Beitrag zur 97. Wissenschaftlichen Jahrestagung des ‚buss’, Berlin 2011 Exzessive Mediennutzung als komorbide Störung in der stationären Suchttherapie Müller, K.W. & Dickenhorst, U. Inhalt Teil 1: Einführung – Was ist unter „Internetsucht“ zu verstehen? Teil 2: Diagnostik der Internetsucht Teil 3: Projekt „Exzessiver Medienkonsum bei Patienten der stationären Rehabilitation“ Teil 3.1: Darstellung der Projektergebnisse Teil 3.2: Implikationen für die Praxis Gemeinsame Diskussion EINLEITUNG Entgleitende Verhaltensweisen Unkontrolliert ausgeführte Verhaltensweisen, wie z.B. ungezügeltes Kaufverhalten oder Glücksspielen sind verhältnismäßig alte Phänomene, die auch im psychiatrischen Kontext schon früh dokumentiert wurden (vgl. Ferenczi, 1919). EINLEITUNG Entgleitende Verhaltensweisen Über die Nosologie solcher Verhaltensweisen besteht jedoch nach wie vor Uneinigkeit Impulskontrollstörung ? Persönlichkeitsstörung ? Sekundäres Symptom ? Abhängigkeitserkrankung ? EINLEITUNG EINLEITUNG DSM-V soll modifiziert werden: „Addiction and Related Disorders“ als neue Bezeichnung des Kapitels „Substance-Related Disorders“ Pathologisches Glücksspiel als erste sog. „Verhaltenssucht“ im DSM-V in diesem Kapitel Internetsucht soll zunächst nur im Anhang des DSM-V aufgeführt werden EINLEITUNG Verhaltenssucht Exzessiv ausgeführte belohnende Verhaltensweisen, die die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen können EINLEITUNG Was ist „Internetsucht“ EINLEITUNG Einige Zahlen: Das Internet als Attraktionsmedium 96% der deutschen Jugendlichen Nutzen das Internet regelmäßig und 65% der Erwachsenen 65% der deutschen Jugendlichen Nutzen sind täglich online und 55% der Erwachsenen 132 Minuten verbringen deutsche Jugendliche durchschnittlich am Tag im Netz; Erwachsene 115 Minuten EINLEITUNG Internetsucht - Definition nach Shaw & Black (2008) „Exzessive und unzureichend kontrollierbare Eingenommenheit, Drang oder Verhalten bezüglich des Computergebrauchs und der Internetnutzung, welche zu einer Funktionsbeeinträchtigung und Stressbelastung führt. “ EINLEITUNG Ambulanz für Spielsucht: Anzahl Erstgespräche seit März 2008 350 300 250 200 150 100 50 342 334 329 316 300 282290 272 256263 249 238 231 226 218 214 209 202 190 1 81 172 165 153 141 129 119 110 101 8692 5967 35 44 21 0 Mar * Es handelt sich um kumulierte Daten Juni Sept Dez Mar Juni Sept Dez Mar Jun Sept Dez Stand: 31.01.2011 EINLEITUNG Prävalenz der Internetsucht in Hochrisikopopulationen Batthyány, Müller, Benker & Wölfling (2009) 2.7% Johanson & Götestam (2004) 1.9% Konstantinos et al. (2008) 5.9% Deng et al. (2007) 5.5% Kim et al. (2006) 1.6% Rehbein et al. (2010) 3.1% Ghassemzadeh et al. (2008) 3.8% EINLEITUNG Prävalenz der Internetsucht: Ergebnisse repräsentativer Studien Müller et al. (2010) 0.5% Aboujaoude et al. (2006) 0.7% EINLEITUNG Befunde aus neurowissenschaftlichen Studien EINLEITUNG Vorgeschlagene Kriterien für Internetsucht (nach Young, 1996, Tao et al. , 2010, Wölfling