hr Brief

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Hessischer Rundfunk
hr2-kultur
Redaktion: Heike Ließmann
Wissenswert
Soziologie made in Frankfurt
1968 und die Folgen
von
Christa Schell
14.10.2010, 08.30 Uhr, hr2-kultur
Sprecherin:
Zitator 1:
Zitator 2:
10-124
COPYRIGHT:
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Seite 2
Zitator:
13. März 1968 – Frankfurter Rundschau – „Zweitausend Teilnehmer erwartet die Deutsche
Gesellschaft für Soziologie zu ihrem 16. Deutschen Soziologentag in Frankfurt. Die
Eröffnungskundgebung findet am Montag, dem 8. April durch den Vorsitzenden der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Professor Dr. Dahrendorf, statt.“
Atmo 1: Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Lage der Deutschen Gesellschaft für
Soziologie gibt kaum mehr Anlaß zur feierlichen Selbstzufriedenheit als die der deutschen
Soziologie oder der deutschen Gesellschaft..... (unter Zitat blenden)
Zitator:
„Auf der Veranstaltung in der Kongreßhalle werden der Rektor der Universität, Professor Dr.
Rüegg, Frankfurts Oberbürgermeister Professor Brundert und der hessische Kultusminister
Professor Dr. Schütte Grußadressen an die Versammlung richten.“
Atmo 2: Ich begrüße als Vertreter der Universität den Herrn Dekan der Philosophischen
Fakultät, Dr. Lammert. Der Herr Kultusminister des Landes Hessen mußte sich heute früh
noch entschuldigen lassen.... (unter Zitat blenden)
Zitator:
9. April 1968 – Frankfurter Allgemeine Zeitung – „In Anwesenheit zahlreicher Gäste aus
Großbritannien, den Vereinigten Staaten, vor allem aber aus den osteuropäischen Ländern,
ist gestern der 16. Deutsche Soziologentag eröffnet worden. Grußworte sprachen der Dekan
der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt, Professor Dr. Lammers“ –
Atmo 3: Wenn das nicht, wie es sein sollte, durch den Herrn Rektor geschieht, so wolle man
das nicht falsch verstehen. Magnifizenz, ja, Ihr Fachkollege, hat mich gebeten, ihn auch als
solchen, als Kollegen zu entschuldigen.
Zitator:
- „sowie Oberbürgermeister Professor Dr. Willi Brundert.“
Seite 3
Atmo 4: Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Soziologie ist, wie wir immer wieder
lesen, hören oder auch sagen, eine junge und als solche eine moderne Wissenschaft... (unter
Text blenden)
Autorin:
So fing er
an: der 16. und spektakulärste Deutsche Soziologentag der Deutschen
Gesellschaft für Soziologie. Und das letzte Wort am ersten Tag, das letzte Grußwort, um
genauer zu sein, hatte – wie beschrieben - der Oberbürgermeister der Stadt, der sich zum
Glück nicht auch noch entschuldigen ließ. Und abends bat er sogar zum Empfang in den
Kaisersaal, wo die Frankfurter Neue Presse dabei war, um anderntags in Auszügen das
Folgende zu berichten:
Zitator:
„So lustig gelockert konnte sich Professor Dahrendorf schon deshalb geben, weil
Oberbürgermeister Professor Dr. Brundert in seiner Begrüßungsansprache von der
´Konfrontation geistig hochstehender Fachgespräche mit dem gelockerten Menschsein`
gesprochen hatte. ´Sie werden in wenigen Minuten hemmungslos Ebbelwei trinken können`,
versprach er. Das Versprechen wurde gehalten, und der Leierkastenmann dudelte dazu: ´Der
schönste Platz ist immer an der Theke.`“
Autorin:
Bliebe noch zu erwähnen, daß es dazu „Rippchen und Kraut“ gab. Und daß man „Professor
Dahrendorf“ an jenem Abend „so lustig gelockert“ mit ziemlicher Sicherheit zum letzten Mal
sah. Schließlich tagte sein Verein, die Deutsche Gesellschaft für Soziologie im revolutionären
studentenbewegten 1968ziger Jahr. Und „was als wissenschaftlicher Dialog über das Thema
´Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft ?` geplant gewesen war, endete“ – der
Hamburger Wochenzeitung Spiegel folgend – „als studentisches
Teach-in“:
Zitator:
Seite 4
„Zum erstenmal waren Studenten als gleichberechtigte Diskussionspartner in den
Plenarsitzungen zugelassen, und zum erstenmal auch trat auf einem Soziologentag die meist
Soziologie studierende Elite des SDS ihren verdatterten Lehrern gegenüber. ´Nun sagen Sie
doch mal, was Sie zu sagen haben`, blaffte der Frankfurter Soziologiestudent Hans-Jürgen
Krahl den Konstanzer Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf an. Dem Kölner Professor
Scheuch warf er ´wissenschaftliche Unredlichkeit` vor. Freilich, Dahrendorf und Scheuch als
Empiristen – von Kritikern wegen ihrer Auszählmethoden ´Fliegenbeinzähler` genannt –
waren von der sogenannten Frankfurter Soziologenschule, die Theodor W. Adorno anführt,
schon lange eines ideenlosen Neopositivismus bezichtigt worden, der eine philosophische
Gesellschaftskritik nach marxistischem Muster verhindere.“
Atmo 4: (Adorno) Der mit dem Stand der sozialwissenschaftlichen Kontroverse nicht
Vertraute könnte auf den Verdacht geraten, es handele sich um einen Nomenklaturstreit,
Fachleute seien von der eitlen Sorge geplagt, ob die gegenwärtige Phase nun
Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft heißen soll. In Wahrheit aber geht es nicht um
Termini, sondern um inhaltlich Entscheidendes. Referate und Diskussionen sollen zum Urteil
darüber helfen, ob noch das kapitalistische System nach seinem, wie immer auch
modifizierten Modell herrsche oder ob die industrielle Entwicklung den Begriff des
Kapitalismus selbst und die Kritik am Kapitalismus hinfällig gemacht habe, mit anderen
Worten, ob die heute innerhalb der Soziologie so weitverbreitete These, Marx sei veraltet,
zutreffe.
Autorin:
Theodor W. Adorno am 8. April 1968. „Das Oberhaupt der Frankfurter Schule“ – so der
Spiegel über den scheidenden Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie – kurz
DGS, und im übrigen nicht zu verwechseln mit der DSG – der Deutschen Schlafwagen- und
Speisewagengesellschaft, wie es die frechen Studenten mit Vorliebe taten. Sein Nachfolger
im Amt: Ralf Dahrendorf. Durchaus denkbar, daß er sich seinerseits liebend gerne
entschuldigt hätte – wie der Universitätspräsident und die lieben Kollegen, die seinerzeit
nicht nur von dem Kongreßberichterstatter der Süddeutschen Zeitung Ivo Frenzel vermißt
wurden. Er zählte und schrieb:
Seite 5
Zitator:
„Sieht man von einigen Absagen wegen Erkrankung ab :Habermas und Teschner, so fällt das
Fehlen einer ganzen Reihe von empirischen Soziologen auf, die sich um Namen wie Helmut
Schelsky, René König und Arnold Gehlen zu scharen pflegen. Der – von den Veranstaltern
freilich bestrittene – Verdacht liegt nahe, daß ein Teil der konservativer eingestellten
Kollegen der Frankfurter Einladung nicht gefolgt ist, um sich nicht auf ein Thema
einzulassen, das zwangsläufig in rein politische Bereiche führen muß.“
Atmo 5: (Pdiumsdiskussion) Meine Damen und Herren, wenn Sie nichts dagegen haben,
fangen wir jetzt an. Das Thema unserer Podiumsdiskussion ist Ihnen bekannt. Es geht um
Herrschaftssysteme heute und studentische Aktionen. Zunächst sollte das Podium mal zu
Worte kommen. Auf der rechten Seite sitzt Herr Scheuch, dann Herr Lefevre, Herr Krahl,
Herr von Friedeburg, Herr Allerbeck, Herr Dahrendorf..... (evtl. unter Zitat blenden)
Zitator:
13. April 1968 – Frankfurter Allgemeine Zeitung – „Der während des 16. Deutschen
Soziologentages sich zuspitzende Gegensatz zwischen einer pragmatischen und einer
theoretischen Soziologie fand unvermittelt Ausdruck während einer nächtlichen Diskussion,
wobei die Professoren Dahrendorf und Scheuch eindeutig ihren brillianten Gegnern Lefevre
und Krahl unterlagen. Zu keiner Phase des Gesprächs gelang es ihnen, den Thesen der
radikalen Studentenführer etwas Substantielles entgegenzusetzen, und sie suchten daher
zuweilen Ausflucht in unfairen Manövern. Das mißlungene Gespräch zeigte schlaglichtartig
wie weit man sich selbst unter Leuten vom Fach nicht mehr versteht.“
O-Ton 1:
Es gab immer diesen umfassenden gesellschaftstheoretischen Anspruch, der mit dem
Marxismus in die Soziologie reinkam. Und dann kamen eben andere Soziologen um 1900 ins
Spiel, wie Georg Simmel, Max Weber, die sich bewußt von gesellschaftstheoretischen
Ambitionen innerhalb der Soziologie verabschiedet haben und gesagt haben, das ist ein
philosophisches Problem, aber kein soziologisches. Und dadurch kam der Dauerclinch mit
den Marxisten zustande, wobei dieser Anspruch, daß die Soziologie eben keine
Einzelwissenschaft sein soll, sondern eben auch eine Gesellschaftstheorie, immer wieder
reaktualisiert worden ist. Das haben Sie sogar schon in den Vereinigten Staaten um 1950. Da
Seite 6
kommt ein berühmter US-amerikanischer Soziologe Parsons auch dazu, den Begriff
Gesellschaft wieder hoffähig zu machen. Und auch ein Niklas Luhmann hat eine allgemeine
Theorie der sozialen Systeme entwickelt und parallel dazu eine Theorie der Gesellschaft.
Autorin:
Klaus Lichtblau, Professor für Soziologie „mit dem Schwerpunkt Geschichte und Systematik
sozialwissenschaftlicher Theoriebildung“ am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der
Frankfurter Goethe-Universität. Auch er ist Mitglied der 1909 gegründeten Deutschen
Gesellschaft für Soziologie, die ihren „1. Deutschen Soziologentag“ vor 100 Jahren in
Frankfurt am Main stattfinden ließ. Mit Max Weber und seiner Vorstellung von einer
„wertfreien“ Sozialforschung kam damals der berühmte „Werturteilsstreit“ in die Welt – und
damit der „Dauerclinch“ diverser konkurrierender soziologischer Schulen. Da war an das
berüchtigte 1968ziger Jahr noch lange nicht zu denken. Ivo Frenzel:
Zitator:
„Die Kontroverse erreichte 1914 ihren Höhepunkt, war aber erst nach dem ersten Weltkrieg
über den aktuellen Anlaß hinaus zugunsten Max Webers entschieden; seine These von der
Wertfreiheit wurde zum konstitutiven Moment für den Wissenschaftsbegriff der deutschen
Soziologie, deren namhafte Vertreter nach 1933 in überwiegender Mehrzahl emigrierten.
Spätestens die Katastrophe der braunen Diktatur mußte jedoch zeigen, daß wertfreie
Sozialforschung problemblind und im Dienste bestehender Herrschaftsverhältnisse
manipuliert werden kann.“
O-Ton 2:
Und es gab aber auch die marxistischen Sozialwissenschaften, die insbesondere während der
Weimarer Republik einen ungeheuren Einfluß bekamen durch die veränderten politischen
Verhältnisse. Und da müssen Sie sehen, daß die Gründung des Instituts für Sozialforschung ja
genau ein marxistisches Forschungsinstitut war. Und dadurch ist die marxistisch orientierte
Gesellschaftswissenschaft sehr stark in Frankfurt gewesen. Da hatten sie dann
Kontroversen, die dann während des Zweiten Weltkriegs natürlich zurückgedrängt wurden,
weil die Leute ja alle in die Emigration mußten, und die dann wieder auflebten, als
Horkheimer und Adorno nach dem Krieg wieder nach Frankfurt zurückkamen. Und die
ganzen Debatten, die in den fünfziger, sechziger Jahren geführt worden sind, können Sie aus
dieser Optik heraus rekonstruieren.
Atmo 6: (Beifall hoch, Resolution) ... Wir fordern, daß die Ordinarien die konsequente und
umfassende Demokratisierung der Universität und damit den konsequenten und
umfassenden Abbau ihrer Herrschaftspositionen vorantreiben; Öffentlichkeit der Forschung,
Seite 7
auch der Forschung im Auftrag von privaten Unternehmen, Interessengruppen. Es ist nicht
einzusehen, warum die versammelten Soziologen nicht auch Stellung zu
Pressekonzentration, Notstandsgesetzen, Vietnam, Hochschulreform etc. nehmen sollten.
Wir fordern.... (unter Text)
Autorin:
10. April 1968, 16. Deutscher Soziologentag – der Dritte: verlesen wird zu nächtlicher Stunde,
eine studentische Resolution zur Reformierung nicht zuletzt auch der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie: zu der Zeit ein um die 58 Jahre alter „Honoratiorenverein“, 1946
wiedergegründet, wobei – einer Selbstkritik folgend – „Versuche, den Nationalsozialismus zu
analysieren und zu erklären“, wenig bis gar nicht vorkamen. Die Analyse des Faschismus
oblag dem 1951 zurückgekehrten Institut für Sozialforschung und seinen „Oberhäuptern“.
Und daß sich die nach Antworten suchenden Studenten schon allein darum der „Kritischen
Theorie“ ihrer „Frankfurter Schule“ verbunden fühlten, liegt auf der Hand. Keinen
Friedenkonnte und wollte man mit der herrschenden spätkapitalistischen
Industriegesellschaft machen, anders als die angewandte Soziologie, damals hauptsächlich
vertreten durch die Professoren Dahrendorf und Scheuch:
Zitator:
„Dahrendorf und Scheuch in der Löwengrube“ –
Autorin:
- titelte die Welt. Immerhin: Sie durften sie wieder verlassen. Am 11. April 1968, jenem
Donnerstag, an dem in Berlin der Soziologiestudent Rudi Dutschke einen Anschlag nur knapp
überlebte, ging in Frankfurt am Main der 16. Deutsche Soziologentag zu Ende. Und vieles
sollte fürderhin nicht mehr sein wie es war:
O-Ton 3:
Das Resultat war, daß es sechs Jahre lang keinen Deutschen Soziologentag mehr gab, weil
die Kluft zu groß war, um diese verschiedenen Lager zu überbrücken. Erst 1974 hat man
dann in Kassel den nächsten Soziologentag gemacht und gewagt, kann man ja geradezu
sagen. Und dann war auch schon absehbar, daß man es im Unterschied zu 1968 plötzlich mit
einem Theorienpluralismus zu tun hatte, wo nicht nur die bürgerliche Soziologie und die
Kritische Theorie eine Rolle spielten, sondern dann kamen auch noch völlig andere
Strömungen auf, die phänomenologische Soziologe, die Zivilisationstheorie von Norbert Elias,
die Systemtheorie, so daß man sagen kann, daß diese Konfrontationsstellung zwischen zwei
großen Richtungen damit aufgesprengt worden ist.
Seite 8
Autorin:
Im herbstlichen 1968ziger Jahr entsteht aus der „Konfrontationsstelllung“ der Frauen im
Sozialistischen Deutschen Studentenbund der Frankfurter „Weiberrat“ : und mit dem
Erstarken der Frauenbewegung in seiner Folge der erste bundesdeutsche „Lehrstuhl für
Frauen und Geschlechterforschung“ an der Frankfurter Universität. Frankfurt ist damit wie
einst beim ersten deutschen Lehrstuhl für Soziologie führend. Und die Deutsche Gesellschaft
für Soziologie? Reagierte spät, aber sie reagierte: Seit 1992 lädt sie, mit Blick auf die „starke
Sektion“ ´Frauenforschung`“ in ihren soziologischen Reihen, nicht mehr zum
„Soziologentag“, sondern zum –politisch korrekt und geschlechtsneutral - Kongress für
Soziologie.
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