührungen, ohne zu schauen, richtig lokalisieren können. Sobald Sie erste Schutzsensibilität in den Fingerspitzen haben, ist es Zeit mit Übungen zu beginnen, bei denen Sie wieder lernen verschiedene Oberflächen und Formen zu unterscheiden und Gegenstände zu erkennen. Wenden Sie die gleichen Prinzipien wie für die Lokalisationsübungen an. Wiederholen Sie die Berührung, zuerst mit geöffneten und danach mit geschlossenen Augen, bis Sie die Art des Stimulus erkennen können. Eine Möglichkeit den Effekt des Sensory Re-education Trainings zu verstärken, ist die vorübergehende Betäubung der Haut im Bereich des Unterarmes durch eine AnästhesieCrème. Das entsprechende Areal wird dadurch auf der Karte des Körpers im Gehirn für einige Stunden frei und kann während dieser Zeit für das Sensory Re-education Training der Hand verwendet werden. Dieses Vorgehen kann im Rahmen der Therapie über eine gewisse Zeit regelmässig in Kombination mit intensivem Sensory Re-education Training angewendet werden. Beispiele, wie das Training durchgeführt werden kann 1. Berühren Sie verdeckte Oberflächen / Formen / Gegenstände und versuchen Sie diese zu identifizieren. 2. Berühren Sie gleichzeitig mit der gesunden Hand und mit der verdeckten, verletzten Hand eine identische Oberfläche / Form / Gegenstand und vergleichen Sie die Empfindungen. 3. War es richtig? Wenn nicht oder wenn es zu schwierig war, schauen Sie nochmals hin während Sie berühren. 4. Mit einem veränderten Rubik-Würfel können verschiedene Muster kreiert werden, indem die Elemente des Würfels gedreht werden. 5. Identische Oberflächen / Formen / Gegenstände suchen. 1 2 4 3 5 6. Tragen Sie einige Gegenstände in Ihrer Hosentasche mit sich und versuchen Sie diese zu identifizieren. Setzen Sie sich mit Oberfläche, Form, Gewicht des Gegenstandes auseinander und finden Sie heraus, um welchen Gegenstand es sich handelt. 6 7. Verwenden Sie alle Ihre Sinne, um die Berührungsempfindung zu stärken. Wenn Sie beispielsweise eine Frucht essen, konzentrieren Sie sich nicht nur auf den Geschmack, sondern auch auf den Geruch, die Farbe, die Geräusche und wie sich die Oberfläche anfühlt. „Das taktile Mahl!“ 7 8. Machen Sie es sich zur Gewohnheit darauf zu achten, wie sich die Berührungen in alltäglichen Tätigkeiten anfühlen. Dies unterstützt das Wiedererlernen der Sensibilität. Konzentrieren Sie sich darauf was Sie fühlen, z.B. fühlt sich das Objekt weich oder hart an, hat es scharfe oder runde Kanten, wie ist die Form, Grösse und Oberfläche. 8 Während der Rehabilitation werden regelmässig Messungen gemacht, um zu sehen wie sich Sensibilität und Handfunktion verbessern und um das Programm für das Sensory Re-education Training anzupassen. Die Erholung von Sensibilität und Motorik nach einer Nervennaht ist ein Prozess, der viel Zeit braucht. Dank Training und aktivem Gebrauch der Hand können Verbesserungen über mehrere Jahre nach der Verletzung erzielt werden. Wenn Sie Fragen haben wird Sie Ihr Ergotherapeut oder Ihre Ergotherapeutin gerne unterstützen. VIEL GLÜCK mit Ihrem Sensory Re-education Training