dossier zur medienbildung Verhaltensauffällige PC- und Internetnutzung - Wenn exzessiver Medienkonsum süchtig macht 12.02.08 | Anlässlich des Safer Internet Day hat mekonet ein Dossier zusammengestellt, das sich dem Thema Abhängigkeit im Zusammenhang mit den Neuen Medien widmet. Der weltweite Aktionstag für mehr Sicherheit im Netz wird zum fünften Mal veranstaltet. Safer Internet Day 2008 Die neuen Medien, allen voran der Personal Computer haben den gesellschaftlichen Umgang mit Kommunikation nachhaltig verändert. Beinahe jeder Haushalt in Deutschland verfügt heutzutage über einen internetfähigen PC, über den gechattet, telefoniert, Musik und Videos ausgetauscht, online gespielt und sich in Foren über alle nur erdenklichen Themen ausgetauscht wird. Immer häufiger wird im Zusammenhang mit dieser neuen Art von Kommunikation die Besorgnis über eine drohende Internetsucht geäußert. Doch gibt es eine solche Sucht überhaupt? Das mekonet Dossier versucht, den Begriff kritisch zu beleuchten und zu erläutern, wann eine Verhaltensabhängigkeit vorliegt und was man (bereits präventiv) gegen sie tun kann. Ab wann wird der Internetkonsum zur Abhängigkeit und auf welche Bereiche erstreckt sich dieses Suchtverhalten? Internetsucht oder Online-Sucht – Was soll das sein? Als Sucht wird gemeinhin eine pathologische, also krankhafte körperliche (physische) oder seelische (psychische) Abhängigkeit verstanden, die sowohl stoffgebunden als auch unabhängig von Substanzen auftreten kann. Klassische stoffgebundene Abhängigkeiten sind zum Beispiel Alkohol- oder Nikotinabhängigkeit, während nicht stoffgebundene Abhängigkeit, sich häufig an sozialen Verhaltensauffälligkeiten festmachen lässt. So zum Beispiel Arbeits-, Spiel-, Sammel- oder Sexsucht, die alle samt als Verhaltenssüchte gelten. Analog zu dieser allgemeinen Definition von Sucht lässt sich nun der Begriff „Internetsucht“ als nicht stoffgebundene Abhängigkeit zuordnen und wäre damit in die Reihe der Verhaltensüchte aufzunehmen. Die zu beobachtende Verhaltensauffälligkeit ist dabei der pathologische Internetgebrauch (PIG) von Onlineangeboten aller Art. Häufigster Kritikpunkt bei der Einordnung von PIG in die Reihe der Süchte, ist jedoch die meist nur mittelbare Rückführbarkeit eines Krankheitsbildes auf den Internetkonsum. Mit anderen Worten: eine übermäßige oder auch exzessive und pathologische Nutzung des Internet ist in der Regel nicht die Ursache, sondern Symptom einer bereits vorher vorhandenen psychischen Erkrankung. So wiesen beispielsweise 80 Prozent der Patienten einer Fallstudie zum Thema Internetsucht an der Medizinischen Hochschule Hannover bereits vor ihrem exzessiven Internetkonsum ein „ depressives Syndrom“ auf. Andere Motive für den pathologischen Internetgebrauch sind möglicherweise Schüchternheit, geringer Selbstwert, Einsamkeit, Stress, Langeweile, Ängstlichkeit, vermuten z. B. Young oder auch Hahn und Jerusalem. Stimmt also das Bild des zurückgezogenen Internetnutzers, der außerhalb der virtuellen Welt nur wenig soziale Kontakte pflegt, Single ist und sich seine eigene kleine Cyberwelt aufgebaut hat? Andere Studien, wie etwa die von Scherer scheinen dies zu widerlegen: befragte Studenten, die angaben, internetsüchtig zu sein, erfüllten das Klischee des depressiv, zurückgezogenen Eigenbrödlers in der Regel nicht. Derzeit fehlen also verlässliche Instrumentarien, die jenseits der wenig hilfreichen Stereotype, verhaltensauffälliges Mediennutzungsverhalten erkennbar machen und klären, ab wann der Gebrauch von Internetangeboten als pathologisch einzustufen ist. Pathologischer Gebrauch des Internet und Angebote mit Suchtpotenzial Alltagssprachlich lässt sich „pathologisch“ mit dem Wort „krankhaft“ übersetzen. Der pathologische Internetgebrauch umschreibt demnach eine „krankmachende“ Nutzung des Internet. Dies kann zunächst auch durchaus wörtlich verstanden werden, wie ein kürzlich aufgetretener Fall in Belgien anschaulich dokumentiert: im Januar 2008 spielte sich hier ein 15jähriger bis ins Koma. Nachdem er wieder erwachte, gab er in einem Interview an, oftmals ganze Nächte mit Onlinerollenspielen verbracht zu haben. Um trotz des Schlafdefizits leistungsfähig zu bleiben, trank er literweise Kaffee und Energy-Drinks. Hier zeigte die exzessive Internetnutzung direkte körperliche Auswirkungen, die zu einer dramatischen Verschlechterung der Körperfunktionen führte. Doch nicht in jedem Fall lässt sich ein pathologischer Internetgebrauch so eindeutig an der Quantität der Nutzung ablesen. Schüler(innen), Student(inn)en oder Berufstätige, die zu einem komplexen Thema recherchieren, verbringen teils über Tage oder Wochen regelmäßig mehrere Stunden täglich im Internet, ohne dass man ihren Internetkonsum als pathologisch beschreiben würde. Nicht jeder zeit- und kostenintensive Internetgebrauch kann demnach als „krankmachend“ bezeichnet werden. Die entscheidende Frage wäre also, wie lässt sich ein pathologisches Nutzerverhalten präziser von erwünschtem oder notwendigem Gebrauch des Internets als Teil einer neuen Medienkultur unterscheiden und bereits im Vorfeld erkennen? Feststellungen, wie etwa, Süchtige ließen ihr ganzen Leben durch das Internet bestimmen, bieten hier weder für Betroffene noch für besorgte Beobachter(innen) Anknüpfungspunkte, da erstens die Nicht-Anerkennung der eigenen Sucht in der Regel zum Krankheitsbild gehört und zweitens, die Wahrnehmung wer hier von wem beherrscht wird, meist eine höchst subjektive Einschätzung ist. Dennoch gibt es konkrete Punkte, die auf eine pathologische Internetnutzung hinweisen. Im Folgenden listen wir einige auf: Symptome exzessiven und krankhaften Internetgebrauchs Eingeschränktes Sozialverhalten Betroffene Personen gehen nicht mehr gerne aus dem Haus, um sich mit Freunden und Bekannten zu treffen, sondern würden ihre Zeit stattdessen lieber am PC verbringen und tun dies auch in zunehmendem Maße. Von ihrem unmittelbaren Umfeld (Familie, Verwandte, enge Freunde) fühlen sich betroffene Personen in Bezug auf ihren Internetkonsum nicht verstanden und grenzen sich zunehmend von diesen ab. Die Internetnutzung zu thematisieren wird zunehmend schwieriger, da dies oft in Streit oder Frust endet. Sie finden immer neue und schließlich ausufernde Beschäftigungsmöglichkeiten im Bereich des Internet. Dazu gehören auch eventuelle Optimierungsarbeiten an PC-Software oder Hardware, zum Beispiel zur Verbesserung der Internetverbindung oder Optimierung der Spieleinstellungen. Eine gezielte und zeitlich begrenzte Internetnutzung ist bei Betroffenen so gut wie nicht mehr möglich. Versuche den Internetkonsum einzuschränken werden erst gar nicht unternommen oder bleiben erfolglos. Sie haben die Kontrolle über Ihren Internetkonsum weitestgehend verloren. Psychische und physische Anzeichen Auf Grund der ständigen PC-Sitzungen bewegen sich betroffene Personen kaum noch. Ihre Kondition lässt daher merklich nach. Unter Umständen nehmen sie an Gewicht zu. Es treten vermehrt Haltungsschäden auf, die sich oft in Rückenschmerzen äußern aber auch Sehnenscheidenentzündungen an Händen (Maus-Hand) oder Schmerzen an Elle und Ellenbogen kommen vor. Wenn betroffene Personen nicht online sind, haben sie das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen und werden nervös. Sie versuchen so schnell wie möglich wieder online zu gehen. Es treten Entzugserscheinungen auf, wenn sie nicht online sind. Diese reichen von einfacher Nervosität, über ständige innere Unruhe bis hin zu Gereiztheit und Aggressivität oder gar Depression. Um durch den Internetkonsum in eine positive Grundstimmung zu