INTERNETSUCHT GESCHICHTE • Der Begriff „Internetsucht“ wurde erst 1995 als scherzhafte Scheindiagnose vom amerikanischen Psychiater Ivan Goldberg eingeführt, der in Anlehnung an das DSMIV Diagnoseschema eine Liste mit Symptomen zur Internetsucht veröffentlichte. Statt wie erwartet lustige Reaktionen von KollegInnen zu ernten, nahmen viele seine Publikation ernst und WissenschaftlerInnen begannen professionelle Untersuchungen über das Verhalten von InternetnutzerInnen durchzuführen. • Die Zahl der Betroffenen, die sich durch den Artikel von Goldberg angesprochen fühlten, stieg rasch an und bald wurden erste Zahlen zur Prävalenz der Internetsucht veröffentlicht. Kimberly Young von der University of Pittsburgh war eine der Ersten, die Untersuchungen zur Prävalenz der Internetabhängigkeit anstellte, wobei sie zu Beginn ihrer Forschungen annahm, dass bis zu 20% der amerikanischen Bevölkerung vom Internet abhängig sei – allerdings revidierte sie diese Zahl nach Durchführung weiterer Studien auf ca. 6%. Die Forscherin schrieb das Fachbuch „Caught in the Net/Suchtgefahr Internet“ und gründete das „Center for Online Addiction“ – bis heute eine der wichtigsten Anlaufstellen für diese Störung. PRÄVALENZ • Die Erfassung von Daten bezüglich Prävalenz und Epidemiologie der Internetsucht gestaltet sich schwierig, da es keine einheitlichen Untersuchungen gibt, die Studien sind meist Stichproben und es werden derzeit keine standardisierten Testungen angewandt. • Verschiedene Untersuchungen auf dem Gebiet der Internetforschung haben ergeben, dass das Phänomen „internet addiction“ in den USA mit 6% - 9% beziffert werden kann. • Weltweit schätzt man, dass ca. 7% aller InternetnutzerInnen einen „pathological internet use“ aufweisen. • Über Europa gibt es noch keine umfassenden statistischen Daten, da noch keine einheitlichen Untersuchungen durchgeführt wurden. Bei den Studien, die bislang auf diesem Gebiet gemacht wurden, handelt es sich meist um regionale Stichproben, die darauf hinweisen, dass die Prävalenz der Internetabhängigkeit etwas über den Zahlen, die aus den USA vorliegen, liegt, nämlich bei ca. 12%. So verfassten die österreichischen Mediziner Hans Zimmerl und Beate Panosch 1998 die erste größere Untersuchung im deutschsprachigen Raum, die sich vorwiegend mit dem Phänomen des „Chattens im Internet“ beschäftigte. Die beiden ForscherInnen wollten mit diesem Projekt die in Nordamerika propagierte Existenz der „internet addiction disorder“ wissenschaftlich hinterfragen. In einem der beliebtesten deutschsprachigen Chatrooms wurde ein Link zu einem Online-Fragebogen installiert, der ca. 2 ½ Monate abrufbar war. Die StudienteilnehmerInnen konnten diesen Fragenkatalog online ausfüllen, und die Auswertung erfolgte an der Medizinschen Fakultät Innsbruck. 519 Bögen wurden ausgefüllt, von denen 473 verwertet werden konnten. Die Studie ergab, dass von 473 ProbandInnen 12,7% ein suchtartiges Verhalten bei der Nutzung des Internets aufwiesen – Zimmerl und Panosch bezeichneten dies als „Pathologischen InternetGebrauch (PIG)“. Von diesen 12,7% bejahten 30,8% die Frage nach rauschähnlichen Zuständen beim Chatten, und sogar 40,9% dieser Subgruppe stuften sich selbst als „süchtig“ ein. • Laut Gallup Institut lag 2001 die Zahl der täglichen InternetbenutzerInnen in Österreich bei rund 1 Million, wobei diese Zahl bis Ende 2005 laut AIM (Austrian Internet Monitor) auf rund das Doppelte angestiegen ist. • Eine Internetuntersuchung in Deutschland, die von ARD/ZDF im Jahre 2003 online durchgeführt wurde, ergab, dass über 55% der Deutschen Bevölkerung Zugang zum Internet haben. Die Nutzungsdauer verschiedener Medien in der Gruppe der 14-19 wurde in Tabelle 1 zusammengefasst: Tabelle 1: Nutzungsdauer verschiedener Medien Mo-So, in Min/Tag Fernsehen º 117 Hörfunk ¹ 163 Internet ² 59 Tageszeitungen ³ 10 Tonkassetten ¹ 53 Bücher ³ 20 Zeitschriften ³ 8 Video ¹ 6 Quelle: 0) AGF/GfK 1) Media Analyse 2002 Radio 