In: Widerspruch Nr. 6 (02/83) Marx-Rezeption in München (1983), S

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In: Widerspruch Nr. 6 (02/83) Marx-Rezeption in München
(1983), S. 74-88
Autor: Alexander von Pechmann
Artikel
Alexander von
Pechmann
Marx an der Münchner Universität
Eine Bestandsaufnahme
Es ist wahrhaftig eine beachtliche Leistung: während Marx und der Marxismus heute in aller Welt zum Gegenstand heftigster theoretischer Auseinandersetzungen gemacht wird (US-Präsident Reagan hat gerade 5,5
Millionen Dollar für die „Widerlegung“ der marxistischen Philosophie
vorgesehen) und ein Großteil der Staaten seine Politik auf die Marxsche
Theorie stützt, ist es den bundesdeutschen Hochschulen, nicht zuletzt
hier in München, gelungen, die Hörsäle und Seminare von der Diskussion über Marx weitgehend freizuhalten. Kaum etwas ist von jenen philosophischen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Themen, die mit
dem Namen Karl Marx verbunden sind, und die heute weltweit die Diskussion bestimmen, zu hören. Die Fragen etwa, inwiefern die kapitalistische Produktionsweise, die aus sich selbst Krisen, Arbeitslosigkeit und
Umweltzerstörung hervorbringt, noch den Bedürfnissen und Interessen
der Menschen und Völker entspricht, ob eine tiefgreifende Veränderung
der Gesellschaft notwendig und möglich ist, solche Grundsatzfragen
sind aus dem Bereich unserer akademischen Diskussion nahezu vollständig ausgeschlossen.
Dabei sind selbst die, die Marx ignorieren, durch sein Denken in einer
Weise geprägt, die den Schluß nahelegt, daß seine Tabuisierung auf eine
Art von ideologisch motivierter Verdrängung zurückzuführen ist. Die
Schärfung unseres Bewußtseins über soziale Fragen, die lebhaften Dis-
Alexander von Pechmann
kussionen über die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Wissenschaften wären ohne die Herausforderung der Marxschen Theorie keinesfalls
in dem Maße vorhanden. Ausgesprochen oder nicht: der Marxismus
drückt der geistigen Welt seit mehr als einem Jahrhundert seinen Stempel
auf - abgesehen von den Universitäten, die Marx weiterhin als „toten
Hund“ mißhandeln.
Diese Abneigung scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Karl Marx
hatte zwar die größte Achtung vor den Wissenschaften, aber wenig vor
den deutschen Universitäten und ihren Professoren. Offenbar hält es die
Mehrheit der deutschen Professoren umgekehrt. Sie betrachtet die Universitäten weiterhin als Arkanum, zu dem Marx und der Marxismus
keinen Zugang haben sollen. So wurden in München Ansätze eines reflektierteren Marxverständnisses entweder institutspolitisch marginalisiert
oder gleich ganz unterdrückt, wie das der Berufungsskandal um Habermas oder das Berufsverbot für Horst Holzer demonstriert haben1. Es
dominiert ein Marx-Bild, wie es schon in den 50er Jahren entworfen
wurde, weitgehend unbeschadet die unruhigen Zeiten der Hochschulreform überdauert hat und weiterhin als Legitimation für den Ausschluß
Marx' von der Uni dient.
Im Folgenden möchte ich nun zuerst dieses vorherrschende Marxbild in
seinen wesentlichen Zügen anhand von Äußerungen führender Münchner Philosophen skizzieren, um anschließend kritisch auf die Voraussetzungen und die politisch-ideologischen Folgen dieser Interpretation
einzugehen.
