Sechster Sinn für Fettiges

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48 FORSCHUNG UND TECHNIK
Mittwoch, 30. Juli 2014 V Nr. 174
Sechster Sinn für Fettiges
Auch für den Fettgeschmack scheinen Menschen Rezeptoren auf der Zunge zu haben
Wie nehmen wir Geschmäcker
wahr? Darüber ist längst noch
nicht alles bekannt. Nach
gängiger Lehrmeinung erzeugen
der Geruchs- und der Tastsinn
den Fettgeschmack. Dies
scheint jedoch nur die halbe
Wahrheit zu sein.
dagegen nicht fündig geworden. Dies ist
Behrens’ Team nun aber gelungen. «Die
Lipasen sind im Gesamtspeichel nicht
nachweisbar, sondern werden offensichtlich lokal in der Nähe der Geschmacksknospen ausgeschüttet», sagt
Koautor Thomas Hofmann von der
Technischen Universität München. Daher seien sie erst jetzt entdeckt worden.
Die Forscher wiesen die fettspaltenden Enzyme nun direkt auf der Zungenoberfläche nach. Dazu legten sie Probanden Filterplättchen auf die Zunge,
die mit Triolein – dem Triglycerid der
Ölsäure – getränkt waren. Nach spätestens zweieinhalb Minuten wurden die
Plättchen wieder entfernt und analysiert. Auf den Filtern fand sich umso
mehr freie Ölsäure, je länger sie auf der
Zunge verblieben waren – die Lipasen
hatten mehr Zeit, um das Fett zu zerlegen. Waren die Filter zusätzlich mit
einem Lipase-Hemmstoff getränkt, verlief der Abbau deutlich langsamer. Weitere Untersuchungen zeigten, dass die
Enzyme in direkter Nähe zu den Geschmacksknospen gebildet werden.
Elke Maier
Ob es an dem köstlichen Geschmack,
dem unwiderstehlichen Duft oder der
angenehmen Konsistenz liegt, dass wir
Lust auf Fettiges haben, dürfte den
meisten von uns egal sein – wir essen es
einfach. Für Wissenschafter aber tut
sich hier ein ergiebiges Forschungsfeld
auf. Denn wie Schmecken funktioniert,
ist längst noch nicht verstanden. Bis anhin steht noch nicht einmal fest, wie
viele Geschmacksqualitäten wir wahrnehmen können. Als gesichert gelten
fünf – süss, sauer, salzig, bitter sowie das
herzhaft-fleischige Umami. Umstritten
ist dagegen, ob es auch einen «sechsten
Sinn» für fettig gibt. Nach gängiger
Lehrmeinung sind für die Fettwahrnehmung vor allem der Geruchs- und der
Tastsinn zuständig, die auf das Aroma
und die Beschaffenheit fetthaltiger
Nahrung ansprechen. Nun mehren sich
aber die Hinweise, dass Menschen auch
für Fette Geschmacksrezeptoren haben.
Nach Molekülen angeln
Am Geschmackssinn sind beim Menschen einige tausend Geschmacksknospen beteiligt. In Gruppen sitzen diese
vor allem auf der Zunge. Sie bestehen
jeweils aus mehreren länglichen Sinneszellen, die ähnlich angeordnet sind wie
die Schnitze in einer Orange. Lange Zeit
nahm man an, dass bestimmte Areale
auf der Zunge für die einzelnen Geschmacksqualitäten zuständig sind –
etwa die Zungenspitze für süss. Tatsächlich aber gibt es überall Knospen mit
Sinneszellen für jeden Geschmack und
lediglich geringe Unterschiede in der
Empfindlichkeit.
Die Geschmacksrezeptoren sind in
die Wand der Sinneszellen eingebettet
und angeln im Speichel nach vorbeitreibenden Geschmacksmolekülen. Dockt
ein Molekül an den passenden Rezeptor
Lipasen sorgen für Geschmack
Aus evolutionsbiologischer Sicht essen wir gern fettige Kost, weil sie kalorienreich ist und uns für karge Zeiten rüstet. FRANK SORGE / CARO
an, sendet die Zelle ein Signal aus, das
über Nervenbahnen ans Gehirn weitergeleitet wird und dort das entsprechende Geschmackserlebnis erzeugt. Dazu
trägt allerdings auch der Geruch bei.