2) ARD/ZDF-Online Studie 2002 3) ARD/ZDF Langzeitstudie Massenkommunikation Werte 2002 GENDERSPEZIFISCHE ASPEKTE DER INTERNETABHÄNGIGKEIT • Die Motivation das Internet zu benutzen wird auch von geschlechtsspezifischen Aspekten bestimmt; so suchen Männer im Internet vor allem Zerstreuung und Ablenkung und verbringen täglich mehr Zeit im world-wide-web. Frauen hingegen nutzen das Internet vorwiegend zur Kommunikation und verwenden dazu in verstärktem Maße den E-Mail-Versand. Tabelle 2 zeigt die Nutzung von Onlinediensten in Abhängigkeit vom Geschlecht: Tabelle 2: FRAGE: Haben sie persönlich das Internet – geschäftlich oder privat – in den letzten 12 Monaten genutzt? 1998 1999 2000 2001 Männer 26% 33% 46% 51% Frauen 13% 17% 29% 36% Quelle: Euro.net.Studie 2002 • Der typische Internetuser ist jung, männlich, gebildet, „wohlhabender“ und Student. SUCHTENTWICKLUNG • Der Grund, warum das Internet auf viele Menschen so anziehend wirkt, ist die Wahrung ihrer Anonymität. Niemand, der das nicht möchte, muss seine Identität bekannt geben, und somit bleiben vielleicht ungeliebte Charakterzüge oder auch Aussehen und Eigenheiten im Verborgenen. Soziale Klassen spielen keine Rolle und man kann mit Menschen ohne Scheu in Kontakt treten, mit denen man sonst nicht so einfach kommunizieren oder sie sogar meiden würde. Vor allem Menschen mit wenigen realen sozialen Kontakten können das Internet zur Kontaktaufnahme mit Anderen nutzen. Eine Untersuchung von schwedischen Wissenschaftlern belegt, dass Einsamkeit bei exzessiven Internetbenützern im Vergleich zur Normalbevölkerung in erhöhtem Maße zu finden ist. • Interessant erscheint auch, dass Personen mit pathologischem Internetgebrauch oftmals dazu tendierten, Online-Beziehungen als bedeutungsvoller im Vergleich zu persönlichen Kontakten einzustufen, und so können Kontaktstörungen zum sozialen Umfeld, Depression oder Vereinsamung durch den Rückzug in die virtuelle Welt verstärkt werden. • Die Flucht vor der Realität scheint ein weiterer Verstärker in der Entwicklung der Internetabhängigkeit zu sein, da Minderwertigkeitsgefühle, Integrationsschwierigkeiten, Einsamkeit oder auch Probleme mit dem persönlichen Umfeld in den Hintergrund rücken und das Internet mit seinen geschützten, anonymen Räumen aufgesucht wird. Auch das Experimentieren mit der eigenen Identität ist im Cyberspace ohne Problem möglich. Arbeitsplatzwechsel, neue Geschlechterrolle, ständig wechselnde Technologien erfordern eine gewisse Flexibilität, die für manche Menschen in der Realität nur schwer erreichbar scheint. Das Internet bietet diesen Personen den idealen Raum Dinge spielerisch umzusetzen, die sie in Wirklichkeit nur schwer erreichen könnten. SYMPTOMATIK DER INTERNETABHÄNGIGKEIT • Die Internetsucht wird zu den substanzunabhängigen Süchten gezählt. Unter diesen Begriff fallen auch Kauf-, Sex-, Arbeits-, Spiel- und Esssucht. Im ICD-10 und im DSM IV ist die Internetsucht derzeit noch nicht aufgeführt, allerdings erfasst der Diagnoseleitfaden des DSM IV die Gruppe der “Störungen der Impulskontrolle“, darunter das „Pathologische Spielen“, dessen Kriterien sich auf die „Pathologische Internetbenutzung“ übertragen lassen. Die Diagnose „Internet-Abhängigkeit“ ist zurzeit noch umstritten, jedoch mehren sich die Anstrengungen dieses Phänomen wissenschaftlich zu explorieren und Kriterien für eine Diagnose zu entwickeln. • Verschiedene WissenschaftlerInnen haben versucht diagnostische Kriterien für die Internetsucht zu entwickeln. Zimmerl, Panosch und Maser erstellen 2001 eine psychiatrische Verdachtsdiagnose „Pathologischer Internet-Gebrauch (PIG)“. Folgende diagnostische Kriterien werden empfohlen: o Häufiges unüberwindliches Verlangen ins Internet einzuloggen o Kontrollverluste (d.h.: längeres Verweilen „online“ als geplant) verbunden mit diesbezüglichen Schuldgefühlen o Sozial störende Auffälligkeit im engsten Kreis der Bezugspersonen o PIG-bedingtes Nachlassen der