et al., 2010) Craving Unkontrollierbarer Wunsch Starke (gedankliche) Eingenommenheit Toleranzentwicklung Zunahme in Frequenz, Intensität bzw. Dauer / Konsumsteigerung Entzug Aversive Zustände bei Konsumverhinderung Fortgeführter Konsum Konsumkontinuität trotz des Eintretens negativer Konsequenzen Kontrollverlust Geringe / fehlende Steuerungsmöglichkeit über Konsumhäufigkeit & Konsumdauer Emotionsregulation Intendierte Beeinflussung des Affektes durch den Konsum Interessenverlust Internetverhalten als Präokkupation EINLEITUNG Projekt: “Exzessive Mediennutzung als komorbide Störung in der stationären Suchttherapie” EINLEITUNG Dunkelziffern und Internetsucht: Besteht bei Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung ein erhöhtes Risiko für Internetsucht FORSCHUNGSFRAGEN 1) Wie häufig kommt Internetsucht (IS) als komorbide Störung bei Patienten vor, die wegen einer anderen Abhängigkeitserkrankung in Behandlung sind 2) Durch welche soziodemografischen Besonderheiten zeichnen sich diese Patienten aus 3) Weisen Patienten mit komorbider IS spezifische Symptombelastungen bzw. weitere Komorbiditäten auf 4) Durch welche subklinischen Merkmale sind Patienten mit komorbider IS charakterisierbar 1751 Neuaufnahmen aus 15 Kliniken nahmen an der Untersuchung teil METHODE Rekrutierung und Datenanalyse Internetsucht-Screening bei allen Neuaufnahmen innerhalb eines halben Jahres N = 1751 Weiterführende psychologische Beschreibung (NEO-FFI; SCL-90R; PSS; PHQ) Experimentalgruppe: Patienten mit komorbider IS (OSV-S > 7) matched nach Alter und Geschlecht Kontrollgruppe: Patienten ohne IA (OSV-S < 7) EINLEITUNG METHODE Messinstrumente OSV-S Skala zum Onlinesuchtverhalten PHQ Patient´s Health Questionnaire; komorbide Störungen BDI-II Beck´s Depression-Inventory; klinische Depression SCL-90R Symptomchecklist 90R; globale und spezifische Symptombelastung PSS Perceived Stress Scale; Stressvulnerabilität Brief COPE Copingstrategien NEO-FFI NEO Five Factor Inventory; Persönlichkeitsmerkmale ERGEBNISSE Soziodemografische Beschreibung der Stichprobe männlich (85.7%) Alter: M = 39.9 (SD = 12.39) Range: 14 – 74 Jahre weiblich (14.3%) Familienstand: 45.4% Single; 20.9% verheiratet; 17.7% geschieden Beruflicher Status: 45% arbeitssuchend; 29.2% angestellt; 5.8% berentet; 1.8% Schüler / Student ERGEBNISSE 1) Klinische Prävalenz komorbider Internetsucht ERGEBNISSE Klinische Prävalenz der Internetsucht unauffällig (95.9%) abhängig (1.4%) missbräuchlich (2.7%) 4.1% der Stichprobe ist als suchtartige Nutzer zu klassifizieren; die Prävalenz liegt höher als in der Allgemeinbevölkerung ERGEBNISSE Soziodemografische Charakteristiken Im Vergleich zu Patienten ohne Internetsucht sind Patienten mit komorbider Internetsucht… 1) … häufiger männlich (97.3% vs. 81.4%) 2) … jünger (28.7 Jahre vs. 39.8 Jahre) 3) … häufiger Single (75.6% vs. 48.9%) ERGEBNISSE ohne IS komorbide IS Hauptdiagnose und Internetsucht 75% 50% 18,2% 25% 13,0% 12,5% 8,9% 7,7% 2,2% 1,7% ) d