Braunschweiger Sound Space Interview 3

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Interview 3
EF: Beschreiben Sie bitte kurz, wie sind Sie mit Ohren beschäftigt, besonders mit Kinderohren?
Ich bin von Beruf Hörgeräteakustikerin und habe eine Sonderqualifikation, womit ich mich auf
Kinder spezialisiert habe. Hörgeräteakustiker haben die Aufgabe, Hörgeräte anzupassen. Bei
Kindern ist es ein besonderes Feld, weil man mit Kindern die Tests, die man macht, nicht so
durchführen kann wie mit Erwachsenen. Denn die Kinder beteiligen sich oftmals nicht daran,
entweder weil sie es nicht möchten oder weil sie es noch nicht können.
Letztendlich sorge ich mit der Hörgeräteversorgung dafür, dass man ein nahezu normales Gehör
erreichen kann.
Mit Kindern ist es deshalb so schön, weil man von ihnen immer eine direkte Rückmeldung
bekommt, ob man die Arbeit gut oder nicht gut macht. Wenn Kinder, die von Geburt an
hörgeschädigt sind, das erste Mal einen Höreindruck haben, dann sieht man sofort, wie sie
anfangen zu strahlen, wie sie sich freuen, weil man ihnen einen anderen Erlebnishorizont
ermöglicht hat. Sie können auf einmal Geräusche hören wie z.B. Vogelgezwitscher, das Rascheln
der Kleidung, das Ratschen vom Reißverschluss oder den Kühlschrank, was sie vorher gar nicht
hören konnten. Dabei spielt es keine Rolle, in welchem Alter sie ein Hörgerät bekommen, ob
schon mit drei Monaten oder vielleicht, wenn es unglücklich läuft, sie erst mit Fünf oder Sechs
versorgt werden. Außerdem ist die Arbeit mit Kindern so direkt. Sie sagen, wenn sie schlecht
gelaunt sind. Und wenn sie etwas an dem Hörgerät nicht gut finden, dann sagen sie auch “das ist
doof”, und nicht “das ist super”, um mir einen Gefallen zu tun. Es herrscht eine gewisse Klarheit
in der Arbeit mit Kindern, weil sie sich nicht Gedanken darüber machen, ob sie mich als Person
damit kränken, was sie sagen.
EF: Was sind die großen Unterschiede in den Ursachen für Hörschäden zwischen Erwachsenen
und Kindern?
Im Erwachsenenbereich ist es üblich, dass es sich um eine Altersschwerhörigkeit handelt. Das
Ohr ist so aufgebaut, dass es einen gewissen Verschleiß im Innenohr gibt, der dann irgendwann
zu einer Beeinträchtigung führt. Oder es ist durch einen Unfall oder eine Erkrankung bedingt. In
der Regel geht man aber davon aus, dass erwachsene Hörgeschädigte, wenn sie mit 40/50/60 oder
80 Jahren zum Akustiker kommen, früher gut und normal gehört haben. Bei Kindern geht man
dagegen davon aus, dass es sich um einen von der Geburt an vorhandenen Hörfehler handelt und
dieses Hören oder der Hörhorizont von Anfang an eingeschränkt war. Und erst in dem Moment,
in dem die Hörgeräteversorgung stattfindet, kann das Hören und damit auch das Sprechen
einwandfrei erlernt werden.
Von daher ist die Arbeit mit Kindern verantwortungsvoll, oder verantwortungsvoller, weil die
Kinder nicht so aktiv mit eingebunden werden können. Denn ein Säugling kann nicht äußern, ob
es ihm gefällt, was wir mit ihm machen. Tun wir das aber nicht richtig, ist die Konsequenz im
schlimmsten Fall, dass er nicht optimal Sprechen lernt.
EF: Das heißt, es ist sehr wichtig für das spätere alltägliche Verhalten?
