DER BUND 18. Februar 2013

Werbung
Der kleine
31
— Montag, 18. Februar 2013
Kultur
Vorlesedienst
bei Witwe
Bergmann
Den Kitsch umschifft: «Die
Nadel der Kleopatra» im
Theater Matte Bern.
Lena Rittmeyer
Irgendwann legt Sophie das Buch weg.
Statt der blinden Frau Bergmann die
letzte Seite und gleichzeitig Abschiedsbrief aus dem Tagebuch von deren heimlichem Geliebten vorzulesen, erfindet
sie tröstende Worte und lässt die Betagte
im Glauben, sie stammten aus der Feder
des Autors.
Aus Geldsorgen hat sich die Studentin Sophie (Nina Bühlmann) für diesen
Vorlesedienst bei Frau Bergmann (Marianne Tschirren) zur Verfügung gestellt.
Aus einem unbequemen Vorstellungsgespräch bahnt sich zögerlich eine
Freundschaft zwischen den zwei Frauen
an, die beide an völlig unterschiedlichen
Knotenpunkten im Leben stehen. Sophie schlägt sich mit ihrem saumseligen
Banausen-Freund Marc (Adamo Guerriero) herum, der sich «Impressionismus» erst mal ergooglen muss, während
Frau Bergmann aufgrund ihres bei
einem Unfall verlorenen Augenlichts vor
allem in Erinnerungen schwelgt. Und
diese führen sie immer wieder zur «Nadel der Kleopatra», einer der ägyptischen Obelisken, wo sie ihren klandestinen Liebhaber zum ersten Mal in London traf.
Detailgetreu hat Subodh Gupta 2012 die Bamiyan-Felsen nach der Zerstörung durch die Taliban 2001 dargestellt: «Renunciation». Foto: Dominique Uldry/zvg
Der Verwandlungskünstler
Der indische Künstler Subodh Gupta macht aus Dingen des Alltags grossartige Kunst.
Das beweist seine erste Museumsausstellung «Spirit Eaters» in der Schweiz im Kunstmuseum Thun.
Sarah Pfister
Wer sich für international etablierte
Gegenwartskunst interessiert und gleichzeitig Einblick in die indische Lebenswelt bekommen will, besucht die Ausstellung «Spirit Eaters» im Kunstmuseum Thun. Der Direktorin Helen Hirsch
ist es gelungen, den 1964 im indischen
Bundesstaat Bihar geborenen Künstler
Subodh Gupta für seine erste institutionelle Einzelausstellung in der Schweiz in
ihr Haus zu holen.
Gupta gehört zu den ganz grossen Namen in der Kunstwelt Asiens; seine
Werke sind im internationalen Kunsthandel hoch im Kurs. Die Überblicksschau ist ein Leckerbissen für Kunstinteressierte, dem es nicht an Gehalt fehlt,
der aber dennoch herrlich würzig mundet. Womit ein Thema angeschnitten
wäre, das in Guptas Werk sehr wichtig
ist: das Essen und die damit verbundene
Kultur. Mit Installationen aus Thali-Geschirr, diesen in Indien weit verbreiteten Behältern, die sich zu kleinen, gut
transportierbaren Mahlzeitentürmen
stapeln lassen, schaffte Gupta den internationalen Durchbruch.
In der Arbeit «Faith Matters» (2007–
2008) transportiert ein Sushi-Fliessband
eine Vielzahl von Thali-Geschirr. Die
Türme erinnern an eine Grossstadt mit
Strassen und Kreuzungen, wo das Leben
nie zur Ruhe kommt. Gupta spielt zum
einen auf die weltweite Verbreitung von
Lebensmitteln an, die aus ihrem traditionellen kulturellen Kontext herausgelöst werden. So finde man heute in Indiens Städten zum Beispiel an jeder
Strassenecke chinesischen Fastfood, obschon kaum ein Inder die chinesische
Kultur kenne, erläutert der Künstler. Die
bewegten Essensbehälter sind überdies
ein eindrückliches Bild für das minutiös
geplante, tägliche Ausliefern des zu
Hause gekochten Essens, das die Berufstätigen verzehren.
Dies spiegelt die grosse Bedeutung,
die dem Essen in der indischen Gesellschaft zukommt. Auch im Hinduismus
spielen Essen und Trinken eine wichtige
Rolle und sind zentral für viele religiöse
Riten. Die Videoarbeit «Spirit Eaters»(2012), die der Ausstellung den Titel gab, zeigt die «Seelenesser» bei der
Arbeit: Sie essen, stundenlang und
gegen Bezahlung. Stirbt jemand, so holen die Trauernden den «Spirit Eater»
ins Haus. Er isst, damit die Seele des Verstorbenen Ruhe und Friede findet.
