Hofrat Prof. Dr. med. Helmut Madersbacher: Diagnostik von

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Hofrat Prof. Dr. med. Helmut Madersbacher: Diagnostik von Harnblasenfunktionsstörungen bei neuronale
14. Bamberger Gespräche 2010: Blase und Gehirn
Diagnostik von Harnblasenfunktionsstörungen bei
neuronalen Erkrankungen aus Sicht des Urologen
Hofrat Prof. Dr. med. Helmut Madersbacher
Bamberg (4. September 2010) - Die Funktionstüchtigkeit jener Areale im Gehirn,
die Detrusor und Sphinkter kontrollieren, sowie eine intakte Signalübermittlung
sind die Voraussetzung, dass wir unsere Blase willkürlich, am geeigneten Ort, zur
geeigneten Zeit, zügig und restharnfrei entleeren können und zwischen den
Miktionen kontinent bleiben. Zerebrale, spinale und periphere Läsionen jener
Nervenstrukturen, die den unteren Harntrakt innervieren, bewirken
unterschiedliche Läsionsmuster mit unterschiedlichen klinischen Symptomen und
unterschiedlichen Folgen für den Harntrakt. Abhängig von der Lokalisation und
dem Ausmaß der Läsion können Detrusor und Sphinkter entweder überaktiv oder
„unteraktiv“ werden, die Läsionsmuster von Detrusor und Sphinkter können
gleichartig oder unterschiedlich sein, mitunter kann auch nur der Detrusor, nicht
aber der Sphinkter und umgekehrt, von den Auswirkungen der Läsion betroffen
sein.
Es ist nach wie vor ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Erfassung neurogener
Blasenstörungen (n.B.) nur mit Hilfe aufwendiger Apparaturen möglich ist. Dies
mag für spezielle Fragestellungen zutreffen, für die Diagnose als solche,
zumindest aber für die Verdachtsdiagnose sind die gezielte Anamnese und die
exakte klinische Untersuchung Hilfsmittel, die uns allen zur Verfügung stehen. Sie
sind richtungsweisend und die Basis für die ggfs. notwendige
(video-)urodynamische Untersuchung.
Daher werden im ersten Teil (1) einige spezielle Aspekte bei der Anamnese sowie
bei der klinischen Untersuchung und im zweiten Teil (2) jene diagnostischen
Möglichkeiten besprochen, die eine Aussage darüber erlauben, ob und inwieweit
bestehende Harntraktssymptome und –befunde wie imperativer Harndrang,
Harninkontinenz, Restharn, durch eine vorliegende zerebrale Erkrankung (IPS,
MSA, Schlaganfall, Demenz) oder/und durch eine Co-Morbidität (Prostata,
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Blasensenkung) verursacht sind und welche therapeutischen Konsequenzen sich
daraus ergeben. Prinzipiell hängt das Ausmaß der diagnostischen Maßnahmen
davon ab, ob und welche therapeutischen Konsequenzen möglich sind.
(1) ANAMNESE UND KLINISCHER BEFUND
Anamnese
Sie sollte bei Verdacht auf n.B. neben den Miktionsgewohnheiten auch die
Stuhlgewohnheiten und die Vita sexualis erfassen. Diese drei Fragenkomplexe
bringen häufig sich ergänzende Informationen, da die entsprechenden Bahnen
und Zentren diese Funktionen zum Teil identisch, zum Teil eng benachbart sind.
Die Miktionsanamnese muss klären, ob Harndrang verspürt, Harndrang
kontrollierbar und Gefühl für die bevorstehende und die in Gang befindliche
Miktion vorhanden sind. Das Fehlen des Harndrangs bei entsprechender
Blasenfüllung ist ein sicheres Zeichen dafür, dass die Perzeption des
Füllungszustandes zentral oder peripher gestört ist (typisches Beispiel Diabetes
mellitus). Mitunter wird anstelle des Harndrangs lediglich ein suprapubisches
Völlegefühl, das durch peritoneale Dehnungsreize vermittelt wird, verspürt. Dieses
wird für Betroffene zum modifizierten Harndrang. Die Frage „Spüren Sie
Harndrang?“ wird zunächst mit „ja“ beantwortet, erst durch gezieltes Fragen wie
„Verspüren Sie den Harndrang so wie früher oder hat sich daran etwas
geändert?“ gelingt es zwischen Harndrang und suprapubischem Völlegefühl zu
differenzieren und eine Störung afferenter Nervenbahnen, z.B. im Rahmen einer
partiellen peripheren Denervierung nach Eingriffen im kleinen Becken, zu
erfassen.