gelangen benötigen betroffene Personen eine Erhöhung der „Dosis“. Sie verbringen daher immer mehr Zeit im Netz und bedienen oft gleichzeitig mehrere Anwendungen. Sie chatten zum Beispiel in mehreren Channels gleichzeitig, während sie die aktuellen Nachrichten aus ihren abonnierten newsgroups lesen und haben dabei schon die nächste Verabredung zum Onlinerollenspiel im Kopf. Rechnungen und Verschuldung Der Internetkonsum wirkt sich negativ auf den Geldbeutel aus. Betroffene kaufen in Onlineshops, versuchen jedes vermeintliche Schnäppchen in Internet-Auktionshäusern zu ergattern, verlieren aber zunehmend den Überblick über ihre Rechnungen. Die Telefon- bzw. Onlinekosten für die Internetleitung steigen merklich an. (nur für Nutzer ohne Flat-Rate Vertrag relevant). Nicht zu vergessen ist auch die Mobilfunkrechnung: immer mehr Handys sind internetfähig, was der oder dem Süchtigen theoretisch ermöglicht, bei ausreichender Netzabdeckung auch unterwegs ständig online zu sein. Die oben angeführten Punkte sind allerdings nur ein Ausschnitt möglicher Anzeichen und verstehen sich nicht als Chronologie! Auch die Intensität der aufgelisteten Anzeichen kann je nach Stärke der Abhängigkeit unterschiedlich ausfallen. Für einen ausführlicheren Blick auf das eigene Internetsuchtverhalten gibt es – wie könnte es anderes sein – Onlinetests, die nach einem kurzen Fragebogen, eine Auswertung des eigenen Internetkonsums bieten. Da die Anzeichen des Pathologischen Internetgebrauchs quer zu allen Angeboten des WWW verlaufen, sie sich also in nahezu allen Bereichen des Onlinemediums wieder finden, lohnt zum Abschluss dieses mekonet Dossiers noch ein Blick auf mögliche ordnende Kategorien unterschiedlicher Abhängigkeitsbereiche. Sinnvoll erscheint die Kategorisierung in drei Gruppen: Online-Kommunikation Ein Drittel aller verhaltensauffälligen bzw. abhängigen Internetnutzer(innen) wollen so oft und so lange wie möglich erreichbar sein und dazu alle interaktiven Onlinedienste in Anspruch nehmen. Sie finden sich besonders unter so genannten Power-Usern, die über einen Breitbandinternetzugang chatten, skypen, Foren und newsgroups nutzen und so versuchen, ständig auf dem Laufenden zu sein. Online-Spiele Ungefähr 9 Prozent derjenigen, die das Internet exzessiv nutzen und als vermeintlich abhängig einzustufen sind, leben ihre „Sucht“ in Onlinespielen aus. Dazu gehören so genannte Massively Multiplayer Online Role-Playing Games (MMORPG), wie zum Beispiel „World of Warcraft“ und „Second Life“ aber auch die in Verruf geratenen EgoShooter oder eher neuere Erscheinungen wie Online-KartenGlücksspiele sind zur Anlaufstelle für Spielsüchtige im Internet geworden. Online-Sex Erotikangebote im WWW ziehen fast ausschließlich Männer an, erst mit steigendem Alter sind geringfügig Frauen anzutreffen. Unter allen abhängigen Internetnutzern sind etwa 12 Prozent von einer Sexsucht betroffen. Als Motiv geben diese Personen oft an, ihre sexuellen Phantasien im Internet „gefahrloser“ ausleben zu können und zwar frei von Enttäuschungen, Zurückweisungen, Beziehungsstress, Leistungsdruck oder Ähnlichem. Initiative ergreifen: Hilfsangebote und präventives Handeln Beratung für Betroffene Eltern, Kinder und Jugendliche Betroffene und deren Angehörige bedürfen einer eingehenden psychologischen Betreuung durch Fachkräfte, doch die Sozialpsychologie des Internet steckt derzeit noch in den Kinderschuhen. Eine klinische Diagnostik, wie sie bei anderen Süchten längst bekannt ist, sucht man für medienkonzentrierte Verhaltenssüchte in den entsprechenden internationalen Verzeichnissen (ICD und DSM) vergeblich. Dies ist auch ein Grund für die bisher wenig vorhandenen Anlaufstellen für Betroffene. Informationen für persönliche Beratungen bieten meist die kommunalen Suchtberatungsstellen der