Vorname und Nachname Matr. Nr. Politische Systeme im Vergleich LVA-Nr. 229005 LVA-Leitung: Dr. Harald Stöger WS 2011/12 Exzerpt aus: Hartmann, Dr. phil. Jürgen (2000) Westliche Regierungssysteme. Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles Regierungssystem. Opladen S. 19 -98. Prof. Dr. Jürgen Hartmann hat eine Professur für Politikwissenschaft, insbesondere Vergleichende Regierungslehre an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg inne. Er leitet das gleichnamige Institut. In seinem Forschungsgebiet, dem „Politikwissenschaftlichen Gesellschaftsvergleich“ erstellte er seit 1977 zahlreiche Publikationen, die politische Systeme auf dem gesamten Erdball analysieren (vgl. HSU.HH, o. Erscheinungsjahr, o. S). Excerpiert am 12. 12. 2011 Jürgen Hartmanns Buch zielt auf die „historische Herleitung der Regierungspraxis“ (Hartmann, 2000, S. 25) und möchte einerseits die Ähnlichkeiten, andererseits aber auch die formal und kulturell begründeten Unterschiede der einzelnen Systeme aufzeigen. ( vgl. ebd, S. 25) 1. Historische Entstehung des britischen Regierungssystems Die Betrachtung der Geschichte des politischen Systems Großbritanniens ist aus zwei Gründen wesentlich für ein Verstehen der gegenwärtigen politischen Systeme und Prozesse. Erstens war Großbritannien das erste Land, in dem ein parlamentarisches Regierungssystem entstand, also der Prototyp. Die Entwicklung des Parlamentarismus vollzog sich ohne entsprechende Vorbilder (vgl. ebd, S. 24) aus den besonderen Umständen heraus. Zweitens besteht die schriftliche britische Verfassung aus einer losen Ansammlung altehrwürdiger Gesetze, die nur einen geringen Erklärungsbeitrag zur vorgefundenen Regierungspraxis beisteuern können. Wesentliche Teile des modernen Regierungssystems beruhen auf so genannten „constitutional conventions“, also Konventionen und Usancen, die im Laufe der Zeit aus der politischen Praxis hervorgegangen sind. Diese Verfassungskonventionen sind fernab aller Schriftlichkeit nur aus der Beobachtung der Handlungsweisen politischer Akteure erkenntlich (vgl. ebd. S. 65-66). [Hartmann bezieht sich in seinen Analysen beinahe ausschließlich auf das Englische innenpolitische und gesellschaftliche System. Die übrigen Länder Großbritanniens werden nur am Rande erwähnt. Außenpolitsche Einflüsse, wie beispielsweise die Kolonialgeschichte, bleiben in de Analyse außer Betracht.] Seite 1 Im späten Mittelalter stand der/die englische König/in einem mächtigen Hochadel und Klerus gegenüber, der früh wesentliche Schutz- und Mitspracherechte für sich in Anspruch nahm. Als Gegengewicht zu dieser einflussreichen Gruppe bezog die Krone Vertreter des niederen Adels und der Stadtbürger in die Beratungen mit ein. Aus diesem Beraterstab entwickelte sich eine ständige Vertretung, das Parlament; bestehend aus Oberhaus (Hochadel und Klerus) und Unterhaus (Kleinadel und Bürgertum). Durch den Status als Verbündeter des Königs und den Aufstieg des Bürgertums in der frühen Neuzeit gewann das Unterhaus zusehends an Einfluss. Wesentliche Bereiche wie Steuergesetzgebung und Kontrolle von Ministern und Beamten der Krone oblagen den Vertretern dieser Kammer (vgl. ebd. S. 49-52). Im 17. Jahrhundert wurde unter den Stuarts versucht, den Einfluss des Parlaments zugunsten einer absoluten Monarchie zurückzudrängen. Das Unterhaus als Organ des selbstbewussten Bürgertums erwies sich in dieser Konfrontation als die stärkere Partei und erkämpfte umfangreiche Rechte, die im wesentlichen eine konstitutionelle Monarchie begründeten, in der der König seine Herrschaft nur noch innerhalb verfassungsrechtlicher Schranken und in Abstimmung mit dem Parlament ausüben konnte. Die Gerichte wurden unabhängig und die Richter unabsetzbar (vgl. ebd. S. 53-54). Im Zuge dieser Wirren radikalisierten sich die Vertreter der Puritaner im Unterhaus und es kam zu einem Bürgerkrieg. Der König wurde hingerichtet und die Republik wurde ausgerufen. Als siegreicher Heerführer des Parlamentsheeres stand Oliver Cromwell der Republik über ein Jahrzehnt als Diktator