Marx: der „radikale Humanist“
Im Zentrum der Münchner Marxrezeption steht die sog. „Emanzipationsideologie“, für die Marx als Urheber verantwortlich gemacht wird. So sähen nach Robert Spaemann „Marx und die Emanzipationsgläubigen ... das
Gute nicht als einen Zustand, der in jeder Epoche von Vernunft, Phantasie und Gewissen dem Trend abgerungen werden muß, sondern als
1
vgl. Horst Holzer, Wissenschaftsfreiheit und Berufsverbot, in: Widerspruch 2/81,
München 1981, S. 18 ff.
Marx an der Münchner Universität
universales Endziel, als Ende eines extrapolierten Trends.“2 Als hätte
Marx nie das „Kommunistische Manifest“ geschrieben3, wird behauptet,
Marx stelle abstrakte Prinzipien auf, das Gute, und extrapoliere es in die
Zukunft als geschichtliche Endziel. Die Devise der Marxisten könne
daher nur lauten: „Mehr Emanzipation; die letzte, die totale Emanzipation.“4
Helmut Kuhn stellt denn auch fest, daß bei Marx „die Vorherrschaft der
Zukunft ihren schärfsten Ausdruck“5 findet. Die künftige Revolution
würde den Menschen von jenen Fesseln befreien, die ihn heute noch in
Unmündigkeit, Unterdrückung und Entfremdung halten; aus dieser Revolution würde für Marx „ein Neuer Mensch und eine Neue Gesellschaft
hervorsteigen befreit vom dreifachen Fluch des Privateigentums, der
Staatsmacht und der Berufsarbeit unter dem Leistungsprinzip.“6 Ohne
Marx' vehemente Kritik an utopischen Weltverbesserungsplänen, an
philantrophischen Heilsversprechungen zur Kenntnis zu nehmen, wird
Marx mit all jenen religiös motivierten Eschatologien in einen Topf geschmissen, die das „Gute“ und das „Wahre“ ausschließlich von der Zukunft. erwarten.
Im Unterschied zu diesen religiösen Heilserwartungen aber habe Marx
dies Heil nicht einmal von einer Gottheit erhofft sondern habe in seiner
Vermessenheit den Menschen selbst zur „obersten Gottheit“ erhoben. Für
ihn sei „der Mensch ... das höchste Wesen für den Menschen, - der
Mensch aufgefaßt als Wesen, das sich selbst schafft, das alles sich selbst
und nicht einer transhumanen Macht verdankt“7. - Diese Versöhnung
der Existenz des Menschen mit seinem Wesen sei aber, worauf Eric Voegelin und Robert Spaemann mit Nachdruck hinweisen, kein Werk der Ge2
Robert Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, Stuttgart 1977, S. 150.
Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Berlin 1970, S. 58: "Die
theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien,
die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind
nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung."
4 Robert Spaemann, a. a.O. , S. 150.
5 Helmut Kuhn, Jugend im Aufbruch, München 1970, S. 62.
6 ebd.
7 Friedrich Mordstein, Ist der Marxismus ein Humanismus?, Stuttgart 1969, S. 163.
3
Alexander von Pechmann
genwart, sondern eine noch ausstehende Zukunftsaufgabe: Marx erkenne
in Gott nicht eine Projektion des Menschen auf dessen gegenwärtiges
Dasein, sondern „auf ein hypostatisches Jenseits. Für (ihn) würde daher
die große Wende der Geschichte eintreten, wenn der Mensch seine Projektion in sich zurückholt, wenn er sich bewußt wird, daß er selbst Gott
ist, wenn der Mensch infolgedessen zum Übermenschen verklärt wird“8.
Und noch deutlicher hebt Spaemann den emanzipatorischen Charakter
dieses Humanismus hervor: „Marx hat ... ausdrücklich bestritten, daß der
Mensch 'wie er geht und steht' höchstes Wesen sei. Diese Idee sei zwar
demokratisch, aber nicht emanzipatorisch; denn der Mensch 'wie er geht
und steht' ist ein deformiertes Wesen. Der wahre Menschen wird erst der
sein, der die geschichtliche Deformationen, die samt und sonders Spuren
von Herrschaft sind, abgestreift hat; der nicht mehr Deutscher, Jude
usw., sondern nur noch Mensch ist“9.