Mangelhafte oder fehlende Kontrolle über die Harnblase führt zum imperativen
Harndrang bzw. zur Dranginkontinenz. Sie sind durch Läsionen jener Zentren und
Bahnen im zentralen Nervensystem, zerebral oder spinal, verursacht, die
normalerweise den Miktionsreflex kontrollieren, modulieren und entsprechende
Impulse weiterleiten. Beeinträchtigungen der zentralen Hemmung führen zu
Pollakisurie und Nykturie. Ein Blasentagebuch, über zwei Tage und Nächte
geführt, informiert über Miktionszeit, Miktionsvolumen, Kontinenz bzw. Inkontinenz
und bei Verwendung eines entsprechenden Scores auch über die Intensität des
imperativen Dranges. Kommt die Miktion nur durch Betätigung der Bauchpresse
zustande, muss man bei Fehlen einer Obstruktion in erster Linie an eine
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Schädigung im Sakralmark oder peripher davon denken.
Die Angabe „Ich kann den Harn nicht halten“ lässt sich nur bis zu einen gewissen
Grad in Zusammenhang mit den anderen Symptomen klinisch differenzieren, den
endgültigen Beweis einer detrusor- oder/und sphinkter-bedingten Inkontinenz
bringt die urodynamische Untersuchung.
Stuhlgewohnheiten
Ähnlicherweise fragen wir nach den Stuhlgewohnheiten. Diese Empfindungen
sind komplex und werden nur verspürt, wenn autonome und somatische Nerven
mit den jeweilig übergeordneten Zentren zusammenspielen. Sind diese
Empfindungen gestört, stützen sie den Verdacht auf eine n.B.
Sexualanamnese
Aus Scheu in die Intimsphäre einzudringen, Tabus zu berühren, den Patienten in
eine peinliche Lage zu bringen, wird nach der Vita sexualis meist oberflächlich,
halb oder gar nicht gefragt, obwohl gerade sie wichtige Informationen über das
vorliegende Schädigungsmuster liefern kann. Sind Erektionen vorhanden? Wie
kommen sie zustande? Psychogen, reflektorisch über taktile Reize oder spontan?
Sind Ejakulationen vorhanden? Wird der Samen ausgestoßen oder handelt es
sich nur um ein Ausfließen von Samen?
Klinische Befunde
Unerlässlich ist die Rektaluntersuchung sowohl beim Mann als auch bei der Frau.
Die Fähigkeit zur willkürlichen Kontraktion und Relaxation des analen Sphinkters
zeigt, dass intakte sakrale Segmente unter Kontrolle des Großhirns stehen, ein
wichtiger Befund für die Prognose zur Rehabilitation bei z.B. zerebraler
Inkontinenz. Gleichzeitig muss der Tonus des Sphinkter ani evaluiert (mitunter
erkennt man bereits am verstrichenen Anus und der fehlenden Crena ani den
herabgesetzen oder fehlenden Sphinktertonus), die Prostata beurteilt, sowie auf
Stuhlimpaktion und Knochenanomalien (Austastung der Kreuzbeinhöhle) geachtet
werden.
Der Bulbocavernosusreflex ist dann positiv, wenn sich bei Kompression von Glans
oder Klitoris oder bei Zug an einem liegenden Dauerkatheter der Sphinkter ani
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bzw. der M.bulbocavernosus kontrahieren. Da dieser Reflex durch die Nervi
pudendi vermittelt, über die Segmente S2-S4 läuft, kann damit die
somatomotorische Aktivität des Sphinkterkomplexes geprüft werden. Allerdings
fehlt dieser Reflex bei etwa 30 % der Älteren, obwohl keine Nervenschädigung
fassbar ist. Darüber hinaus sollten die sakralen Dermatomen S2-S4, die in
Steinschnittlage besonders gut zugängig sind, auf Berührungs- und
Schmerzempfindung überprüft werden. Defekte machen eine neurogene Ursache
einer bestehenden Blasenentleerungsstörung wahrscheinlich.
Zur Basisdiagnostik bei Verdacht auf n.B. gehören weiters die Harnuntersuchung
und die Restharnevaluierung, wobei weniger der absolute Wert, als vielmehr das
Verhältnis zwischen funktioneller Blasenkapazität und Restharn klinisch
bedeutsam ist. Restharn über 30 % der Blasenkapazität bzw. wesentlich über 100
ml kann Harnwegsinfektionen verursachen bzw. unterhalten.