vor. Nach dessen Tod fand die in der Bevölkerung wenig verankerte Republik ein Ende und eine konstitutionelle Monarchie wurde wieder eingesetzt. Wenig war den König/innen an Macht geblieben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich bereits eine informelle, gewaltenteilige Staatsform herausgebildet. Die Krone als Exekutive, die unabhängigen Richter als Judikative, und das Ober- und Unterhaus als Legislative. Ins frühe 18. Jahrhundert fällt auch die Eingliederung von Schottland ins Königreich, das bislang nur durch eine Personalunion des/der Englischen und somit auch Schottischen Königs/Königin an England gebunden war. (vgl. ebd. S. 54-57). Eine demokratische Legitimation der gesetzgebenden Versammlungen im heutigen Sinne bestand allerdings nur im geringen Ausmaß. Die Vertretung im Oberhaus war an das Erbrecht gebunden. Das Unterhaus wurde in regelmäßigen Abständen gewählt, die Basis der Wahlberechtigten war allerdings sehr schmal und umfasste 1831 nur 2,1 Prozent der Bevölkerung, da das Wahlrecht nur von den männlichen Vermögenden ausgeübt werden konnte. Die Ausweitung des Wahlrechtes erfolgte langsam (vgl. ebd. S. 61). Da das Parlament mit seinen wichtigen Befugnissen zur Steuererlaubnis ein wesentliches Machtzentrum darstellte, wurde es zwecks Erhaltung der Handlungsfähigkeit notwendig, der Regierung das alleinige Recht auf Initiative in Steuer- und Haushaltsfragen einzuräumen (vgl. ebd. S. 58). Dem folgte eine parlamentarische Abstinenz von Seite 2 allen Gesetzesinitiativen, die bis heute (vgl. ebd. S. 70) vorzufinden ist. Die Regierung bringt die Initiativen ein, das Parlament bestätigt diese oder lehnt sie ab, wird aber nicht als Antragsteller aktiv. Parallel zur Ausweitung des Wahlrechts vollzog sich ein Wandel des britischen Parlamentarismus von einem durch rege Debattierfreudigkeit geprägten Honoratioren- Parlamentarismus hin zu einem von Fraktionszwang und Parteiapparaten bestimmten ZweiParteien-System. Erst seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer eingeräumt. ine zentrale Rolle in der Exekutive erwarb sich der Schatzmeister der Krone. Ihm oblag es, Mehrheiten für die Pläne der Krone zu gewinnen. Dies geschah nicht nur durch Überzeugungsarbeit, sondern auch durch teilweise sehr korrupt anmutende Belohnung der Parteigänger durch politische Ämter. Um diesen Schatzmeister – oder später Premierminister – traten verstärkt auch die Minister als Träger der Regierungsmeinung an die Öffentlichkeit. Das Kabinett rund um den Premierminister und das Unterhaus gewannen gegenüber dem Oberhaus und der Krone kontinuierlich an Macht Eine starke Verbindung zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit bildete sich heraus. Dem gegenüber stand die Parlamentsminderheit, die sich lediglich auf Oppositionsarbeit und Misstrauensvoten stützen konnte (vgl. ebd. S. 58-63). Erst seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das allgemeine Wahlrecht für Frauen und Männer eingeräumt. 2. Strukturen und Arbeitsweisen der staatlichen Institutionen 2.1. Das Unterhaus Mit der praktischen Entmachtung von Oberhaus und Krone sind Unterhaus und Regierung die bedeutendsten politischen Institutionen. Die beiden erstgenannten bleiben im wesentlichem auf formale Rechte beschränkt, die praktisch nur mehr zu zeremoniellen Zwecken ausgeübt werden (vgl. ebd. S. 75-77). Die 650 Abgeordneten des Unterhauses werden vom Wahlvolk gewählt. Ein/eine Abgeordnete/r ist je einem Wahlkreis zugeordnet. Die Wahlkreise werden nach Veränderungen in der Wohnbevölkerung regelmäßig neu eingeteilt. Die Mandate werden nach relativen Stimmenmehrheiten dem/der jeweils stimmenstärksten Kandidaten/in zugewiesen. Dieses System begünstigt die traditionellen Großparteien und verzerrt die tatsächlichen Parteipräferenzen der Wähler und Wählerinnen massiv. Kleinere Parteien sind im Verhältnis zu ihren Wählerstimmen im Parlament stark unterrepräsentiert [Regionale Player aus dezentral gelegenen Gebieten werden vermutlich ebenfalls kaum ein Mitspracherecht ausüben können. Vgl. ebd. S. 84, gefühlte