Staatsrat des Kantons Freiburg Der Präsident Freiburg, 15. Januar 2010 (Embargo bis Freitag, 15. Januar, 18 Uhr. Es gilt das gesprochene Wort) Zukunft entsteht aus Krise: Vernünftige Langzeitrechner benötigen wir! Ansprache von Beat Vonlanthen Staatsratspräsident anlässlich der protokollarischen Neujahrswünsche an die zivilen und kirchlichen Behörden des Kantons Freiburg Freiburg, den 15. Januar 2010 Sehr geehrte Frau Grossratspräsidentin, Sehr geehrter Herr Präsident des Kantonsgerichts, Ihre Exzellenz, Sehr geehrte Herren Generalvikare, Sehr geehrte Herren Bischofsvikare, Sehr geehrter Herr Propst des Domkapitels St. Nikolaus, Sehr geehrter Herr Bistumskanzler, Sehr geehrte Präsidenten der Versammlung und des Exekutivrats der katholischen kirchlichen Körperschaft, Sehr geehrte Herren Präsidenten der Synode und des Synodalrats der evangelisch reformierten Kirche, Sehr geehrte Frau Vize-Präsidentin des Synodalrats, Herr Kanzler, Sehr geehrter Vertreter der israelitischen Gemeinde, Herr Vizepräsident des Staatsrats, Sehr geehrte Staatsrätinnen und Staatsräte, liebe Kolleginnen und Kollegen, Frau Staatskanzlerin, Frau Generalsekretärin, Herr Vizestaatskanzler, Frau Chefgerichtsschreiberin, Meine sehr verehrten Damen und Herren, Es ist eine grosse Ehre und Freude für mich, Sie zu diesem traditionellen Neujahrsempfang ganz herzlich zu begrüssen und willkommen zu heissen. Ich bin glücklich, in einem Kanton zu leben, in dem die Tradition der gegenseitigen Glückwünsche der zivilen und religiösen Behörden Bestand hat, in dem zu Beginn eines Jahres ein Marschhalt gemacht wird, um grundsätzlich nachzudenken über die aktuelle Zeit, um auch zu überlegen, wie die verantwortlichen Behörden den Kompass im laufenden Jahr bei der Erfüllung ihrer anspruchsvollen Aufgaben ausrichten sollen. I Im vergangenen Jahr war viel von Krise die Rede. Der bekannte amerikanische Nobelpreisträger Joseph Stiglitz spricht von zwei grossen Krisen, mit denen wir zu kämpfen haben: nämlich der Finanzkrise, die eine weltweite Wirtschaftskrise auslöste, und auch die wohl noch tiefere und nachhaltigere Klimakrise. Die Welt, die zum Dorf geworden ist, spürt diese Krisen bis in die feinsten Verästelungen, auch in unserem Kanton. Als Teil dieses Schiffs, das Welt heisst, sind auch wir Freiburgerinnen und Freiburger direkt angesprochen und sind zum Handeln aufgerufen: „Think globally, act locally!“ Denke global, weltweit, aber handle lokal, d.h. in deiner Einflusszone. Krise bedeutet immer auch Chance. Nicht von ungefähr kennen die Chinesen für Krise und Chance das gleiche Zeichen. Wir sind daher auch nicht überrascht, dass der Titel eines soeben erschienenen Buchs „Zukunft entsteht aus Krise“ heisst1. Sogar der Abt von Altenryf hat mit einem Augenzwinkern dem Staatsrat zu Beginn des letzten Jahres eine “gute Krise” gewünscht, denn es ist wichtig, dass die Gelegenheit der Krise wahrgenommen wird als Chance für den Wandel zum Besseren. Wir leben in einer lernenden Gesellschaft und da ist es angezeigt, nicht auf ausgetretenen Pfaden weiterzuwandeln, sondern neue, unbekannte Wege auszutesten. “Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern, und die andere Windmühlen” sagt ein altes chinesisches Sprichwort. Und gerade diese Öffnung scheint mir sehr wichtig zu sein. Nutzen wir also den Wind des Wandels, um ihn in positive Energie umzuwandeln! Als Behörden im Staat, sei es in der legislativen, der richterlichen oder der exekutiven Gewalt, aber auch in den Religionsgemeinschaften, müssen wir unsere Verantwortung wahrnehmen und der Bevölkerung auch eine ethische Orientierung des Handelns vermitteln. 1 Geseko v. Lüpke, Zukunft entsteht aus Krise, Verlag Riemann, München, 2009 II Im vergangenen Jahr mussten wir uns namentlich mit einer relativ heiklen Frage auseinandersetzen: nämlich mit dem Volksentscheid über das Minarettverbot. Staatliche Behörden und die Kirchen plädierten im Sinne einer ausgeprägten Toleranz für eine Ablehnung dieser Initiative, die elementaren Menschenrechtsgrundsätzen widerspricht. Der Bundesrat entschied sich, diese Initiative trotzdem dem Volk zum Entscheid zu unterbreiten. Und das politische „Establishment“ musste nach der Volksabstimmung zur Kenntnis nehmen, dass es sich grundlegend verkalkuliert hatte. Was müssen wir daraus lernen? Namentlich drei Punkte: − Erstens: An einem Volksentscheid gibt es nichts herumzudeuteln und zu korrigieren. In einer Demokratie hat immer die Mehrheit das Sagen. − Zweitens: In Zukunft ist es absolut unentbehrlich, dass eine minutiöse Analyse der Kompatibilität mit übergeordnetem Recht vorgenommen wird. Es dürfen nur Initiativen zur Abstimmung gebracht werden, die nicht gegen übergeordnetes internationales Recht, namentlich nicht gegen Menschenrechtsbestimmungen verstossen. − Drittens: Wir müssen die Ängste und Befürchtungen der Bevölkerung ernst nehmen. Toleranz ist nur dann möglich, wenn die Bevölkerung frei von Angst ist und so mit Offenheit dem Anderen gegenüber treten kann. Klaus Schwab2 diagnostiziert richtig, wenn er sagt: „Wir müssen heute in einer Generation so viel Wandel bewältigen, wie es früher in drei, vier Generationen der Fall war. Viele Leute fühlen sich dadurch überfordert. Daraus ergibt sich, psychologisch oder soziologisch gesprochen, eine Bunkermentalität.