Auch wenn in diesem „radikal-emanzipatorischen“ Zerrspiegel Marx nur
mehr als Karikatur zu erkennen ist (Ich habe mich verzweifelt, aber vergeblich bemüht, Voegelins und Spaemanns „Argumentation“ bei Marx
zu finden), so wird dennoch die Absicht deutlich: Marx wolle, so wird
dem Unkundigen suggeriert, in seinem messianischen Drang; dem Menschen alles, was schön und gut ist, was das Leben lebenswert macht,
rauben, seine Kultur, sein Wissen, die Familie, ja letztlich noch sein Reihenhäuschen, und das alles, um den „wahren Menschen“ zu verwirklichen. Daß Marx wiederholt solche Abstraktionen wie „der Mensch“,
„die Gottheit“ etc. als Ideologien zurückgewiesen und kritisiert hat,
scheint dabei nicht zu stören. Vor lauter „Emanzipationsideologie“ ist
den Interpreten offenbar der Blick auf Marx' materialistische Geschichtsauffassung völlig verstellt. Marx geht eben nicht von Antizipationen, von Spekulationen über die bessere Zukunft, nicht vom abstrakten
„Wesen des Menschen“, sondern von den „wirklichen Individuen, ihrer
Aktion und ihren wirklichen Lebensbedingungen“10 aus. Es hätte unseren Marxinterpreten zweifellos gut getan, vor ihren Konstruktionen und
8
Eric Voegelin, Die Neue Wissenschaft der Politik, Salzburg 1977, S. 182 f.
Robert Spaemann, a.a.O.., S. 119.
10 Marx/Engels, Studienausgabe, Bd. 1, hrsg. v. I. Fetscher, Frankfurt/Main 1966, S.
86.
9
Marx an der Münchner Universität
Spekulationen mal das Original, z.B. die „Heilige Familie“, die „Deutsche Ideologie“ oder gar das „Kapital“ zur Kenntnis genommen zu haben; dann wären uns vielleicht solche Zerrbilder und die Verwechslung
von Marx mit Marcuse erspart geblieben.
Aber nicht genug damit. Nachdem die Marxsche Theorie aus den Elementen der „Emanzipationsideologie“ und des Humanismus zu einer
säkularisierten Heilslehre verschmolzen worden ist, wird Marx nun auch
noch als die leibhaftige Personifikation des „neuen, wahren Menschen“
betrachtet. Marx habe sich selbst als Menschheitsbeglücker, als der neue
Prometheus, aus dem die neue Welt hervorsteigen solle, verstanden.
Nikolaus Lobkowicz etwa bemerkt an ihm eine „Promethian attitude of
someone who is about to serve as an active midwife (=Geburtshelfer) of
History at the imminent birth of True Man“11. Und Konrad Löw kommt
in seinem bislang unübertroffenen Psychogramm zum Ergebnis, Marx
als einen sich und alles verzehrenden Gotteshasser zu entlarven: „Lieber
härteste Pein als Unterwürfigkeit, so Marx in Anlehnung an Prometheus
im Jahre 1841. Marx hält Prometheus die Treue. Noch ein Vierteljahrhundert später nennt er das hassenswerteste Laster 'Servility', also Unterwürfigkeit und Kriecherei ... Marx verehrt den Prometheus der Sage.
Aber nicht genug damit. Seine Lehre und sein Leben sind von prometheischen Zuschnitt. 'Ganz haß' ich all und jeden Gott' zeigt sich in seiner rücksichtlosen Kritik ja Negation alles Bestehenden, alles Vorgefundenen...“12 Beim Zuschnitt auf solche, gar luziferischen Ausmaße muß ja
wohl jeder Rechtgläubige allein schon bei der Namensnennung dreimal
das Kreuz schlagen.