(2) IMPERATIVER DRANG, HARNINKONTINENZ, RESTHARN –
NEUROGEN-ZEREBRAL ODER DURCH CO-MORBIDITÄT VERURSACHT?
Symptome des unteren Harntraktes bei zerebralen Erkrankungen können, aber
müssen nicht Folge davon sein, sie können auch nicht-neurogene Uraschen
haben.
Idiopathisches Parkinsom-Syndrom (IPS) und Miktionsbeschwerden bei
vergrößerter Prostata
Beim Mann mit idiopathischem Parkinsom-Syndrom (IPS) und
Miktionsbeschwerden bei vergrößerter Prostata stellt sich die Frage, wer was
verursacht und wie therapeutisch vorgegangen wird, insbesondere, wenn die
konservative Behandlung einer vermutlichen infravesikalen Obstruktion nicht greift
und ein operativer Eingriff zur Diskussion steht. Das Wissen über die zugrunde
liegende Pathophysiologie, die Anamnese, der klinische Befund und die
urodynamische Untersuchung zusammen ermöglichen mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine Zuordnung der Symptome und Befunde: bei IPS sind
Symptome des unteren Harntraktes eher ein Spätsymptom, sie nehmen mit der
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Dauer und der Schwere der Erkrankung zu, eine Detrusorüberaktivität ist häufig
(50-93 %), die Blasenkapazität kann, aber muss nicht erniedrigt sein, das gleiche
gilt für die Detrusorkontraktilität. Der glattmuskuläre Sphinkter reagiert im
allgemeinen synerg, ebenso der quergestreifte Schließmuskel, allerdings kann
eine Pseudodyssynergie (Sphinkterkontraktion zur Verhinderung des drohenden
Harnabgangs), weiters eine Bradykinesie des Sphinkters und eine verminderte
Willkürkontrolle über den Sphinkter zur funktionellen Obstruktion in Höhe des
Beckenbodens führen. Die urodynamische Untersuchung dokumentiert die
Detrusorüberaktivität und kann aufgrund der Druck-Fluss-Situation eine
Obstruktion aufdecken, das begleitende EMG bzw. eine video-urodynamische
Untersuchung die Situation am Beckenboden klären. Die Chancen durch eine
TUER-P zwar die Obstruktion zu beseitigen, aber eine Inkontinenz zu verstärken
bzw. zu induzieren ist gering, wenn die Fähigkeit zur Kontraktion des Sphinkter
ani erhalten ist.
Mitunter weist der Neurologe unter der Diagnose IPS PatientInnen mit
Miktionsstörungen zu, wobei diese etwa gleichzeitig, mitunter sogar noch vor der
neurologischen Symptomatik aufgetreten sind. Es finden sich Symptome der
überaktiven Blase, gleichzeitig besteht Restharn und unfreiwilliger Harnabgang,
der anale Sphinktertonus ist deutlich erniedrigt, die Willkürkontraktion des
Sphinkter ani beeinträchtigt. Diese urologischen Symptome sind typisch für die
Multi-System-Atrophie (MSA). Die urodynamische Untersuchung zeigt meist einen
überaktiven, kontraktionsschwachen Detrusor und videographisch findet sich
häufig ein offener Blasenhals als Indiz für eine sympathikotone
Regulationsstörung, dieser Befund spricht daher für MSA und gegen IPS..
Inkontinenz bei MSA kann demnach mehrere Ursachen haben, (1) eine
Detrusorüberaktivität, (2) eine Überlaufinkontinenz infolge chronischer
Harnverhaltung und (3) eine Schwäche eines Blasenverschlusses. Auch wenn
eine vergrößerte, möglicherweise obstruierende Prostatavergrößerung vorliegt,
sind bei MSA Alphablocker kontraindiziert. Das gleiche gilt für eine operative
Intervention, da sie die Situation, insbesondere was die Inkontinenz anlangt,
weiter verschlechtern kann. Im übrigen beklagen 90 % der MS-Patienten eine
erektile Dysfunktion, deutlich häufiger als bei IPS, bei dem die Prävalenz einer ED
allerdings noch wenig systematisch erforscht ist.
Schlaganfall
Der Schlaganfall bewirkt ebenfalls Symptome der überaktiven Blase, die
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Koordination zwischen Detrusor und Sphinkter bleibt im Allgemeinen erhalten,
wenngleich die Kraft der Sphinkterkontraktion nachlassen kann.
