Der Impulsstrom im KPK und das DPG-Gutachten

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Der Impulsstrom im KPK und das DPG-Gutachten
PD Dr. Stefanie Russ, Freie Universität Berlin,
an die DPG gesendet am 6.11.2013, (eine Fußnote nachträglich eingefügt)
Grundlagen
Der KPK benutzt Bilanz- und Kontinuitätsgleichungen. Den meisten Physikerinnen und Physikern dürften diese
aus der Elektrodynamik bekannt sein. Dort betrachtet man einen Strom I der sich aus der Stromdichte ~j ergibt:
Z Z
Z Z
~
~j · ~n df.
~
(1)
j · df =
I=
F
F
Die Dimension der Stromdichte ~j entspricht den Einheiten von Strom/Fläche und der Wert des Integrals (1) gibt
den Strom an, der durch eine gegebene Fläche F fließt. Die Richtung von ~j zeigt die Richtung des Stromflusses
an. Handelt es sich um eine geschlossene Fläche (z.B. die Oberfläche eines Körpers), so gibt (1) den Gesamtstrom
an, der in diesen Körper hineinfließt. Dieser entspricht der Änderung der im Volumen enthaltenen Ladung Q
(pro Zeit), d.h.
dQ/dt = −I,
(2)
wobei Q die im Volumen enthaltene Gesamtladung bezeichnet. (Das Minuszeichen in Gl. (2) folgt aus der
Flächennormalen ~n, die laut Konvention in der Physik bei geschlossenen Flächen immer nach außen zeigt.
Daher werden zufließende Ströme negativ, abfließende positiv bilanziert.)
Der Impulsstrom
Für den Impuls lässt sich ein physikalisches Modell entwickeln, in dem der Impuls – ähnlich wie die Ladung Q
– als eine Größe aufgefasst wird, die von einem Körper zu einem anderen fließt, selbst aber weder erzeugt noch
vernichtet werden kann. Die Idee dazu entspringt vermutlich der formalen Analogie zwischen Gl. (2) und den
Newton’schen Bewegungsgleichungen
d~
p/dt = F~ .
(3)
Damit ist es möglich, auch den Impuls ~
p als eine ”extensive” oder ”mengenartige” Größe anzusehen, der einem
Körper z.B. über Felder, Zugseile oder Druck zu- oder abgeführt wird. Der Impuls hat die gleiche Rolle wie die
Ladung Q in Gl. (2). Allerdings handelt es sich bei p~ und F~ – anders als bei Q – um Vektoren und um die volle
Analogie zum elektrischen Fall (Gl. (2)) zu erhalten, müssen wir Gl. (3) komponentenweise schreiben, d.h.
dpx /dt = Fx ,
dpy /dt = Fy ,
dpz /dt = Fz .
(4)
Wahlweise kann man nun eine der Gleichungen einzeln betrachten (dies ist u. U. leichter nachzuvollziehen), oder
auch alle drei Gleichungen zu (3) zusammenfassen. Für jede der Gln. (4) lässt sich wie im elektrischen Fall je
ein Impulsstromdichtevektor ~jpi aufstellen (i ∈ {x, y, z}), während im (vollständigen) dreidimensionalen Bild
(3) die Impulsstromdichte zu einem Tensor 2. Stufe ĵ wird. ~jpi beschreibt anschaulich die Richtung, unter der
dem Körper die entsprechende Impulskomponente pi zu- oder abgeführt wird.
Im DPG-Gutachten spielt nur die erste der Gleichungen aus (4) eine Rolle, die sich auf die x-Komponente von
Kraft und Impuls bezieht.
Beispiel: Wir betrachten in Abb. 1 einen Körper 1 , der sich nach rechts bewegt (vgl. auch Abb. 1 und 2(a) [1]).
Der Impulsvektor ~
p zeigt somit nach rechts. Der Körper soll über eine Zugspannung nach rechts beschleunigt
werden, z.B. über ein Seil, das ihn nach rechts zieht. Die beschleunigende Kraft F~ zeigt folglich ebenfalls nach
rechts. Beide, ~p und F~ , sind unabhängig vom verwendeten (ruhenden) Koordinatensystem. Dagegen sind die
Größen px und ~jpx abhängig von der Ausrichtung der x-Achse:
1 Um Missverständnisse zu vermeiden: Diese Abb. stammt weder aus dem KPK selbst, noch aus dem DPG-Gutachten, sondern ich
selbst habe sie erstellt, um die Diskussion über die auftretenden Vorzeichen möglichst anschaulich zu gestalten. Die skizzierten Plusund Minus-”Teilchen” stehen insbesondere nicht für eine etwaige Quantisierung des Impulses. (Fußnote nachträglich eingefügt).