“ Die politischen Behörden müssen in der Lage sein, gerade diesen Wandel konstruktiv zu begleiten und auch abzufedern. Ganz besonders wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang zu sein, dass unsere Bevölkerung zu mehr Selbstsicherheit und einem gesunden Selbstbewusstsein findet. So ist es mir ganz wichtig, dass wir uns mit Überzeugung zu unseren christlichen Wurzeln bekennen können. Nur so kann unsere Bevölkerung mit Toleranz anderen Religionen gegenüber treten und sie mit offenen Armen empfangen. 2 Interview im SonntagsBlick Magazin vom 3.1.2010, S. 21 Die Rückbesinnung auf die zentralen christlichen Werte, die auch in einer zivilen Gesellschaft nach wie vor eine grosse Bedeutung haben (müssen), ist ein wichtiger Orientierungspunkt für das politische Handeln, in dem die Ethik von immer grösserer Bedeutung ist. III Die beiden Krisen – die Wirtschaftskrise und die Klimakrise – rufen nach einer neuen Ethik und einem ethischen Ansatz des Handelns eines jeden einzelnen von uns. Es geht einerseits darum, den Blick auf die Kurzfristigkeit, den egoistischen Blick auf die stete private Gewinnmaximierung zu öffnen auf die Fragen und Bedürfnisse der Gemeinschaft. Gerade in dieser Situation braucht es Orientierung. Der Staat und die Politik sind natürlich angesprochen, aber auch und vor allem die Akteure in der Wirtschaft. In einem Interview3 gab der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk ein paar interessante und provokative Gedanken zur Finanzkrise preis, die der Wirtschaftskrise zugrunde liegt. Er sagte insbesondere: « Wir lebten in einer Frivolitätsphase. Das Menschenrecht auf Leichtsinn lässt sich zu keiner Zeit unterdrücken. Der Mensch verhält sich so gut wie nie als vernünftiger Langzeitrechner. » Ich glaube, dass Sloterdijk mit dieser Analyse im Grunde Recht hat. Der Mensch muss seine Frivolität ablegen, die durch unsere Lebensweise ein Ausmass angenommen hat, das immer schwerere Folgen für unsere Welt haben wird. Er muss stattdessen seinen Nachhaltigkeitssinn pflegen. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft müssen hier mit gutem Beispiel vorangehen und so Vertrauen schaffen. Vernünftige Langzeitrechner benötigen wir! Und zwar nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Politik. Roger de Weck4 plädiert für einen nachhaltigen Kapitalismus, der „den Eigennutz auf soziale und ökologische Ziele statt allein auf das Gewinnziel“ lenkt. Der Theologe Hans Küng betont5: „Eine um die ökologische Ausrichtung ergänzte soziale Marktwirtschaft ist das einzige System, das auf Dauer funktionieren kann.“ Und damit sind wir bei der zweiten Krise nämlich der Klimakrise angelangt. Gerade auch hier ist es unabdingbar, dass sich die Staaten, die Regionen, die Kantone, die Gemeinden, ja alle Bewohner dieses Kantons bewusst werden, wie wichtig es ist, im Sinne unserer neuen Kantonsverfassung zu handeln , nämlich „im Bewusstsein unserer Verantwortung gegenüber den zukünftigen Generationen“. Es geht darum, den 3 NZZ vom 29/30.11.2008, S. 47 : «Wir lebten in einer Frivolitätsepoche » Roger de Weck, Nach der Krise, München 2009 5 Die Zeit, 30. Dezember 2009, S. 24 4 Weg zur nachhaltigen Entwicklung zu öffnen und zielgerichtet unseren Kanton in diese Richtung zu entwickeln. Eine moralisch-ethische Rahmenordnung muss sowohl die wirtschaftliche wie auch die politische und staatliche Ordnung stützen. IV Zum Schluss will ich Ihnen allen und der Freiburger Bevölkerung die herzlichsten Glückwünsche für ein glückliches und gesegnetes neues Jahr übermitteln. Es ist mir ein besonderes Anliegen, Ihnen allen gute Gesundheit zu wünschen. Ganz speziell wünsche ich Monseigneur Bernard Genoud, unserem lieben Bischof, viel Kraft und Mut, die Prüfung zu erdulden, die ihm seine Erkrankung auferlegt, und wünsche ihm baldige Genesung und Besserung. Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Der Präsident des Staatsrates Beat Vonlanthen