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Genau. Letzten Endes ist es so: wenn ein Kind, was hörgeschädigt ist (wir gehen von einer
mittleren oder einer hochgradigen Hörschädigung aus), nicht versorgt wird, dann kann es nicht
einwandfrei Sprechen lernen. D.h. es hat eine sprachliche Auffälligkeit oder es spricht gar nicht,
was natürlich dazu führt, dass die soziale Komponente eingeschränkt ist. Dies bedeutet
wiederum, das Kind kann sich nicht oder vielleicht nur unverständlich mit anderen austauschen,
was dann eben zu einer Wut, Aggression oder einer Frustration des Kindes führen kann, weil
keiner versteht es.
Außerdem werden diese Kinder manchmal falsch eingeschätzt. Manche interpretieren ein Kind,
welches nicht spricht, als ein bisschen zurückgeblieben oder nicht sprachbegabt. Man, oder die
Allgemeinheit, neigt dazu, Menschen, die schlecht sprechen, als dümmlich oder
lerneingeschränkt einzuschätzen. Deshalb möchte man das so früh wie möglich kompensieren,
damit das Kind so normal wie möglich aufwachsen kann. Ich glaube, das ist die Hauptaufgabe.
Ein weiterer Grund ist das gleichsame Gehör, um sich räumlich orientieren zu können, um orten
zu können, woher jemand spricht, woher ein Geräusch kommt. Dinge, die im Alltag ganz normal
sind oder von allen als selbstverständlich erachtet werden.
EF:Was lernt man über Ohren, Hören, Klänge, Klangräume in Ihrem Beruf, was man
normalerweise nicht wissen würde?
Bei der Hörgeräteversorgung ist der Klang ein Hauptthema, mit dem man sich immer wieder
beschäftigt. Viele denken, sie gehen zum Hörgeräteakustiker, der macht die Schublade auf, holt
ein Hörgerät raus, legt es auf den Tisch und sagt: “So, das ist ihr neues Hörgerät. Viel Spaß.”
Aber das ist nicht wie bei einer Brille, bei der einmal ein Wert ermittelt, man daraufhin ein
entsprechendes Glass bekommt und darüber den Ausgleich hat. Beim Hören ist es viel, viel
subjektiver, da hier versucht wird, mit dem Klang auch den Hörgeschmack desjenigen zu treffen,
der das Hörgerät tragen soll. Und das ist mit ein Grund, warum für eine Hörgeräteerprobung
mitunter so lang gebraucht wird. Denn man kann nicht vorher sagen, ob jemand einen schärferen
Klang lieber mag, der zu einer höheren Deutlichkeit führt, oder ob jemand einen weicheren
Klang bevorzugt, weil er damit im Alltag besser klar kommt.
EF: Das ist erstaunlich! Das ist wie Mastering für das Hören.
Ja
EF: Was könnten oder sollten Leute machen, um die Gesundheit ihrer Ohren zu schützen?
Heute leben wir in einer Zeit, in der eine ständige Reizüberflutung der Ohren stattfindet. Das war
sicherlich ursprünglich nicht so geplant, dass wir stundenlang Mp3 Player und Radio hören und
in jedem Kaufhaus berieselt werden. Das ist für unsere Ohren mitunter ein Problem. Aber auch
die berufliche Belastung ist ein Thema. Es muss einfach mehr Aufklärung geleistet werden, dass
derjenige, der in einem Lärmberuf arbeitet, oder generell anfällig ist – Erzieher, Lehrer sind oft
belastet– sich bemüht, sein Gehör zu schützen. Viele machen sich da keine Gedanken.
Viele in meinem Freunden- und Bekanntenkreis und die meisten Menschen, die ich zum ersten
Mal treffe, kennen den Beruf nicht und können damit nichts anfangen. Wenn ich davon erzähle,
was ich mache, dann sagen viele: “Ach ja, ich hab auch ein Hörproblem”, oder “ich denk
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manchmal ich höre auch schlecht”, oder “mir fällt da ein, wenn ich so lang in der Disco war,
piepst es manchmal in meinem Ohr.”