1
Abb. 1: Unterschiedlich ausgerichtete x-Achse (bei sonst gleichen physikalischen Gegebenheiten): Wird ein Körper
(schwarzer Kreis) nach rechts gezogen, so wird ihm positiver x-Impuls im Fall (a) von rechts zu- und im Fall (b) nach
rechts abgeführt. (Letzteres ist identisch mit einer Zufuhr von negativem x-Impuls.) Die Stromdichtevektoren ~jpx zeigen
~ in beiden Fällen nach rechts.
in (a) nach links und in (b) nach rechts. Dagegen zeigen die Vektoren p
~ und F
a.) Ist die x-Achse (wie meistens üblich) nach rechts ausgerichtet, so ist p~ parallel zu ~ex , d.h. px > 0. In diesem
Fall zeigt ~jpx nach links, da der (positiv gezählte) x-Impuls dem Körper von einer rechts stehenden Person über
das Seil von rechts nach links zugeführt wird. (”x-Impuls des Körpers wird größer.”)
b.) Ist die x-Achse nach links ausgerichtet, so ist p~ antiparallel zu ~ex , d.h. px < 0. In diesem Fall zeigt ~jpx nach
rechts, da dem Körper nun (was gleichwertig ist) negativer x-Impuls zu- oder positiver x-Impuls abgeführt wird.
(”x-Impuls des Körpers wird kleiner.”)
Diese Betrachtungsweise klingt zunächst einmal verhältnismäßig kompliziert, zumal man dazu neigt, gedanklich
die eindimensionale mit der dreidimensionalen Betrachtungsweise zu vermischen. Die Vektoren F~ und ~p stammen
aus der dreidimensionalen Betrachtungsweise (3), während px und ~jpx der eindimensionalen Betrachtungsweise
angepasst sind. Wie ich im nächsten Abschnitt zeige, gehe ich davon aus, dass im DPG-Gutachten entweder die
Kraft F~ tatsächlich mit dem Impulsstromdichtevektor ~jpx des eindimensionalen Falls verwechselt wurde, oder
dass die Gutachter suggerieren wollten, dass eine solche Verwechslung unvermeidbar ist. Tatsächlich können
F~ und ~jpx im eindimensionalen Fall parallel oder antiparallel sein, während im dreidimensionalen Fall ihre
Richtungen völlig verschieden sein können.
Die Fehlinterpretationen des DPG-Gutachtens
Im Gutachten wird zunächst diskutiert, wie der Begriff ”Impulsstrom” sowie die in den Abbildungen (des KPK)
eingezeichneten Pfeile (welche die Richtung des Impulsstroms anzeigen) zu deuten sind. Die Formulierungen sind
dabei auffallend vage und hypothetisch gehalten: S. 2: ”Nun könnte man vermuten, dass Impulsstrom einfach ein
anderes Wort für Kraft ist. Das ist aber nicht so, denn die Verwendung von Impulsströmen anstelle von Kräften
führt auf widersprüchliche und z.T. sogar falsche Aussagen.”; S. 2: ”Wenn Kraft bzw. KPK-Impulsstrom als
Ursachen den Wagen in gleichem Maße beschleunigen, müssten eigentlich beide Größen in Betrag und Richtung
gleich groß sein. Während dies bei den Beträgen zutrifft, kann es bei den Richtungen Unterschiede ergeben,
[...]”; S. 4: ”[...] beginnt man sich zu fragen, ob der Richtung des KPK-Impulsstroms überhaupt eine objektive
Realität zukommt und sie nicht nur eine willkürliche Festsetzung ist.”; S. 5: ”Das fehlende Messinstrument
für die Richtung des Impulsstroms ersetzt der KPK durch einen Satz von Regeln [...], wie z.B.: Wenn eine
Zugspannung herrscht, dann fließt x-Impuls in die negative x-Richtung.”