Der Geschmackssinn sorgt für Genuss, ist aber vor allem für die Qualitätskontrolle der Nahrung wichtig. Er ermöglicht, Essbares von Ungeniessbarem oder gar Giftigem zu unterscheiden. Toxische Pflanzen oder Verdorbenes schmecken oft bitter oder sauer.
Süss und Umami stehen dagegen für
Kohlenhydrate beziehungsweise Proteine und versprechen Energie. Sie verführen zum Essen. Dies war einmal ein evolutionärer Vorteil – als Nahrung noch
eine knappe Ressource war. Daher
scheint es naheliegend, dass Menschen
auch einen Sinn für das besonders gehaltvolle Fett haben sollten.
Bei Mäusen hatten Forscher um Philippe Besnard von der Université de
Bourgogne in Dijon bereits im Jahr
2005 einen Geschmacksrezeptor für
Fett beschrieben. Im Versuch verglichen
sie das Fressverhalten normaler Mäuse
mit dem von Artgenossen, denen der
Rezeptor namens CD36 aufgrund einer
Mutation fehlte. Dabei zeigte ausschliesslich die erste Gruppe eine Vorliebe für fettreiche Kost. Die mutierten
Nager hingegen frassen gleich viel fetthaltiges und fettarmes Futter – sie
schmeckten offenbar keinen Unterschied. Mittlerweile wurden bei Nagetieren verschiedene solcher Fett-Sensoren gefunden.
Forscher unter der Leitung von Maik
Behrens vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke (Dife) begaben sich daraufhin beim
Menschen auf die Suche. Sie fahndeten
gezielt nach dem GPR120-Rezeptor,
der von Mäusen bekannt war und zudem im menschlichen Magen-Darm-
Trakt vorkommt. Dort ist er am Fettstoffwechsel beteiligt. Mithilfe molekularer Methoden identifizierten die Forscher GPR120 erstmals auch im Mund.
Ausserdem fanden sie heraus, dass der
Rezeptor auf langkettige Fettsäuren reagiert. In Geschmackstests waren das
genau diejenigen Stoffe, die den typischen Fettgeschmack hervorriefen. Diese Ergebnisse wurden 2011 publiziert.
Unklar war allerdings noch, wie die
Fettsäuren aus der Nahrung freigesetzt
werden. Denn bei Nahrungsfetten handelt es sich meist um Triglyceride. Sie
bestehen aus einem Glycerinmolekül,
an dem drei Fettsäuren hängen. Diese
sperrigen Verbindungen können an die
Rezeptoren nicht andocken. Daher sind
Enzyme notwendig, um die Bindung
zwischen dem Glycerin und seinen Fettsäureanhängseln aufzubrechen. Im
Mäusespeichel kommen solche Lipasen
reichlich vor; beim Menschen war man
Eine Fettverkostung ergab, dass die Lipasen tatsächlich für das Geschmackserlebnis «fettig» erforderlich sind: Probierten die Versuchsteilnehmer Triolein
zusammen mit dem Lipase-Hemmer, so
nahmen sie den Geschmack schwächer
wahr. Ausserdem gab es Personen, die
für den Fettgeschmack empfindlicher
waren als andere. Bei ihnen waren die
fettspaltenden Enzyme besonders aktiv.
Ob manche Menschen deswegen besonders viel Fett essen, weil sie den Geschmack erst bei höheren Konzentrationen registrieren, ist derzeit noch offen.
«Denkbar wäre auch der umgekehrte
Fall, nämlich dass der Geschmackssinn
durch hohe Fettzufuhr mit der Zeit
nachlässt», sagt Hofmann.
Der endgültige Beweis für den sechsten Sinn steht ebenfalls noch aus. Um
diesen zu erbringen, müssen die Forscher die Sinneszellen mit den Fettrezeptoren nachweisen und zeigen, dass
deren Signale ans Gehirn weitergeleitet
werden, wo sie das Geschmackserlebnis
«fettig» hervorrufen. Diesen Nachweis
hat man für die fünf anderen Geschmacksqualitäten bereits erbracht.