oi pi O ho l ko an (A ) (A e S PG ) (M de r Al Al ko ho l s Ca nn ab i s ab i nn Ca (A (M ) ) 0% ERGEBNISSE 2) Vergleich hinsichtlich der Symptombelastung (SCL-90R; PHQ) ERGEBNISSE Subskalen der SCL-90R Kontroll Internetsucht Phobische Angst Psychotizismus Aggressivität Somatisierung Ängstlichkeit Paranoides Denken Zwanghaftigkeit Depressivität Soziale Unsicherheit 0 0,25 0,5 0,75 1 1,25 1,5 ERGEBNISSE Globaler Schwereindex (GSI) der SCL-90R Internetsucht Kontroll 0,95 GSI 0,54 0 0,25 0,5 0,75 1 ERGEBNISSE Allgemeine und spezifische Symptombelastung (SCL-90R) Subskala Mittelwert (Standardabweichung) Signifikanz Somatisierung 0.78 vs. 0.47 (.80 vs. .44) t(111.88)=2.76; p<.01 Zwanghaftigkeit 1.15 vs. 0.63 (.90 vs. .65) t(115.73)=3.67; p<.001 Unsicherheit im Sozialkontakt 1.21 vs. 0.67 (.93 vs. .57) t(114.97)=3.90; p<.001 Depressivität 1.19 vs. 0.68 (.90 vs. .62) t(115.99)=3.59; p<.001 Ängstlichkeit 0.88 vs. 0.46 (.85 vs. .61) t(115.71)=3.13; p<.01 Aggressivität 0.75 vs. 0.46 (.79 vs. .47) t(113.61)=2.48; p<.01 Phobische Angst 0.58 vs. 0.27 (.79 vs. .49) t(115.22)=2.63; p<.05 Paranoides Denken 1.06 vs. 0.67 (.87 vs. .57) t(115.81)=2.95; p<.01 Psychotizismus 0.74 vs. 0.43 (.75 vs. .46) t(114.78)=2.82; p<.01 Globaler Schwereindex (GSI) 0.95 vs. 0.54 (.74 vs. .48) t(115.77)=3.66; p<.001 ERGEBNISSE Allgemeine und spezifische Symptombelastung (SCL-90R) Subskala Effektstärke (d) Unsicherheit im Sozialkontakt .73 Zwanghaftigkeit .69 Depressivität .67 Ängstlichkeit .59 Paranoides Denken .55 Psychotizismus .53 Somatisierung .52 Phobische Angst .49 Aggressivität .47 GSI .69 ERGEBNISSE Weitere Verdachtsdiagnosen gemäß PHQ Vermutete komorbide Störung F32.0, F32.1, 32.2 Internetsucht vs. Kontroll 36.5% vs. 12.5% Leichte bis schwere depressive Episode F41.0 18.8% vs. 16.7% Panikstörung F45.1 Undifferenzierte Somatisierungsstörung 16.5% vs. 4.2% ERGEBNISSE Ergebnisse aus den Subskalen des PHQ Die Internetsucht-Gruppe hat mit durchschnittlich 1.2 (vs. 0.5) signifikant mehr weitere Diagnosen als die Kontrollgruppe Sowohl in der PHQ-Skala Depressivität, als auch in der Skala Somatisierung weist die Internetsucht-Gruppe signifikant höhere Werte auf als die Kontrollgruppe Mittelwert (SD) Signifikanz Internetsucht Kontroll Skala „Depression“ 11.0 (6.38) 6.5 (5.33) t(115)=4.02; p<.001 Skala „Somatisierung“ 9.3 (5.98) 5.8 (6.42) t(115)=3.01; p<.01 ERGEBNISSE Depression: Gruppenzuordnung mittels BDI-II Internetsucht Kontroll milde depressive Symptomatik (24.3%) milde depressive Symptomatik (27.1%) unauffällig (24.3%) unauffällig (47.9%) klinisch relevante Depression (51.4%) Mittelwert (SD): 29.7 (12.74) t(115.58)=2.25, p<.001 klinisch relevante Depression (25.0%) Mittelwert (SD): 12.1 (9.25) ERGEBNISSE Ergebnisse zum Leidensdruck (PHQ) 1) Wie sehr stören Sie die Beschwerden bei der Arbeit? Internetsucht (M=6.0, SD=3.26) t(114)=5.63, p<.001 Kontroll (M=2.7, SD=3.13) 2) Wie sehr stören die Beschwerden Ihr Sozialleben? Internetsucht (M=6.0, SD=3.00) t(115)=3.91, p<.001 Kontroll (M=3.7, SD=3.25) 3) Wie sehr stören die Beschwerden Ihr Familienleben? Internetsucht (M=5.7, SD=2.86) t(114)=3.31, p<.001 Kontroll (M=3.8, SD=3.15) 3) Weitere Charakteristiken von Patienten mit Internetsucht 3.1) Stressvulnerabilität und Stressbewältigungsstrategien (BRIEF-COPE; PSS) 3.2) Persönlichkeitsmerkmale (NEO-FFI) ERGEBNISSE Ergebnisse zu allgemeinen Stressvulnerabilität (PSS) 19.8 23.6 0 5 10 NORMBEREICH 15 20 25 ERHÖHT 30 35 40 ERGEBNISSE Ergebnisse zu allgemeinen Stressvulnerabilität (PSS) Mittelwert (SD) PSS Internetsucht Kontroll 23.5 (6.11) 19.8 (5.75) Signifikanz t(116)=3.35, p<.001 Patienten mit komorbider Internetsucht weisen eine deutlich erhöhte allgemeine Stressanfälligkeit auf ERGEBNISSE Ergebnisse zu Copingstrategien (BriefCOPE) Substanzkonsum Substanzkonsum Verleugnung Verleugnung Aufgabe komorbide Internetsucht Kontroll Norm Aufgabe t(110.52)=2.12, p<.01 Selbstvorwürfe Selbstvorwürfe t(116)=2.18, p<.05 Ablenkung Ablenkung Medienfokussiert Medienfokussiert t(116)=6.22, p<.001 0 1 2 3 4 ERGEBNISSE Ergebnisse zu Copingstrategien (BriefCOPE) Humor komorbide Internetsucht Kontroll Norm Humor GefühleGefühleausleben ausleben Pos. Umdeuten Positives Umdeuten Coping Aktives Aktives Coping t(116)=2.45, p<.05 Unterstützung Emot. Emot. Unterstützung Planung Planung Instrument. Unterst. Instr. Unterstützung 0 1 2 3 4 4) Personale Risikofaktoren bei Patienten mit Internetsucht Persönlichkeitsmerkmale (NEO-FFI) VORBEFUNDE Erste Modelle zur Ätiopathogenese der Internetsucht gehen von störungsspezifischen Ausprägungen auf Ebene der Persönlichkeit als prädisponierende Faktoren aus Eine zentrale Rolle spielen: Erhöhter Neurotizismus, ausgeprägte Introversion und verminderte Gewissenhaftigkeit ERGEBNISSE Big-Five im Vergleich der klinischen Gruppen komorbide IS Neurotizismus Kontroll Gewissenhaftigkeit Gewissenhaftigkeit Verträglichkeit Verträglichkeit Extraversion Extraversion Offenheit Offenheit ERGEBNISSE Ergebnisse zu den Big-Five (NEO-FFI) Mittelwert (SD) Signifikanz Internetsucht Kontroll Neurotizismus 2.4 (0.69) 1.9 (0.64) t(116)=4.15, p<.001 d=.78 Extraversion 1.9 (0.66) 2.2 (0.46) t(115.99)=2.58, p<.05 d=.48 Offenheit 2.2 (0.58) 2.4 (0.61) ns Verträglichkeit 2.1 (0.33) 2.2 (0.29) ns Gewissenhaftigkeit 2.2 (0.57) 2.7 (0.52) t(116)=3.48, p<.001 Patienten mit Internetsucht weisen eine spezifische Persönlichkeitsausprägung auf d=.65 ZUSAMMENASSUNG 1) … Internetsucht tritt bei Patienten der stationären Rehabilitation häufiger auf als in der Normalbevölkerung 2) … eine besondere Häufung komorbider IS ist bei jüngeren, männlichen Patienten mit der Hauptdiagnose Cannabisabhängigkeit und Pathologisches Glücksspiel zu verzeichnen 3) … Patienten mit komorbider IS weisen eine höhere spezifische Symptombelastung auf, sowie ein erhöhtes Risiko für weitere Psychopathologien 4) … bisherige Annahmen zu prädisponierenden Faktoren für IS bestätigen sich VIELEN DANK FÜR IHRE AUFMEKRSAMKEIT !