Die Gutachter führen Beipiele an (ähnlich dem aus Abb. 1), bei denen die Richtung der Kraft entgegengesetzt
zu denen im KPK eingezeichneten Richtungspfeilen des Impulsstroms ist bzw. in denen sich der Kraftvektor
F~ anders als diese transformiert. Dies ist z.B. der Fall beim Übergang von einer nach rechts zu einer nach
links ausgerichteten x-Achse (siehe Abb. 1) oder beim Übergang von Zug- zu Druckspannung (d.h. Körper wird
nicht mehr vorwärts gezogen, sondern vorwärts gedrückt). Die Diskussion suggeriert, dass Kraft als Impulsstrom
zu deuten sei. Da dies jedoch offfensichtlich in Widersprüche führt, erhält der unvoreingenommene Leser den
Eindruck, dass dies in Fehlern des KPK begründet ist. Die obigen Zitate aus dem Gutachten sprechen hier vermutlich für sich: Wenn man den Begriff ”Impulsstrom” anstelle von ”Kraft” verwendet, kommt man tatsächlich
auf Widersprüche. (Dieser Eindruck wird in den später geschriebenen ”Ergänzungen” [2] der gleichen Gutachter
noch verstärkt, in denen die unterschiedlichen Vorzeichen von Kraft und Impulsstrom auf vermeintliche Fehler in
der Auswertung der Flächenintegrale (1) zurückgeführt werden. Dieser Einschätzung wurde bereits von anderer
Seite widersprochen [5].)
Die Widersprüche lassen sich jedoch sofort auflösen, wenn man die Richtungspfeile als Richtung des entsprechenden Impulsstromdichtevektors ~jpx deutet. Die Impulsstromdichte geht u.a. auf Max Planck zurück, und
wurde von einigen der KPK-Autoren in mehreren Veröffentlichungen diskutiert (siehe z.B. [3]). Im allgemeinen
dreidimensionalen Fall ist sie ein Tensor 2. Stufe, ĵ, und entspricht dem Negativen des bekannten Spannungstensors T̂ (das Vorzeichen wird in der Literatur etwas uneinheitlich gehandhabt). Für den eindimensionalen Fall
lässt sich ein Impulsstromdichtevektor ~jpn~ durch Anwendung des Spannungstensors T̂ auf den entsprechenden
Richtungsvektor ~n bestimmen,
~jpn~ = −T̂ ~n,
(5)
wobei ~n diejenige Richtung bezeichnet, in die der Impuls (positiv) gemessen wird.
Mit ~jpx = −T̂ ~ex (Bewegung in x-Richtung), werden die im Gutachten [1] angegriffenen Transformationseigenschaften nachvollziehbar: Invertiert man die x-Achse (richtet sie also nach links anstatt nach rechts aus), so
ändert sich das Vorzeichen von ~ex und damit von ~jpx . Geht man von Zug- zu Druckspannung über, so ändern
2
(bekanntermaßen) die Komponenten des Spannungstensors ihre Vorzeichen, was ebenfalls zu einem Vorzeichenwechsel von ~jpx führt.
Die Definition (5) der Impulsstromdichte hat eine Abhängigkeit des Vektors ~jpn~ von ~n zur Folge, was im
Gutachten als Abhängigkeit vom benutzten Koordinatensystem gedeutet und stark kritisiert wird, z.B. auf S. 4:
”[...] zeigt sehr anschaulich, dass die Richtung des KPK-Impulsstroms eng mit der Lage des Koordinatensystems
verbunden ist. Das führt nun zu folgenden Problemen: Wenn man die Lage des Koordinatensystems nicht kennt,
kann man auch nicht die Richtung des KPK-Impulsstroms festlegen. Solche Situationen können leicht auftreten,
wenn z.B. der Lastzug durch einen Wald fährt, wo keine x-Achse auf den Boden eingezeichnet ist. Eine weitere
Schwierigkeit tritt auf, wenn sich z.B. zwei Schüler über die Ausrichtung ihrer Koordinatensysteme nicht einigen
können. Dann werden sie verschiedene Antworten auf die Frage nach der Richtung des KPK-Impulsstroms geben.
Und beide Antworten können gleichzeitig richtig sein!”
Auch dieses Zitat aus dem DPG-Gutachten spricht sicher für sich selbst und drückt ein tiefes Unbehagen gegenüber koordinatenabhängigen Größen und Darstellungen aus, das ich hier nicht weiter kommentieren möchte.