Jeder hat zu dem Thema irgendein Erlebnis gehabt und weiß über die Empfindlichkeit Bescheid:
“Ich habe gehört, man kann einen Hörsturz/ Tinnitus kriegen. Was kann man da machen…?” Das
Interesse ist schon da, aber dass man aktiv wird, das ist bei den meisten nicht der Fall.
Wie der Zufall es so will, kellnere ich neben der Hauptarbeit nachts in einem Lokal. Da ist
natürlich eine extreme Geräuschkulisse vorhanden. Ich trage häufig Gehörschutz, weil ich
darüber Bescheid weiß. Ich habe eine spezielle Anfertigung, damit ich mich noch verständigen
kann. Viele sagen: “Mensch, mir tun auch oft die Ohren weh nach fünf oder sechs Stunden…”.
Das sind Dinge, die in Fleisch und Blut übergehen müssen. Genauso ist es bei Konzerten.
Manche sagen, es ist nur richtig toll, wenn man es in voller Lautstärke hört. Dann denke ich mir,
ob das so ein Hörgenuss ist, wenn ich neben der Box stehe und 110 dB an mein Ohr fliegen. Das
ist vielleicht in dem Moment schön, aber über eine Dauer von mehreren Stunden ist das einfach
eine Belastung. Da muss man mit Gehörschutz entgegen wirken.
Was man mittlerweile häufig bei irgendwelchen Sportereignissen sehen kann, ist, dass die Kinder
so einen Bügelgehörschutz über dem Kopf haben. Es gibt kindsgerechte Varianten, wie neonpink, neon-gelb oder grün. Dann setzten die Kinder das auch gerne auf. Man wundert sich oft
wieso Kinder so gereizt reagieren. Das ist unter anderem eine Reaktion auf den Lärm.
EF: Was könnten Leute für dieses Bewusstsein zum Tragen von Gehörschutz tun?
Es gibt in vielen Kindergärten oder Schulen mittlerweile solche Lärmampeln. In manchen
Werkshallen sind diese in einer abgewandelten Variante.
Die Ampel hat Smileys: Rot ist ein trauriges Smiley, Grün ist ein fröhliches Smiley und Gelb ist
neutral. Und wenn die Akustik im Raum zu laut wird- wenn zu viel gekreischt, zu viel geklappert
wird– dann schlägt die Ampel von Grün auf Gelb und von Gelb auf Rot, so dass jeder eine
optische Kontrolle hat, ob sie dort zu laut sind. Und das können Kinder gut umsetzten. Oder die
Lehrer oder Erzieher sagen: “Schau hier auf die Ampel, wir sind viel zu laut.”
Oder man erklärt wirklich, was im Ohr kaputt gehen kann. Wir laden oft Kindergartengruppen
ein und zeigen ihnen, wie das Ohr aufgebaut ist. Wir erklären auch welche Teile besonders
empfindlich sind, was da passiert, wenn es laut knallt und es manchmal im Ohr weh tut.
EF: Würden Sie sich selbst als jemanden beschreiben, der empfindlich ist für Klänge und
Geräusche in Ihrer Umgebung? Wie stark hängt das mit Ihrem Beruf zusammen?
Ich denke schon. Das hängt ja mit meinem Beruf zusammen, weil oftmals gerade ältere Kinder,
Jugendliche oder junge Erwachsene mir bestimmte Klänge beschreiben. Sie bekommen ein Gerät
für zwei, drei Wochen zur Probe, kommen wieder und sagen: “Also das war in dieser oder jener
Situation nicht gut gewesen.” Und dann sagen sie etwas Konkretes wie: “Ich gehe zum Kegeln
und in dem Moment, in dem die Kugel den Pinn berührt, ist mir das Knallen viel zu laut.” Oder
sie sagen: “Ja, es ist alles in Ordnung. Aber meine kleine Enkeltochter, die hat so eine helle
kreischige Stimme und das klirrt in meinen Ohren.”