und reale Benachteiligung von Schottland und Wales]. Aus den Kreisen der Abgeordneten wird der/die Führer/in der jeweils stimmenstärksten Fraktion mit der Bildung einer Regierung beauftragt. Ausschließlich Parlamentsmitglieder können in die Regierung entsandt werden. Bedingt durch das Seite 3 Verhältniswahlrecht stützt sich eine Regierung gewöhnlich auf eine starke Parlamentsmehrheit. Die Mehrheitsfraktion versteht es als ihren wichtigsten Auftrag, „ihre“ Regierung zu unterstützen beziehungsweise ist mit ihr personell ident. Auch die Opposition verhält sich [gemessen an mir bekannten Systemen mit Verhältniswahlrecht] wenig kämpferisch. Es wird neben öffentlicher Regierungskritik über weite Teile Regierungsverhalten eingeübt (vgl. ebd. S 67 -70). Lediglich bei einigen Sitzungstagen und bei der Haushaltsdebatte werden traditionell die Themen von der Opposition bestimmt (vgl. ebd. S. 71). Die Funktion des Parlamentes wird darin verstanden, Gesetzesvorhaben öffentlich zu diskutieren. Die Regierung bringt Gesetzesanträge ein und legt – unterstützt durch ihre Parlamentsmehrheit den zeitlichen und inhaltlichen Rahmen für die Debatte fest. Strittige Punkte können von der Tagesordnung gestrichen oder die Debatte darüber zeitlich beschränkt werden (vgl. ebd. S. 70). [Es ist also anzunehmen, dass Englands Parlament noch stärker am Gängelband der Regierung hängt als das österreichische]. Es gibt im Unterhaus Ausschüsse, die allerdings kaum an der Detailausarbeitung der Gesetze teilnehmen. Nicht die Kleinarbeit, sondern die „Kunst des rhetorisch-polemischen Angriffs und der Verteidigung“ (ebd. S. 72) prägt das Wesen eine/einer britischen Abgeordneten. Zur Aufrechterhaltung der – durchaus manchmal löcherigen – Fraktionsdisziplin bedienst sich der Parteiapparat so genannter Whips, die die Stimmung bei den einzelnen Abgeordneten ausloten und deren Anwesenheit bei den Abstimmungen und Fraktionstreue sicherstellen sollen (vgl. ebd. S. 74). 2.2. Premierminister und Kabinett Aus den Reihen der Abgeordneten ernennt der/die Premierminister/in sein Kabinett im Umfang von etwa zwanzig Mitgliedern. Der/die Premier hat eine herausragende Machtposition. Er/Sie kann das Unterhaus auflösen und Neuwahlen initiieren. Sämtliche Ernennungen und Entlassungen von Ministern sowie die Aufteilung der jeweiligen Arbeitsgebiete fallen in seinen/ihren Verantwortungsbereich. Die Leitlinien der Politik werden vom Premier vorgegeben und er/sie erstellt nach Kabinettssitzungen eine „Zusammenfassung“ des Konsensus der Minister/innen, die letztlich aber seinen/ihren eigenen Willen wiedergibt und für die Kabinettsmitglieder bindend ist. In diesem Gremium werden die Gesetzesvorlagen ausgearbeitet. Die Besetzung der Ministerien erfolgt nicht nach Gesichtspunkten der fachlichen Kompetenz und es kommt relativ häufig zu Kabinettsumbildungen. Neben den Kabinettsmitgliedern gibt es auch noch als weniger wichtig angesehene Ministerien, deren Leiter/innen nicht Kabinettsmitglieder sind. Zusätzlich zu den Kabinettssitzungen sind Kabinettsausschüsse ein wesentliches Führungsinstrument. Diese sollten Minister/innen, Beamte und fachliche Spezialist/innen zusammenführen und Lösungen im Sinne des Premiers ausarbeiten (vgl. ebd. S. 77-80). Seite 4 2.3. Ministerialverwaltung und Beraterstäbe Britische Beamte sind streng an die politische Neutralität gebunden, kombinieren diese Neutralität jedoch mit einer absoluten Loyalität gegenüber der amtierenden Regierung. Ihnen obliegt die Vorbereitung der Gesetze. Ihre hohe fachliche Kompetenz und – im Gegensatz zu den Minister/innen – lange Verweildauer in den jeweiligen Ministerien lässt sie zu einem nicht zu unterschätzenden Machtfaktor werden, der in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Nichtsdestotrotz gelten sie als die Hauptadressat/innen verschiedenster Interessensgruppen aus der Wirtschaft, Verbänden oder Gewerkschaften (vgl. ebd. S. 80-81). [Wieweit es tatsächlich völlig unproblematisch ist, dass in einem demokratischen Staat soviel Macht in den Händen nicht