Marx: der „Ideologe“:
Was liegt bei einem solchen Marxbild näher, als ihm sämtliche Qualitäten
eines ernstzunehmenden Philosophen und Wissenschaftler abzusprechen? So ist es denn auch in München ausgemacht, daß Marx nichts als
11 Nikolas Lobkowicz, Marx's Attitude towards Religion, in: ders. (Hrsg.), Marx and
the Western World, London 1967, S. 332.
12 Konrad Löw, Warum fasziniert der Kommunismus?, Köln 1980, S. 92.
Alexander von Pechmann
ein Ideologe und falscher Prophet war, der daher nichts in den hehren
Hallen der Philosophie zu suchen habe. Der Marxismus sei nur eine
Weltanschauung, die anstelle sachlich begründeter Philosophie überschwengliche, verführerische und irrationale Utopien entwirft. Was
Marx vortrage, so stellt Max Müller lakonisch fest, „ist weder Wissenschaft noch Philosophie, sondern sind weltanschauliche Entwürfe; denn
das Ganze wird nicht reflektiert“13.
Und Wolfgang Stegmüller, Münchner Experte in Sachen Wissenschaftstheorie, versichert uns, Marx' Revolutionstheorie würde nur durch einen
„mythischen Realisationsmechanismus“ am Leben gehalten, der „natürlich mit
dem. sonstigen Gebrauch (von 'wissenschaftlich') überhaupt nichts zu
tun“ habe. Sein Gedanke einer gesetzmäßigen Entwicklung der Gesellschaft beweise nur, „daß der Wissenschaftler Marx, wie übrigens auch
der Moralist Marx, am Ende vom Mystiker Marx absorbiert worden ist.“
Ihm sei es möglich gewesen, „als erster und vielleicht einziger Mensch in
der Geschichte mit dem Anspruch aufzutreten, Wissenschaftler und
Prophet in einer Person zu sein, zweifellos eine der Ursachen für seinen
nachhaltigen Erfolg“14.
Nach dieser Rückentwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur
Utopie wird dann geschlußfolgert, daß diese Prophetie so verlockend wie
gefährlich sei. Verlockend sei sie, weil hier die chiliastischen Sehnsüchte
der Menschen nach einer heilen Welt Aufnahme finden würden. So
meint etwa Peter Koslowski in Verkennung der Marxschen Lehre, daß
dieser „das Problem der Realisierung der besten aller Welten ... allein
durch eine ökonomische Umorganisation der Produktionsmittel glaubte
beheben zu können“15. Und Max Müller sieht das Faszinierende darin,
daß uns nach Hegel Marx das „letzte großartige Bild dieser Vollkommenheit (der Geschichte, A.v.P.) ... vor Augen gestellt (hat), jene Voll-
13
Max Müller, Philosophische Anthropologie, hrsg. v. W. Vossenkuhl, München
1974., S. 27.
14 Wolfgang Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Band II,
Stuttgart 1975, S. 144, 147.
15 Peter Koslowski, Ethik des Kapitalismus, Tübingen 1982, S. 82.
Marx an der Münchner Universität
kommenheit, in der die Natur humanisiert und der Mensch naturalisiert
ist“16.
Gefährlich aber sei sie, weil sie zwar das Gute wolle, doch stets das Böse
schaffe. Marx unternehme nämlich, in der Tradition der „abstrakten
Utopie radikal-emanzipatorischer Vernunftherrschaft“17, den irrealen
Versuch, die unhintergehbare Beschaffenheit menschlicher Existenz
aufzuheben, die seinsmässigen Grundlagen jeder menschlichen Ordnung
zu überwinden und durch wesensfremde Prinzipien der abstrakten Vernunft zu ersetzen. Jeder Versuch solch radikaler Emanzipation führe
jedoch zwangsläufig zum Gegenteil dessen, was erstrebt wird. Der Humanismus schlage in Antihumanismus, die Befreiung des Menschen in
Diktatur über den Menschen, das Heil in Terror, die humane Selbstverwirklichung in einen abstrakten Egalitarismus um. So wenig man auch
sonst für die Dialektik der qualitativen Sprünge und Umschläge in München zu haben ist, hier läßt man das Gerade auch mal krumm werden.