Differentialdiagnostische Probleme ergeben sich beim Mann mit obstruierender
Prostatavergrößerung und Restharn bei gleichzeitig bestehenden Symptomen der
überaktiven Blase, insbesondere, ob diese Symptome neurogen-zerebral oder
durch die Obstruktion bedingt sind. Bei Nichtansprechen auf konservative
Maßnahmen zur Behandlung des Prostataleidens ergibt sich wieder die Frage, ob
durch die operative Beseitigung der Obstruktion die Symptome der überaktiven
Blase abklingen, gleichbleiben oder sich verstärken bzw. zur Dranginkontinenz
führen. Eine urodynamische Untersuchung ist dann indiziert, wenn der Restharn
über 50 % der Blasenkapazität liegt. Die urodynamische Untersuchung kann auch
zur Differentialdiagnose hilfreich sein, da das Bild einer phasischen
Detrusorüberaktivität eher für eine nicht-neurogene, eine terminale
Detrusorüberaktivität für die neurogen zerebrale Genese der Detrusorüberaktivität
spricht. Im übrigen sind Männer mit Detrusorüberaktivität nicht-neurogener
Genese weniger inkontinent als solche mit neurogener Genese.
Demenz und Inkontinenz
Demenz und Inkontinenz sind „geriatrische Geschwister“, allerdings ist nicht jede
Gedächtnisstörung eine Demenz und nicht jede Inkontinenz durch eine
Detrusorüberaktivität verursacht. Hilfreich bei der Differentialdiagnose der
verschiedenen Demenzformen ist die Tatsache, dass der Zeitpunkt des Auftretens
von Harntraktsymptomen, insbesondere einer Inkontinenz, unterschiedlich ist. Bei
der Alzheimer´schen Demenz kommt es erst mit zunehmender Beeinträchtigung
und Hirndegeneration, im mittleren oder späten Stadium zur zerebralen
Inkontinenz: Harndrang wird nicht mehr wahrgenommen, die Blasenentleerung ist
nicht steuerbar und darüber hinaus ist die Inkontinenz für den Betroffenen auch
kein beeindruckendes Ereignis. Im Frühstadium der Erkrankung auftretende
Miktionssymptome sind deshalb im Allgemeinen einer Co-Morbidität zuzuordnen
und dementsprechend behandelbar. Zu beachten sind auch die eingenommenen
Medikamente, insbesondere die Cholinesterasehemmer, die Symptome einer
überaktiven Blase induzieren bzw. eine Dranginkontinenz auslösen können. Die
Tatsache, dass die Prävalenz von Symptomen einer überaktiven Blase,
insbesondere der imperative Drang und Dranginkontinenz bei Levy-Body-Demenz
deutlich höher ist als bei IPS und Alzheimererkrankung, kann bei der für den
Neurologen mitunter schwierigen Differentialdiagnose dieser Krankheitsbilder
hilfreich sein.
Spezielle diagnostische Untersuchungen
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Spezielle diagnostische Untersuchungen wie der Eiswassertest, der sog.
„Doryl“-Test“, elektrodiagnostische und elektroneurophysiologische
Untersuchungen (das Evozieren von cortikalen Potentialen durch elektrische
Stimulation des Blasenhalses zur Testung der Funktionsfähigkeit der afferenten
Bahnen) werden in Zentren nur bei ganz bestimmten Fragestellungen angewandt.
ZUSAMMENFASSUNG
Anamnese, klinische Untersuchung inkl. Harnuntersuchung, Blasentagebuch und
Restharnbestimmung sind die Grundlage für den Nachweis bzw. Ausschluss einer
neurogenen Blasenentleerungsstörung. Insbesondere bei älteren Menschen
können bestehende Co-Morbiditäten zu ähnlichen oder denselben Symptomen
wie die neurogene Störung führen, wobei eine ergänzende urodynamische
Untersuchung diesbezüglich zur Differentialdiagnose hilfreich sein kann. Das
Ausmaß der Diagnostik hängt von der Grunderkrankung, den
Therapiemöglichkeiten und den Therapiechancen ab und muss individuell
beurteilt werden. Zur Basisdiagnostik sind keine speziellen Apparatauren
notwendig, zur weiterführenden Abklärung ist eine video-urodynamische
Untersuchung das Mittel der Wahl, die Anwendung spezieller Tests ist nur bei
bestimmten (wenigen) Fragestellungen notwendig.
Quelle: 14. Bamberger Gespräche 2010 der Firma Dr. Pfleger zum Thema „Blase
und Gehirn“ am 04.09.2010 (tB).
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