Umdeutungen
Subodh Gupta verwendet in seinen
Arbeiten mit Vorliebe Ikonen des indischen Alltags. Dabei werden die ursprünglichen Bedeutungen und Funktionen der Dinge verschoben, verwandelt und erneuert. Das Thali-Geschirr,
das sich in der urbanen Skyline der Installation «Faith Matters» verliert, oder
die 1500 pink eingefärbten «Chimtas» –
die Zangen zum Brotwenden –, die aus
der Ferne wie ein glitzerndes Riesenkissen wirken, sind Beispiele für Guptas Fähigkeit, mit seiner Kunst starke Bilder
für den Wandel in der indischen Gesellschaft zu schaffen.
Althergebrachtes, im ländlichen Leben verankertes Kulturgut verliert nach
und nach seine Bedeutung. Subodh
Gupta setzt sich intensiv mit seiner Herkunft und der Kultur der ländlichen Lebenswelt auseinander. Er ist in einfachsten Verhältnissen in Bihar aufgewachsen
– einer der ärmsten Regionen Indiens.
Gupta erfuhr am eigenen Leib, dass die
«Bihari» in den Städten gering geschätzt
werden. Die Bezeichnung «Bihari»
gleicht einer Beleidigung. Statt seine
Herkunft verschämt zu verstecken, wie
dies viele Bihari täten, habe er in der
Arbeit «Bihari» (1999) explizit darauf
hinweisen wollen: Am unteren Bildrand
blinkt auf Hindi die Leuchtschrift «Bihari». Der Kuhdung auf dem Grund des
Gemäldes verweist auf den ländlichen
Charakter des Gliedstaates, wo der Dung
des heiligen Tieres von den Menschen
zum Beheizen des Kochfeuers, beim Bau
traditioneller Häuser und zur Reinigung
verwendet wird.
Diese tief in der armen Landbevölkerung verwurzelte Spiritualität greift Gupta
in vielen Arbeiten auf. So auch, wenn er
in der Videoarbeit «Pure» (1999) die spiri-
tuelle und hygienische Reinheit in Beziehung setzt. Aus der Dusche fliesst nicht
Wasser, sondern Kuhdung. Für Hindus ist
Kuhdung rein, doch einer körperlichen
Reinigung dient die braune Brühe offensichtlich nicht. Dieses Spiel mit Bedeutungen, deren Um- und Neudeutungen durch
künstlerische Interventionen sind charakteristisch für Guptas Werk.
stück, rutscht den Tanzenden gar der Boden unter den Füssen weg. In einer traumartig angelegten Szenerie geraten die vier
Frauen und Männer immer wieder in
Schräglage und verharren so sekundenlang wie eingefroren. Ihre wendigen Körper biegen sich, als ob Wellenschläge
durch sie pulsten. Minimale ruckartige
Bewegungen stehen gegen eine untergründig explosive Dynamik. Damit korrespondieren die Melodienbögen zweier
Harfen, die live auf der Bühne gespielt
werden. Das fliesst und perlt und entwickelt einen hypnotischen Sog, bevor es
schrillen Akkorden gebrochen wird.
Als sich die eine Ecke des weissen
Tanzbodens zum Hügel aufstülpt (Bühne:
Marko Japelj) und eine Langläuferin
traumwandlerisch die Bühne quert, kippt
das Stück endgültig in eine unwirkliche
Erheiternder Monet-Diebstahl
«Die Nadel der Kleopatra» heisst auch
das Stück von Philipp Moog und Frank
Röth, das Livia Anne Richard für das
Theater Matte ins Berndeutsche übersetzt hat. Auf der zweigeteilten Bühne –
eine Seite zeigt Frau Bergmanns Salon,
die andere Sophies Studentenbude
(Bühne: Fredi Stettler) – erhält die Insze-
Innenleben
Essen ist auch auf einer transzendenten
Ebene ein wichtiges Thema für Guptas
Schaffen – als Nahrung für die Seele. In
der eigens für die Ausstellung in Thun
hergestellten, raumfüllenden Skulptur
«Renunciation» (2012) hat er den Zustand des Bamiyan-Felsens nach der Zerstörung der Buddha-Statuen durch die
Taliban 2001 detailgetreu dargestellt.
Im Innern des Felsens entdeckt man
Samt und Seide, Geschmeide und edles
Geschirr. Besitz löst gemäss der buddhistischen Lehre Neid und Gier aus und
führt zu Unfriede und Zerstörung. Der
Titel der Arbeit ruft die Betrachter zur
Lossagung von materiellen Gütern auf.