Man hat „bewiesen“, daß gesellschaftliche Änderung zu nichts anderem
als zur Negation des Positiven führen.
Die Aufgabe wahrer Philosophie müsse es folglich sein, im Sinne der
menschlichen Freiheit und nicht zuletzt zum Wohle der freiheitlichdemokratischen Grundordnung das zur Geltung zu bringen, was unveränderlich und unhintergehbar ist und bleibt. Philosophie, die sagt, was ist,
habe denen entgegenzutreten, die glauben, was sein soll.
Bei der Erfüllung dieser philosophischen wie staatsbürgerlichen Aufgabe
werden nun zwei Wege eingeschlagen. Da ist zum einen die etwas plumpere Methode, die Studenten erst gar nicht mit dem verlockendgefährlichen Gift dieser Gedanken in Berührung zu bringen, und Marx
weitestgehend aus dem Studium der Philosophie auszuklammern. Er
wird zu einem historischen Irrläufer erklärt, der an den Hauptströmungen der Philosophiegeschichte vorbei irgendwo im Nachhegelianismus
seinen Ort hat und den Übergang markiert von dem, was Philosophie
einmal war, und dem, was zu bloßer Weltanschauung geworden ist. Von
ihm, so Lobkowicz, würde kein Mensch mehr Kenntnis nehmen, hätte
16
17
Max Müller, a.a.O., S. 268.
Robert Spaemann, a.a.O., S. 7.
Alexander von Pechmann
sich diese Ideologie nicht im Osten festgesetzt18. - Diese simple
Totschweigetaktik wird andererseits durch einen „aufgeklärten“ Antimarxismus ergänzt. Da immerhin 2/3 der Studenten zumindest die Idee
des Kommunismus gut finden, ist man gezwungen, auf den Marxismus
einzugehen, müssen die Studenten gegen diese Infektion immunisiert
werden. Und so werden denn in schöner Regelmäßigkeit von sog.
„Marx-Spezialisten“ die abenteuerlichsten Theorien über den Marxismus
unter die Zuhörer getragen, deren Ziel die endgültige und unabweisbare
Widerlegung des Marxismus ist, und die dann unwidersprochen als authentische Marxinterpretation durch die Seminare geistern. „Totschweigen
oder totschlagen?“ ist die Alternative bei der Auseinandersetzung mit dem
Marxismus.
Über den Stand der Münchner „Marxforschung“
Die Folgen dieser Art institutionalisierter Marxbeschäftigung, die ihre
Herkunft aus den Zeiten des Kalten Krieges nur schwer verdecken kann,
sind natürlicherweise eklatante Fehler und Mängel in der Marxrezeption.
Wo die Beschäftigung mit Platons Dialogen um ein Vielfaches die Behandlung des Marxschen Werkes übertrifft, und wo der einzige Sinn der
Auseinandersetzung mit dem Marxismus dessen Widerlegung ist, da ist
es nicht, . verwunderlich, daß solch hoffnungslos verfälschende Interpretationen im Schwange sind, daß selbst noch die sich selbst ernannte
„Marxistische Gruppe“ an solchem Unsinn sich die Hände wärmen
kann. Inhaltlich ist man größtenteils bei den Jugendschriften von Marx
stehen geblieben, so als hätte Marx mit 26 Jahren zu schreiben aufgehört.
Ein gründliches Studium der materialistischen Dialektik wird schlechterdings als überflüssig angesehen, und gibt dann natürlich Raum für allerlei
unqualifizierte Äußerungen, die von „Prophetie“ bis „Mystik“ reichen.