Arbeitsfähigkeit o Verheimlichung/Bagatellisieren der Gebrauchsgewohnheit o Psychische Irritabilität bei Verhinderung am Internet-Gebrauch o Mehrfach fehlgeschlagene Versuche der Einschränkung Es werden 3 Stadien unterschieden: o Gefährdungsstadium: Vorliegen von bis zu 3 der og. Kriterien in einem Zeitraum von bis zu 6 Monaten o Kritisches Stadium: Vorliegen von zumindest 4 der og. Kriterien in einem Zeitraum von bis zu 6 Monaten o Chronisches Stadium: Vorliegen von 4 oder mehr der og. Kriterien über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten plus damit einhergehendes Vorliegen irreversibler psychosozialer Schäden wie Jobverlust, Trennung von Partner/Familie, soziale Selbstisolation, inadäquate Verschuldung durch exorbitante Telefonkosten sowie mögliche somatische Schäden im Bereich des Sehapparates bzw. des Bewegungs- und Stützapparates • So wie bei allen anderen Süchten kommt es auch bei der Internetsucht zu einer Einengung des Verhaltensraumes, zu Kontrollverlust, zu einer Toleranzentwicklung, zu Entzugserscheinungen und zu negativen sozialen Konsequenzen. Laut André Hahn und Matthias Jerusalem, Forschern, dies sich umfassend mit der Internetabhängigkeit beschäftigt haben, wird die Internetsucht als moderne Verhaltensstörung und eskalierte Normalverhaltensweise angesehen, im Sinne eines exzessiven, auf ein bestimmtes Medium ausgerichtetes Extremverhaltens. Das Internet selbst ist nicht Ursprung der Verhaltensstörung, sondern lediglich der Austragungsort. • Subtypen der Internetsucht: o Online Sex: Laut Cooper (1998) spielen hier die „3A“ eine Rolle („Triple A Engine“): accessibility (Zugänglichkeit), affordability (Erschwinglichkeit), anonymity (Anonymität) Eine Beeinträchtigung der Lebensführung ist eher selten. Diese Beschäftigung dient vor allem zum Zeitvertreib. Befriedigung bizarrer sexueller Bedürfnisse o Online Gambling (Spielen): Das pathologische Glücksspiel ist im ICD-10 klassifiziert und im DSM-IV als Störung der Impulskontrolle beschrieben. Online Casinos sind zu jeder Zeit und für Jedermann/frau (volljährig oder nicht, durch Substanzen beeinträchtigt oder nicht) geöffnet, es herrscht kein Zeitdruck und die SpielerInnen bleiben anonym. o Online Relationships (Online Romanze) Das Prinzip (nach Lynn Cherry 1998) lautet: „ What you is what I say.“ Es kann und wird nur das projiziert, was der Andere sehen soll. Durch solche Beziehungen haben Menschen die Möglichkeit sich der Gesellschaft zu entziehen. Im Allgemeinen gilt, dass Online Beziehung nur dann über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten werden können, wenn weitere Medienkanäle (z.B.: Telefon) oder ein persönlicher Kontakt von Angesicht zu Angesicht hinzukommen. o Multi-User Dungeons (Online Rollenspiele) Zentrales Motiv ist die Flucht in Scheinwelten Die TeilnehmerInnen haben das Gefühl, dass sie die „community“ und die Charaktere, die sie im Spiel verkörpern, nicht im Stich lassen können. Einige PatientInnen „mudden“ (versumpfen) mehr als 70 Std / Woche im Internet. o Web Cruising („Surfen“) und E-Mail Checking (Versand von Internetnachrichten) Die Motive zum übermäßigen Versand von Internetnachrichten und zum nicht zielgerichteten „Surfen“ im Internet sind die Suche nach Zerstreuung und Ablenkung. Eine spezielle Form ist die „addiction to 5 minutes task“ – neurotischen Arbeitsstörung. INTERNETSUCHT UND KOMORBIDITÄT • Laut Zimmerl und Panosch sind folgende PatientInnen besonderns gefährdet eine Internetabhängigkeit zu entwickeln: o PatientInnen mit unreifer Ich-Struktur o PatientInnen mit positiver Suchtanamnese o PatientInnen mit depressiver Symptomatik o PatientInnen mit hypomanen Attacken • PatientInnen mit narzisstischen Persönlichkeitsstörungen Derzeitig vorliegende Studienergebnisse belegen, dass Internetabhängigkeit häufig mit verschiedenen psychiatrischen Störungen wie Alkoholabhängigkeit und Depression assoziiert ist. Menschen, die signifikant mehr Zeit mit der Nutzung des Internets verbringen, zeigen in hohem Ausmaß Verhaltensweisen, wie sie bei „traditionell“ Substanzabhängigen bisher zu beobachten waren; beispielsweise werden sowohl rauschähnliche Gefühle bei Nutzung des Internets als auch ein Gefühl der Ohnmacht beim Versuch sich dem Internet zu entziehen von exzessiven Internetbenutzern berichtet. • Einige Forscher, Young & Rogers 1998 sowie Orzack & Orzack 1999, haben das gleichzeitige Vorliegen von affektiven Störungen und Internet untersucht, und sind hierbei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Internetabhängigkeit in manchen Fällen als Symptomen einer affektiven Störung (Depression) anzusehen ist. Auch Kraut hat 1998 seine sogenannte „home.net“-Studie diesem Thema gewidmet und ist zu dem Schluß gekommen, dass die Häufigkeit des Online-Seins mit dem Grad der Depression korreliert. • Weiters bestehen Hinweise darauf, dass das Vorliegen einer Attention Deficit Hyperactivity Disorder (ADHD) einer der Hauptrisikofaktoren zur Entwicklung einer Internetabhängigkeit sein könnte. In einer koreanischen Studie, in der 535 Kinder mit einem durchschnittlichen Alter von 11 Jahren auf ADHD-Symptome untersucht wurden, wiesen die Ergebnisse auf eine übermäßig hohe Korrelation zwischen dem Hyperaktivitätssyndrom und einer Internetsucht hin. INTERNETSUCHT BEI JUGENDLICHEN • Jugendliche nutzen das Internet häufiger als Erwachsene. Einen Überblick dazu bietet Tabelle 3: 1998 1999 2000 2001 14-17 Jahre 31% 44% 60% 66% 18-24 Jahre 45% 53% 66% 71% 25-34 Jahre 33% 37% 56% 63% 35-44 Jahre 22% 27% 45% 56% 45-54 Jahre 19% 25% 38% 47% > 54 Jahre 3% 6% 13% 15% Tabelle 3: Haben Sie persönlich das Internet – geschäftlich oder privat - in den letzten 12 Monten genutzt? Quelle: Euro.net.Studie 2002 • Die Forscher Hahn und Jerusalem beschäftigten sich 2001 in einer umfassenden Studie mit dem Thema „Jugendliche und Internet“. Auch nach den Ergebnissen dieser Untersuchung ist eine Abhängigkeit vom Internet bei Jugendlichen viel häufiger zu beobachten als dies bei Erwachsenen der Fall ist. Das Internet ist für Jugendliche ein Instrument zu Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung, das vor allem in der Phase der Pubertät und des Erwachsenwerdens ein Medium darstellt, in dem sie scheinbar gefahrlos Dinge ausprobieren und sich in viele Richtungen orientieren können. Auch als Mittel zur Abgrenzung gegenüber der Erwachsenenwelt bietet sich das Internet an. Die Gefahren liegen jedoch auf der Hand – Realitätsverlust, Abgleiten in eine „Cyberwelt“, Unfähigkeit reale Beziehungen aufzubauen und diese auch zu pflegen sowie Aufbau von falschen Realitäten. BEHANDLUNG DER INTERNETABHÄNGIGKEIT • Beratung und Hilfe werden derzeit vor allem in jenem Medium angeboten, in dem sich die Internetsucht etabliert hat – nämlich im Internet selbst. In Anbetracht der anonymen Behandlungsmöglichkeiten nehmen Betroffene dieses Beratungsangebot in erhöhtem Maße in Anspruch. Auch wirkt sich die enorme Medienkompetenz der Internetsüchtigen positiv auf die Behandlungsbereitschaft dieses PatientInnenklientels aus. • Verschieden Behandlungsschemata werden derzeit zur Therapie der Internetsucht eingesetzt: o Verhaltenstherapeutische Maßnahmen o Kognitiv-behaviorale Methoden in Kombination mit Psychopharmaka (beispielsweise bei gleichzeitigem Vorliegen einer Depressio) o Derzeit noch keine standardisierten Therapien vorhanden o Entwicklung und Evaluierung von Behandlungsleitlinien dringend notwendig LITERATUR: 1. Kimerbly S. Young (Hrs.) Caught in the Net/Suchtgefahr Internet. Verlag Kösel (April 2002). ISBN 3466304903 2. André Hahn & Matthias Jerusalem. Internetsucht: Jugendliche gefangen im Netz. Raithel, J. (2001) (Hrsg.): Risikoverhaltensweisen Jugendlicher. Formen, Erklärungen und Prävention. Opladen: Leske + Budrich. 3. Zimmerl, H.D. & Panosch, B. (1999). INTERNETSUCHT - Eine neumodische Krankheit? URL: http://gin.uibk.ac.at/gin/thema/gin.cfm?nr=11267