Als Letztes im Jahr 2002 für Umami.
Die Unschärfe unseres Gedächtnisses
Wie das Gehirn aktualisiert und was das für Konsequenzen hat
Eine Erinnerung wird bei jedem
Abrufen für kurze Zeit instabil.
Dadurch kann das Gedächtnis
aktualisiert werden, ist gleichzeitig aber auch manipulierbar.
Dies hat für Gerichtsverfahren
und die Psychotherapie
Konsequenzen.
Johannes Gräff
Ein Kind, das sich die Finger an einer
heissen Herdplatte verbrennt, wird sich
zeit seines Lebens an dieses Ereignis erinnern, so hoffen die Eltern. Aber was
geschieht mit der Erinnerung, wenn das
Kind beim nächsten Küchenbesuch beobachtet, dass seine Eltern die Herdplatte zwar berühren, sich aber nicht
daran verbrennen, da diese nicht eingeschaltet ist?
Eine bis zur Jahrtausendwende vorherrschende Theorie auf dem Gebiet
der Gedächtnisforschung besagte, dass
sich ein einmal geformtes Gedächtnis
über die Zeit nicht mehr verändert, vorausgesetzt, seine Wichtigkeit ist gross.
Weil es für das Kind existenziell wichtig
ist zu lernen, sich nicht zu verbrennen,
würde es sich gemäss dieser Theorie
also immer daran erinnern, dass Herdplatten heiss sind.
Im Jahr 2000 jedoch publizierte eine
Forschergruppe um den Neurobiologen
Joseph LeDoux von der New York Uni-
versity eine seither vielzitierte Studie,
die diese Theorie infrage stellt. Dafür
benutzten die Forscher Ratten und eine
Substanz, welche die für die Gedächtnisbildung wichtige Proteinsynthese
blockiert. Erhielten die Ratten diese
Substanz, unmittelbar nachdem sie sich
an ein schmerzhaftes Erlebnis erinnert
hatten – man setzte die Tiere in eine
Kiste, in der sie einige Tage zuvor einen
Stromschlag erfahren hatten –, verschwand die Angst vor der Kiste. Die
Tiere entwickelten also kein nachhaltiges Angstgedächtnis bezüglich der Kiste. Wurde die gleiche Substanz jedoch
ohne Wiedersehen der Kiste verabreicht, reagierten die Tiere weiterhin
äusserst ängstlich auf diese.
Aus diesen Beobachtungen schlossen die Forscher, dass sich ein einmal
geformtes Gedächtnis durch dessen
Hervorrufen, also durch den Vorgang
des Sicherinnerns, verändern lässt. Da
dieser Prozess auf ähnlichen neuronalen
Vorgängen beruht wie die ursprüngliche
Gedächtnisbildung, die in der Fachsprache Konsolidierung genannt wird, wurde er als Rekonsolidierung bezeichnet.
Demnach erlaubt es die Rekonsolidierung, das ursprüngliche Gedächtnis mit
aktuellen Informationen auf den neuesten Stand zu setzen. So lernt das Kind
etwa, dass eine Platte nur heiss ist, wenn
sie angeschaltet ist.
In den Jahren nach dem Erscheinen
dieser Studie entbrannte auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung ein inten-
siv geführter Streit zwischen Rekonsolidierungsbefürwortern und -gegnern.
Denn einerseits war es mit LeDoux’
Versuchsanordnung nicht möglich, ausschliesslich diejenigen Nervenzellen zu
manipulieren, die für die Gedächtnisbildung verantwortlich waren – es könnte
sich bei dieser Beobachtung also um
einen unspezifischen Effekt handeln.
Andererseits könnte eine Aktualisierung des Gedächtnisses auch mit einer
zweiten, neuen Gedächtnisspur erklärt
werden: Diese würde durch die neuen
Gegebenheiten hervorgerufen und existierte parallel zur ursprünglichen Gedächtnisspur.