Wir geben den Eltern oft den Tipp, eine Hörsafari mit dem Kind zu veranstalten. Dabei geht man,
gerade wenn die Hörgeräte neu sind, in den Wald geht und horcht bewusst hin. Was kann ich
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überhaupt hören? Das Blätterrascheln, das Vogelzwitschern oder eine Grille, die ein Geräusch
von sich gibt. Sich einfach bewusst machen: was sind da für Geräusche.
Manchmal haben die Kinder Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen. Das bedeutet, dass
die Kinder die Fähigkeit verloren haben, sich bewusst auf etwas Gehörtes zu konzentrieren.
Normalerweise haben wir ein Filtersystem im Kopf und können zwischen wichtigen und
unwichtigen Information in allen Bereichen unterscheiden. Beim Hören sollte das natürlich ganz
unbewusst ablaufen. Wenn das nicht funktioniert, dann können diese Kinder nicht fokussieren
und sich auf die Stimme des Lehrers konzentrieren. Das wird sicherlich auch durch
Reizüberflutung verursacht. Egal, wo man hinkommt, welches Geschäft, welcher Laden, überall
läuft das Radio und der Fernseher. Und überall gibt es ein lautes Geräusch wegen den vielen
Menschen... und dass der Ein oder die Andere anfälliger dafür ist, bringt die Natur mit sich. Aber
es gibt auch Hörhilfen, die das unterstützen und verbessern können.
EF: Ist es schwierig Klänge zu beschreiben, auch wenn sie geübt sind?
Ich finde, es ist sehr schwierig Klänge zu beschreiben. Bei der Arbeit merkt man das. Es gibt
manchmal Leute, auch Kinder, die Dinge so hervorragend beschreiben können, dass ich genau
weiß, welches Geräusch oder was sie meinen. Dann gibt es wiederum welche, die können nur
zwischen laut und leise oder komisch und normal unterscheiden. Das sind die Begriffe, mit denen
sie arbeiten. Und es gibt Leute, die sagen: “Wenn sie sprechen, da höre ich so etwas wie ein
Zittern in der Stimme”, oder “ich höre ein leichtes Kratzen”, oder “ich habe das Gefühl, es
knistert bei bestimmten Buchstaben”. Wenn ich eine so genaue Beschreibung bekomme, dann
kann ich das viel besser umsetzten als wenn jemand einfach nur sagt: “Das Hörgerät ist blöd, es
ist zu laut”, weil es in den seltensten Fällen so ist, dass alles zu laut ist. Es geht eigentlich immer
um den Klangeindruck. Der Klangeindruck entscheidet, ob das Hörgerät genommen wird oder
nicht.
EF: Wie würden Sie die Klänge dieser Stadt beschreiben? Welche Klänge oder Geräusche sind
charakteristisch?
Es kommt immer darauf an, wo man ist. An manchen Stellen der Stadt ist es ganz idyllisch, da
gibt es noch Naturgeräusche. Wenn ich morgens durch das Kennelbad durchfahre, hört man ganz
leise die Geräusche der Fahrräder. Keiner spricht auf der Strecke. Und dann dieses Geräusch,
wenn man an bestimmte Stellen kommt, dann hört man auf einmal: “VVVVMMMM! ”, wie die
Autos vorbeifahren.
Wenn ich einen Klang von Braunschweig beschreiben muss, denk ich auch an den Jubel vom
Stadion. Wenn da gespielt wird, und man hört das noch so weit, das ist etwas, was zu
Braunschweig gehört, ein Klang.
Oder wenn die Jazz City Nights oder bestimmte Veranstaltungen stattfinden. Dann gibt es auch
noch schöne Klänge im Alltag und man muss vielleicht nur die Ohren offen halten. Man muss die
schönen Klänge fokussieren. Man kann nicht nur sagen: “Ja, es ist überall laut”. Es ist natürlich
oftmals laut, aber es muss nicht so sein, dass man die leiseren und schöneren Klänge gar nicht
mehr wahrnimmt.
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