Aus Gl. (5) sollte jedenfalls klar geworden sein, dass im KPK an dieser Stelle keine Willkür im Spiel ist, sondern
dass diese Koordinatenabhängigkeit tatsächlich eine inhärente Eigenschaft des bereits auf Max Planck zurückgehenden Impulsstroms ist (nicht nur des ”KPK-Impulsstroms”). Die Abhängigkeit vom Koordinatensystem lässt
sich darüberhinaus auch aus Gl. (4) heraus verstehen, aus der deutlich wird, dass wir hier das Verhalten von Vektorkomponenten beschreiben. Dass Vektorkomponenten vom verwendeten Koordinatensystem abhängen, muss
ich nicht weiter erläutern.
Um meine Darstellung nicht zu lang werden zu lassen, kommentiere ich die in [1] diskutierten Kreisströme im
statischen Fall nur noch kurz. Der ”Impuls-Kreisstrom” einer im Joch eingespannten Feder (siehe Abb. 3(a) aus
[1]) gibt an, wie die Kraftkomponente Fx durch das Material übertragen wird. Dies ist bereits in [4] ausführlich
dargestellt und in [5] bekräftigt – ich schließe mich diesen Darstellungen an. Unbehagen bereitet den DPGGutachtern wieder die Auszeichnung einer Richtung (Kreisstrom gegen den Uhrzeigersinn) in einer äußerlich
symmetrischen Situation. Die Aufklärung dieser Vorwürfe geschieht jedoch ähnlich wie oben: Da ~jpx von der
Richtung der x-Achse abhängt, bewirkt letztere eine Symmetriebrechung.
Grundsätzlich erzeugt das Impulsstrommodell weniger symmetrische Bilder als die ”traditionelle Physik”. Wenn
ein Körper nicht beschleunigt wird, so zeichnet man ”traditionell” (meistens) Kräftepfeile ein, die sich gegenseitig
kompensieren, was insbesondere in einer Dimension sehr schön symmetrisch aussieht. Im Impulsstrombild sieht
man dagegen einen Stromdichtevektor von einer Seite in den Körper eintreten und auf der anderen wieder
austreten, wobei die Vektorrichtungen vom Koordinatensystem abhängen. Man kann sicher darüber diskutieren,
welche Variante ”schöner” oder einer bestimmten Situation angemessener ist. Ich bin jedoch davon überzeugt,
dass sich keine Widersprüche oder gar Fehler ergeben, solange man die Richtung des Impulsstroms korrekt
durch die entsprechenden Impulsstromdichtevektoren ausdrückt.
Die Darstellungen des KPK zum Thema Impulsstrom sind im DPG-Gutachten als eines von drei Beispielen
genannt worden um zu belegen, dass der KPK eine ”grundsätzlich falsche Vorstellung von Physik” erzeugt. Wie
ich hier gezeigt habe, lassen sich diese Vorwürfe zum ”KPK-Impulsstrom” nicht halten. Ich mache hier keine
Aussagen zum didaktischen Wert des KPK, ebensowenig zur Frage, welche Vereinfachungen zur Darstellung
in Schulbüchern notwendig oder angemessen sind – dies ist eine andere Diskussion. Ich bin überzeugt, dass
niemandem unbegründet (oder mit falscher Begründung) fachliche Fehler vorgeworfen werden dürfen. Wenn
mehrere Modelle oder Denkrichtungen nebeneinander existieren ist dies für die Physik i.A. ein Gewinn – man
denke nur an die Formulierungen der Quantenmechanik, die jenseits der Standarddeutung auch noch existieren.
Ich fordere die DPG daher auf, dieses Gutachten zurückzuziehen.
Literatur
[1] Gutachten über den Karlsruher Physikkurs; M. Bartelmann et. al.; Bad Honnef, 28.2.2013.
[2] Ergänzende Bemerkungen zum DPG-Gutachten über den Karlsruher Physikkurs; M. Bartelmann et. al.;
https://www.dpg-physik.de/veroeffentlichung/stellungnahmen gutachter/kpk-ergaenzung.pdf
[3] F. Herrmann und B. Schmid; Am. J. Phys. 52 146 (1984).
[4] ”Protokoll des Regensburger Streitgesprächs”; J. Hüfner et. al.;
regensburg.de/forschung/rincke/Allgemeines/Protokoll Regensburg 2013.pdf
http://www.physik.uni-
[5] Appell von Professoren der Theoretischen Physik; http://www.physik.hu-berlin.de/top/DPGStellungnahme-zum-KPK Erklaerung-von-Theorieprofessoren 2013-09-02.pdf
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