Stadt- oder Kreisverwaltung aber auch Psychiatrische Kliniken haben inzwischen auf die steigende Patientenzahl im Bereich der Mediensüchte reagiert und Ambulanzen eingerichtet. Eine Auswahl von Adressen zu Kliniken, Beratungsstellen und informative Links zum Beispiel zu Selbst-Tests, finden sie im Punkt Weiterführende Informationen in diesem Dossier. Präventives Handeln Unabhängig von der fachlichen Diskussion um eine klare Definition und Diagnostik für Medien- bzw. in unserem Fall Onlinesüchte, besteht die Frage der Prävention fort. Um Kinder, Jugendliche und Erwachsene vor den Folgen des exzessiven und pathologischen Internetgebrauchs zu schützen, bedarf es mehr denn je einer umfassenden und individuellen Medienkompetenzförderung. Mehr als bisher sollte in der Mediensozialisation ein realistisches Bild der Funktionalität des Internet und der Medien erfolgen, um zu einem flächendeckend kritischen und angemessenen Ungang mit Medien zu gelangen – Verteufelungen oder Verbote helfen hier recht wenig. Vielmehr braucht es mehr gut ausgebildetes Fachpersonal, Medienpädagog(inn)en in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen - gerade auch in der Erwachsenenbildungsförderung, da sich hier Eltern finden, die gegenüber Kindern als Vorbilder im Umgang mit Medien fungieren. Insbesondere durch qualitativ hochwertige Medienkompetenzförderung, kann ein kreativer und sinnvoller Umgang mit Onlinemedien etabliert werden. Medienkompetenzförderung heißt aber auch immer soziale Förderung, weshalb die individuelle Ausrichtung der Förderung stets im Blick behalten werden sollte: zwar müssen die Förderziele quer durch die sozialen Milieus identisch sein, die Art und Weise der Förderung muss den unterschiedlichen Vorraussetzungen aber differenziert angepasst werden! Wertvolle Anregungen zu solchen Medienkompetenzförderungen bietet der mekonet Grundbaukasten. Die weiter unten stehenden Links zur Prävention verweisen teils auf diesen Grundbaukasten, der u.a. zahlreiche Kurse und Informationen zum Thema listet und kurz inhaltlich vorstellt. Weiterführende Informationen Link- und Lesetipps (zur korrekten Darstellung einiger Artikel wird der kostenlose benötigt) Adobe Reader Brandt, Michelle L.: Video games activate reward regions of brain in men more than women, Stanford study finds. (Genderspezifische Studie der Standford University of Medicine zum Suchtfaktor bei Computerspielen). Deutsches Ärzteblatt: Übermässiger Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen: Risiken für Psyche und Körper. Elternmitwirkung Schweiz - Selbsttest Internetsucht Gehrke, Barbara / Pohlschmidt, Monika: Gefangen im Netz Wenn Medien süchtig machen. Hahn, André / Jerusalem, Matthias: Internetsucht - Jugendliche gefangen im Netz. Informationen zur Internetsucht beim Lebenshilfe ABC Kingma, Renate: Suchtpotenzial im Internet? Meinungen unter Forschern sind zur Zeit noch geteilt. In: 3/02 März 2002 bzw. unter Informationsdienst Psychologie 1/2002. Wölfing, K. / Grüsser-Sinopoli, S.M.: Exzessives Computerspielen als Suchtverhalten in der Adoleszenz – Ergebnisse verschiedener Studien Suchtberatungsstellen und weiterführende Links Center for Internet Addiction Recovery (nur englisch) Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e.V. EA Sports - Abteilung: Suchtforschung Hilfe zur Selbsthilfe bei Onlinesucht (mit Selbst-Test zu OnlineSexsucht) Hotline für Verhaltenssuchte an der Johannes Gutenberg Universität Institut für Kinderpsychologie und Lerntherapie Lost in Space - Computerspiel- und Onlinesuchtberatung der Caritas Berlin psychiater.org rollenspielsucht.de spielbar.de (Website der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Computerspielsucht) Stress und Sucht im Netz Safer Internet Day www.klicksafe.de Initiatoren und Auftraggeber: