Berührung im Gottesdienst Ein Erfahrungsbericht In einer kleinen Kirche sehen wir 22 Menschen sitzen und stehen – zu zweit einander zugeordnet. Alle tragen einen Talar. Es sind Pastorinnen und Pastoren. Sie sind ganz still. Niemand spricht. Je eine der beiden Personen hat die Hände auf die Schultern oder den Kopf der anderen Person aufgelegt. Dort verweilen sie bereits seit 7 Minuten. Beide sind einfach nur aufmerksam für die Stelle, an der die Hände aufliegen. Unter ihnen geschieht, was man nicht sieht. Später werden sie erzählen: Erst spürt man als Empfangende nur die Handflächen, dann die Wärme, nach ein paar Minuten beginnt die dann oft im Körper zu wandern. Sie breitet sich aus – bei manchen bis in die Füße. Muskeln lösen sich. Gegen Ende der Übung bitte ich die Paare, sich voneinander zu lösen. Wer Segen empfangen hat, möge sich ganz langsam so weit von der segnenden Person entfernen wie die Wärme der Hände grade noch spürbar ist. Dort soll sie stehen bleiben. Fast alle gehen mindestens einen Meter weit. So weit empfinden sie noch die Wirkung der Hände. Nach dem Rollenwechsel, also wenn Gebende Nehmende sind, kommt die Erinnerung hinzu: Ich bitte die Segnenden sich der Hände zu erinnern, die eben noch auf ihrem Körper lagen. Sie sollen deren Wärme und Wirkung körperlich erinnern und den Strom, den sie ausgelöst haben – und den weitergeben durch die eigenen Hände. Hier zeigt sich etwas Grundsätzliches vom geistlichen Leben und dem Segen: Niemand ‚hat’ Segen zur freien Verfügung, sondern immer nur, indem sie empfängt und gleichzeitig gibt. Für die Pastorinnen und Pastoren ist es eine Grundgeste ihres Amtes. Aber das ist kein Privileg des Berufsstandes, sondern jedem Christenmenschen offen – daher darf ja auch jeder Christ andere im Gottesdienst segnen. Er soll nur wissen, dass er empfängt, während er gibt. Alles, was ich hab, hab ich von einem anderen. Wenn die Pastorinnen und Pastoren später allein vor der Gemeinde stehen, werden sie den Engel in ihrem Rücken erinnern, körperlich und mental, sie werden sich in den Strom stellen können, der sagt: Ich segne dich, und du sollst ein Segen sein. Und das gilt dann auch für alles, was Leitende im Gottesdienst tun: Es wird nur gelingen, wenn der Engel im Rücken seinen Segen dazu gibt. Wer sich nicht verbunden weiß - und dies mitten im Tun - wird nichts ausstrahlen. Re-ligio also, Rückbindung. So nähern sich Menschen dem Segen und der Geste, die dazu gehört. Es gibt längst Gottesdienste in normalen protestantischen Gemeinden, die einen eigenen Segensteil enthalten. Man kann sich einzeln einen Segen unter Auflegen der Hände holen, entweder in einem Seitenschiff der Kirche oder in der Mitte. Eine andere Erfahrung machen Menschen, die in einer kleinen Vorstadtgemeinde am Sonntag zum Gottesdienst kommen. Es geht um die Erinnerung der Taufe: Im Eingangsbereich ist das Taufbecken aufgestellt. Eine freundliche Kirchenvorsteherin zeichnet mit dem Finger und dem Wasser aus dem Becken ein Kreuz in meine geöffnete Hand und sagt: „Nimm das Zeichen des Kreuzes – zur Erinnerung an deine Taufe im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Ihr Finger malt im Rhythmus der trinitarischen Formel kreuz und quer in meine Hand. Die Spur des Wassers bleibt lange in den Nervenbahnen meiner Handfläche hängen. Denn die sind da sehr ausgeprägt. Ich spüre, wie das Wasser kühl verdunstet und wage nicht es abzuwischen. Eine kleine Prägung. Das Gegengift zum Kainsmal. Ich drücke die Hand mit der Wasserspur gegen meine Stirn. Ich bin bezeichnet mit dem Kreuz. Ich habe Anteil an einer Geste, die einen Christen sonst nur einmal im Leben trifft – bei der Taufe. Ich schweige nach dem Empfang der Geste automatisch. Die Berührung vertieft mich historisch und geistlich ohne weitere Kommentare. Eine weitere Erfahrung kommt Menschen in der internationalen lutherischen und bankfreien Kirche in Genf zu: Sie sitzen in einem Dreiviertel-Rund um den Altar. Der Gottesdienst ist 1 fortgeschritten. Wir haben beim Singen gestanden und bei den Gebeten und Lesungen gesessen. Bei manchen Liedern haben wir geklatscht oder uns gemeinsam etwas bewegt und uns dabei umgesehen. Es inspiriert, wenn man anderen beim Singen ins Gesicht sehen kann. Ich bin mit ein paar Gesichtern schon nach einer halben Stunde vertraut. Innerhalb der Liturgie des Abendmahls folgt jetzt der Friedensgruß. Der kommt wie eine Folge der zunächst distanzierten aber wohlgesonnenen Wahrnehmung. Man geht herzlich aufeinander zu, die Hände treffen sich, eine Hand geht manchmal zusätzlich an die Schulter des Gegenübers. Friede mit Dir – und mit Dir. Die Leute grüßen ihre ganze Umgebung. Keine Sekunde der Peinlichkeit - eher Vergnügen und Selbstverständlichkeit prägen hier den Gruß. Die Sitzordnung im Raum hat anfängliche Distanz bei gegenseitiger Wahrnehmung und Mitempfinden zugelassen, nun beim Abendmahl geht mehr Nähe, und sie ist auch sinnvoll. Hätten wir aufgereiht in Bankreihen gesessen – wir wären auf Abstand zu den anderen gepolt gewesen und hätten es außerdem schwer aus der Reihe heraus zu kommen um mehr Menschen als die beiden vor und hinter uns zu grüßen. Das zeigt: Berührung lässt sich nicht gegen die anderen Grundintentionen des Raumes inszenieren. Sie muss angelegt sein. Eine weitere Erfahrung mache ich, als wir in einem normalen deutschen Gottesdienst im Kreis nach dem Empfang des Abendmahls stehen und gebeten werden uns an den Händen zu fassen. Der Pastor sagt etwas zu diesem Gestus: „Bitte lassen Sie die Arme entspannt sinken ohne den anderen loszulassen.“ Schweigen. „Spüren Sie die Hände einen Moment. Wir stehen hier nicht allein. Andere gehen in ihrer Suche nach Gott einen ähnlichen Weg.“ – Es folgt ein Moment Stille --. „Wenn wir uns gleich loslassen, geht die Kraft der anderen Christen hier mit Ihnen.“ Schweigen. „Geht im Frieden Gottes, er ist mit uns.“ Dann lösen wir die Hände. Ich bemerke, wie wenig genügt, eine Geste zu qualifizieren und zu vertiefen, die vielen aufgesetzt erscheint. Wichtig war auch das Schweigen, denn alle körperlichen Gesten brauchen etwas Zeit um zu wirken. Der Körper geht zu Fuß. Allein sich offiziell entspannen zu dürfen, wenn die Arme angestrengt der Forderung zum Körperkontakt nachgekommen sind. Und auch nicht gleich wieder loslassen - Hauptsache, es ist vorbei. Nein, am Ende lerne ich noch es zu genießen, dass ich auch körperlich mit anderen Christen verbunden bin. Der Kreis beim Abendmahl hat dies ermöglicht. Wir wurden genährt aus der transzendenten Mitte und realisieren das im Kontakt miteinander. Das ist eine der Grundgesten des Mahls. Wir lernen sehr Wesentliches im Leben über den Körper. Alle wesentlichen Intimitäten, die mir zeigen, dass es mich in Verbindung mit anderen gibt und dass ich gemeint und gewollt bin, die haben mit meiner Haut zu tun. Meine Grenze ist der Ort der Verbindung. Eine Grunderfahrung des west- und nordeuropäischen Gottesdienstes ist zunächst und aus der Tradition heraus die körperliche Distanz zum Heiligen, auch die zu den anderen. Das gehört zum gesellschaftlichen Verhaltenskodex, aber auch zur Theologie unserer Räume. Wir sitzen auf Abstand zum Altarraum und zueinander. JedeR für sich – hingewandt zu Gott. Kein weiteres Lamento über die Unsinnlichkeit unserer Gottesdienste, die ist ausreichend beweint. Es gibt inzwischen Bewegung auf diesem Feld, neue Freiheiten. Das hat auch mit dem Wechsel der Generationen zu tun. Mein Vater noch ließ Berührung nur in Ausnahmefällen zu. Meine Söhne suchen sie sich in ganz anderer Freiheit. Aber vielleicht können wir bewusster und präziser suchen nach Zeiten und Orten im Gottesdienst, die wirklich geeignet sind für Berührung. Und wichtig ist vor allem, wie wir es einfädeln. Kommt die Aufforderung unvermittelt? Wie passt Körperkontakt zum übrigen Arrangement unserer Kirche? Welche knappen Worte können Angst lindern und Schwellen senken? 2 Thomas Hirsch-Hüffell geb. 1954, Studium Theologie, Theaterwissenschaften, Gesang, Psychotherapie, arbeitet als Pastor am gottesdienst institut nordelbien in Hamburg, verh., zwei Kinder Konto Thomas Hirsch-Hüffell, Hamb. Sparkasse, BLZ 20050550, Nr. 1343489231 BILD: s. extra Post 3