legitimierter Eliten liegt und ob die Einflussnahme der Lobbyisten in der Praxis nur die Regelung technischer Details umfasst, kann ich nicht überprüfen, ich möchte es aber auch nicht unhinterfragt hinnehmen. Ob die verstärkte Präsenz von Beraterstäben ein mehr an Demokratisierung bedeutet, erscheint mir ebenfalls fraglich]. Die Ministerialbürokratie ist in Großbritannien eher schlank und wurde unter den konservativen Regierungen weiter abgebaut (vgl. ebd. S. 80-81). Als Gegengewicht zu den mächtigen Beamten gewinnen seit der Regierung Thatcher Beraterstäbe zusehends an Wichtigkeit. Die Mitglieder dieser „think tanks“ werden nach weltanschaulichen Kriterien ausgewählt und nehmen wesentliche Beratungsfunktionen für die Regierung wahr, beispielsweise in den Kabinettsausschüssen oder als Mittler einer neuen Linie in die parteiunabhängigen Ministerien (vgl. ebd. S. 80-81). 3. Parteien Die beiden historisch ältesten Parteien in Großbritannien sind die Konservativen und die Liberalen. Beide wurden in der Zeit nach der Republik und wurzeln in den königstreuen „Tories“ und den parlamentsverbundenen „Whigs“ (vgl. ebd. S. 54-55). Die Liberalen vertreten traditionell Eigentümerinteressen und spielen aufgrund des großparteienfreundlichen Mehrheitswahlrechts heute nur mehr eine untergeordnete Rolle. Mit der Ausweitung des Wahlrechts weg von einer reinen Standesvertretung von Besitzenden hin zum allgemeinen Wahlrecht veränderte sich auch die Parteienlandschaft. Seit dem Ende des ersten Weltkrieges bildet die Labour-Party neben den Konservativen die zweite Hälfte des britischen Zwei-Parteien-Systems (vgl. ebd. S. 63). Die Konservative Partei durchlebte in ihrer Geschichte große Wandlungen. Liberales Gedankengut und die Akzeptanz von großen sozialen Ungleichheiten sind traditionell ein prägende Elemente der Partei. Lange Zeit herrschte in den Reihen der Konservativen dennoch ein breites Bekenntnis zum Wohlfahrtsstaat vor. Mit der Ära Thatcher wurden starke Umgestaltungen in der britischen Sozialund Wirtschaftspolitik vorgenommen, die weit über sie hinaus wirkmächtig blieben. Abbau Seite 5 traditioneller Gewerkschaftsrechte, ein weitgehendes Zurückfahren des Sozialstaates und die Auslagerung bislang staatlicher Tätigkeiten hinein in privatwirtschaftliche Bereiche stellten die praktische Umsetzung der Vorstellungen des amerikanischen Nationalökonomen Friedman dar. In ihrer Programmatik entspricht die Konservative Partei heute eher der Linie einer klassischen, liberalen Partei. Diese Labour-Party ist aus den Gewerkschaften hervorgegangen und besaß lange Zeit ein radikalsozialistisches Programm. Im Gegensatz dazu dominierte die Parteipolitik ein eher gemäßigter Flügel, der sich in seinen Regierungszeiten für eine umfassende Sozial- und Bildungspolitik vor der Kulisse der Marktwirtschaft stark machte. In der langen Zeit der konservativen Regierung mit weitgehendem Sozialabbau und neoliberaler Wirtschaftspolitik erlangte der radikale Flügel der Party zunehmend an Einfluss. Nach einem Generationenwechsel innerhalb der Partei erfolgte ein massiver Umbau an Programm und Struktur der Partei. Die einstmals tonangebenden Gewerkschaften verloren - analog zu ihrer realpolitischen Entmachtung in der Ära Thatcher – wesentlich an Einfluss. Wo einst Sozialismus und Verstaatlichung propagiert wurde, fand eine Besinnung auf „wählbare“ Werte und Persönlichkeiten statt. Die Labour–Regierung unter Blair verfolgte eine eher angepasste Politik und nahm den Sozialabbau kaum zurück (vgl. ebd. S. 87-90). 4. Fazit Hartmann bietet in seinem Text eine Analyse der innenpolitischen Entwicklung Großbritanniens vom frühen Mittelalter bis hin zu Tony Blair. 5. Literatur: Hartmann, Jürgen (2000): Westliche Regierungssysteme. Parlamentarismus, präsidentielles und semi-präsidentielles System. In: Benz, Czada, Simonis (Hg): Grundwissen Politik. Band 29. Leske + Budrich Verlag. Opladen HSU.HH: Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr Hamburg http://www.hsu-hh.de/hartmann/index_StGrQGTuAne428HR.html dl 12.12. 2011 Seite 6