Erinnerung künstlich abrufen
Einen ersten stichhaltigen Beweis für
die Rekonsolidierungstheorie lieferte
2012 eine Arbeit des Hirnforschers
Mark Mayford vom Scripps Institute in
Kalifornien. Dazu entwickelten die Forscher genetisch modifizierte Mäuse, in
denen bestimmte Nervenzellen, die bei
der Bildung einer Erinnerung involviert
sind, mit einer passenden Substanz zu
einem beliebigen Zeitpunkt aktiviert
werden können. Auf diese Weise konnten die Forscher eine bestimmte Gedächtnisspur künstlich reaktivieren.
Die Forscher trainierten die Mäuse
dahingehend, eine Angsterinnerung an
eine Kiste A zu entwickeln. Dabei
wurde eine bestimmte Gruppe von
Neuronen aktiviert und mit einem Re-
zeptor markiert. Wurden die «A-Neuronen» danach künstlich reaktiviert, zeigten die Tiere tatsächlich eine typische
Angstreaktion, selbst wenn die Kiste A
nicht gegenwärtig war. Das System erlaubte es also, künstlich eine Erinnerung hervorzurufen.
In einem weiteren Experiment zeigte
man den Tieren dann eine ihnen unbekannte Kiste B, vor welcher sie keine
Angst hatten. Aktivierte man nun aber
gleichzeitig die «A-Neuronen» in der
B-Kiste und testete danach die Angstreaktion der Tiere auf die ursprünglich
angsteinflössende A-Kiste, reagierten
sie weniger ängstlich als zuvor. Wurden
die «A-Neuronen» in der B-Kiste hingegen nicht reaktiviert, veränderte sich
die Angstreaktion der Tiere nicht. Die
Reaktivierung der ursprünglichen Gedächtnisspur in der als sicher eingestuften B-Kiste ermöglichte es demnach,
die ängstliche Erinnerung abzuwandeln. Diese Experimente demonstrieren, dass eine abgerufene Erinnerung
von aussen manipuliert werden kann.
Die gewonnene Erkenntnis hat weitreichende Konsequenzen: Wenn sich
eine Erinnerung bei jedem Hervorrufen
verändern lassen kann, wie zuverlässig
sind dann noch Zeugenaussagen vor
Gericht? Metaanalysen haben ergeben,
dass falsche Zeugenaussagen mehr als
75 Prozent aller anhand von später erfolgten DNA Tests revidierten Verurteilungen zugrunde liegen. Könnte es also
sein, dass sich die Erinnerungen von
Zeugen durch das wiederholte Abrufen
bei der Befragung beeinflussen lassen?
In Anbetracht der Labilität der Erinnerung scheint ein gewisses Risiko zu bestehen.
Therapeutischer Nutzen
Bei der Behandlung von traumatischen
Erinnerungen ist die Labilität dagegen
ein Vorteil. Die erfolgreichste Behandlungsmethode ist die verhaltenstherapeutische Konfrontationstherapie. Dabei werden Patienten in einer sicheren
Umgebung wiederholt mit dem AngstAuslöser konfrontiert. Seit langem war
bekannt, dass ein erfolgreiches Sich-inErinnerung-Rufen dieses Auslösers
ausschlaggebend für den Erfolg oder
Nichterfolg einer Konfrontationstherapie ist – eine empirische Erkenntnis, die
durch die neuesten Resultate der Gedächtnisforschung unterstützt wird.
Der Grundsatz der Veränderlichkeit
einer Erinnerung bedeutet letztlich
aber auch, dass sich eine Erinnerung nie
ganz in ihrer ursprünglichen Form fassen lässt, weil sie beim Versuch dabei
zwangsweise durch die jeweiligen Umstände zum Zeitpunkt des Sicherinnerns beeinflusst wird. Somit könnte es
sein, dass die grösste Errungenschaft
unseres Gedächtnisses, nämlich die Fähigkeit zur sukzessiven Integration neuer Informationen, gleichsam auf seiner
grössten Schwäche fusst: einer dem Gedächtnis inhärenten Unschärfe.
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