Das Marxsche Hauptwerk „Das Kapital“ dient zu nicht viel mehr als zu
pauschalen und banalen Gesamtinterpretationen, die zudem meist noch
aus zweiter Hand sind (Wer hat's denn schon lesen können vor lauter
18
vgl. vorliegendes Heft, S. 70.
Marx an der Münchner Universität
„Gorgias“, „Philebos“, den „Summen“ etc.?), und deren Sinn darin besteht, es in die philosophische Rumpelkammer wandern zu lassen. Ginge
man derart lieblos beispielsweise mit Kants „Kritik der reinen Vernunft“
um, das Entsetzen der Philosophen wäre einhellig. Wenn man dann gar
noch solche Behauptungen in philosophischen Standardwerken findet,
für Marx sei die Arbeit - nicht die Arbeitskraft - eine Ware - obgleich es
nun bald zum festen Wissen auf dem gesamten Erdball gehört, daß diese
Unterscheidung für Marx eines der wesentlichen Ergebnisse seiner Untersuchung war -, dann ist allein noch die Unverfrorenheit, mit der man
sich in München über Marx äußert, bemerkenswert19.
Der Münchner Philosophiebegriff ...
Mindestens so wichtig und folgenreich wie die Auseinandersetzung um
eine adäquate Marxinterpretation dürfte jedoch der Umstand sein, daß
sich hinter der Charakterisierung des Marxschen Denkens durch die
„Münchner Schule“ ein bestimmter Begriff von Philosophie verbirgt, der
zum Kriterium dafür gemacht wird, welches Denken denn nun als rational und welches als irrational, welche Theorie als Philosophie und welche
als Ideologie oder „Weltanschauung“ zu beurteilen ist. Philosophie, so wird
behauptet, sei das, was das unverrückbare Fundament der Realität, die
unveränderlichen Grundlagen alles Seienden zur Sprache bringt; Ideologie dagegen sei ein Denken, das seins- und wesensfremde Prinzipien
aufstelle und sich damit von den Grundlagen der Philosophie entferne.
Die Schlußfolgerung aus diesem Begriff von Philosophie kann nur sein,
daß jegliches Denken, das sich in den Fundamentalkategorien des Werdens, der Veränderung und der Entwicklung bewegt, eine unbegreifliche
Ausgeburt seinsvergessener Volksverführer und utopisch-chilialistischer
Wirrköpfe sein muß, dem die Philosophie berechtigterweise das Prinzip
des zeitlosen und unvergänglichen Seins entgegenzustellen habe. Der
„Emanzipationsideologe“ Karl Marx habe nicht nur eine andere, sondern
eine „Nicht-Philosophie“ formuliert, die deswegen in den Seminaren
19
in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5, Darmstadt 1980.
Alexander von Pechmann
eigentlich nichts zu suchen habe. Man maßt sich mit dieser Unterscheidung ein Monopol auf die Philosophie an, das sich sachlich und historisch in keiner Weise rechtfertigen läßt. Wo eine Philosophie der Veränderung, der Entwicklung und des Forschritts, wo die Methode der Dialektik aus dem Korpus der Philosophie ausgegrenzt werden soll, da
können wir nichts anderes als einen bornierten und engstirnigen Dogmatismus erkennen. „Wer die Gefolgschaft verweigert“, schrieb Adorno in
der „Negativen Dialektik“, „ist als geistig vaterloser Geselle verdächtig,
ohne Heimat im Sein, ...“ 20.
... und die Folgen:
Es fällt nicht schwer, die politischen und ideologischen Folgerungen aus
einem solchermaßen festgelegten Begriff von Philosophie zu ziehen.