Gleichzeitig macht sie deutlich, dass die
Hülle Buddhas zerstört sein mag, dass
aber die wahren Schätze – nämlich die
spirituellen Werte des Buddhismus – unzerstörbar sind.
Die Studentin (Nina Bühlmann) und die
Blinde (Marianne Tschirren). Foto: zvg
Die Ausstellung dauert bis 28. April.
www.kunstmuseumthun.ch
Vorstellungen bis 17. März.
www.theatermatte.ch
Atmosphäre. Die Tänzer rutschen die
Schräge hinunter, als wärs ein Schneehang. Leo Kulas hat die Tänzer mit sportlichen Rollkragenpullis und schwarzen
Hosen ausgestattet.
Eine weitere Steigerung erhält der
Abend schliesslich durch das Choreografenpaar Sol León und Paul Lightfoot und
ihr Stück «Sleight of Hand». Das Fantastische und Traumhafte, das sich auch durch
die beiden vorangehenden Werke zieht,
bekommt hier zur Musik von Philipp Glass
eine dramatisch dunkle Farbe. Schicksal
oder Zufall? Und was sagen die Karten?
Hoch über allem Menschlichen thronen
Herzdame und Herzkönig, warnen in
drastischer Gestensprache, während zu
ihren Füssen die irdischen Wesen wuseln
und der Joker (intensiv: Arman Grigoryan)
um seine Freiheit ringt. Mag die Bedeutung des Geschehens abgehoben sein, der
Pas de deux zwischen William Moore und
Katja Wünsche vermittelte sich direkt:
weiche Geschmeidigkeit und höchste
Spannung in einem.
nierung von Oliver Stein das nötige
Tempo. Während zur Rechten der cholerische Kleinkriminelle Ronny (André
Ilg) den in einer erheiternden Szene aus
der Wohnung von Bergmann geklauten
Monet zu verhökern versucht, serviert
die Beklaute zur Linken chinesischen
Tee und stellt indiskrete Fragen zu Sophies Liebesleben.
Unplausibel ist nur, wie sich Sophie
über den Monet-Diebstahl ihres Freundes enerviert, aber dann doch nicht
eigenhändig eingreift. Letztlich umschifft Regisseur Stein in seiner kurzweiligen und grösstenteils glaubwürdigen
Inszenierung aber geschickt das Farcenhafte oder den Kitsch, was im Prinzip
beides im Stück angelegt wäre.
Tanzen am Schneehang
Ein dreifacher Hochgenuss:
Das Ballett Zürich begeistert
am Opernhaus mit drei
abstrakten Werken zwischen
Traum und Albtraum.
Maya Künzler
Für ein Ballettstück einen Titel zu finden,
kann schwierig sein. Noch schwieriger ist
es manchmal, diesen zu deuten. Im Falle
von William Forsythes «New Sleep» ist ein
solcher Versuch müssig. Denn dieses
Stück von 1987 ist eine wahre Wunderkiste, frisch und zeitlos, mit viel Augenzwinkern. Eine Frau und zwei Männer in
Spitz- und Doktorhüten staksen gestelzt
über die Bühne, treiben um eine Topfpflanze allerlei alchemistisches Brimbo-
rium, vermessen mit einem Meterstab
Unsichtbares, experimentieren und beschwören gestisch expressiv. Um das surreale Trio wirbeln zwölf Tänzer (die Tänzerinnen auf Spitze) in rasantem Tempo
zur Musik von Thom Willems.
«New Sleep» spielt mit harten Helldunkelkontrasten, wirft harte Linien in
den Raum, die sich im nächsten Moment
schon in Zwielicht aufgelöst haben. Wie
die Tänzer die Hüften ausdrehen und
konsequent die gerade Linie aufbrechen,
ist ein Hochgenuss. Selbst der Meterstab
vibriert wie eine Wünschelrute in der Luft
und knickt ab; Bowlingkugeln rollen gefährlich über die Bühne und fordern von
den Tänzern höchste Flexibilität. Und die
bringt das Ballett Zürich mit.
In Edwar Clugs Uraufführung «Hill
Harper’s Dream», dem zweiten Kurz-
Ausser Kontrolle
Warum zwei Tänzerinnen stattdessen
hautfarbene Strumpfhosen tragen und
dabei wie unten noch unbekleidete
Schaufensterpuppen aussehen? Das hat
wohl mit dem (alb)traumartigen Charakter des Stücks zu tun: Die Figuren wirken fremdgesteuert, die Handlung
scheint ausser Kontrolle. Der gebürtige
Rumäne Edwar Clug, seit zehn Jahren
künstlerischer Leiter des Slowenischen
Nationalballetts in Maribor, hat mit seinem Schweizer Einstand eine bestechende, bildstarke Arbeit vorgelegt.
Herunterladen