Wenn man nur bereit ist, diejenigen philosophischen Theorien als solche
zu akzeptieren, die an der prinzipiellen Unveränderlichkeit der Wirklichkeit festhalten, dann sanktioniert man zugleich nur solche Auffassungen,
die an den geistigen Grundlagen unserer politischen und sozialen Realität
nicht rütteln. Wer das auf Veränderung gerichtete Denken aus der Philosophie verbannen will, der verketzert auch die auf Veränderung gerichtete Praxis als irrationalen „Auf- und Ausbruch“ und als gefährliche Utopie. Es kommt da nicht von ungefähr, daß gerade Münchner Philosophen von Helmut Kuhn bis Robert Spaemann Sturm liefen, als die
„Emanzipationsideologen“ der Frankfurter Schule - oder gar der Marburger Schule (!) -, für die die BRD-Wirklichkeit noch nicht die beste aller
Welten ist, in den Universitäten Plätze besetzten.
Wenngleich von diesem Kesseltreiben nicht nur der Marxismus, sondern
jegliches auf Veränderung gerichtete Denken, angefangen von Jürgen
Habermas über die politische Theologie J.B. Metz' bis zu Ernst Bloch, betroffen ist, so bildet er in diesem Spektrum doch gewissermaßen den
Interferenzpunkt, auf den sich die theoretische und praktische Kritik
konzentriert. Indem man die materialistische Dialektik von Marx als
20
Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/Main, 1973, S. 69.
Marx an der Münchner Universität
„mystisch“ und „irrational“ diskreditiert, leugnet man zugleich auch die
historische Bedingtheit der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise, verwirft die Notwendigkeit der gesamtgesellschaftlichen Kontrolle
über die Produktionsmittel. Offenbar hört selbst in der Philosophie beim
Privateigentum der Spaß und die so oft beschworene „nicht eingrenzbare
Reflexion und Diskussion“21 auf. Ob solch politisch motivierte Bornierung der Philosophie allerdings gut tut, daran bestehen berechtigte Zweifel.
Die Kritiker des herrschenden Marxbildes:
So bleibt denn auch in München die Kritik an einem solchen Philosophie- und Marxverständnis nicht aus. Wolfgang Röd etwa hat darauf verwiesen, daß die Marxsche Theorie - gleichgültig, ob man ihr zustimmt
oder nicht - selbstverständlich der Philosophie zugehört. Als einer der
wenigen Münchner Philosophen, die sich ernsthaft mit Marx auseinandergesetzt haben, kommt er zu dem Ergebnis, daß insbesondere der
„junge Marx“ in seiner Auseinandersetzung mit Hegel einen Begriff vor.
Philosophie entwickelt habe, durch den der Mensch nicht mehr als ein
wesentlich geistiges, sondern als ein praktisch-gegenständliches Wesen
aufgefaßt wird. „Die von Marx in den Pariser Manuskripten entwickelte
Dialektik der Praxis involviert immer noch die Subjekt-Objekt-Dialektik
der idealistischen Philosophie, allerdings nicht mehr als eine Beziehung
zwischen einem rein spirituellen Subjekt und dessen gegenständliche
Setzungen, sondern als Beziehung eines Subjekts, das insofern materiell
ist, als es sich als Subjekt durch die Bearbeitung einer vorgefundenen
materiellen Umwelt, auf die es angewiesen ist, bestimmt“22.
Während Röd noch die Auffassung vertritt, nur der junge Marx, solange
er in der Tradition Hegels gestanden habe, sei Philosoph gewesen und
habe sich danach zum Nationalökonomen gewandelt, geht Dieter Henrich
weiter. Schon vor längerer Zeit hat er darauf hingewiesen, daß man Marx
21
Hermann Krings u.a. (Hrsg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 1087.
22 Wolfgang Röd, Dialektische Philosophie der Neuzeit, Bd.2, München 1974, S. 12.
Alexander von Pechmann
nur gerecht werden könne, wenn man dessen gesamtes Werk als konsequenten Versuch der Vollendung der Hegelschen Philosophie begreift.
„Karl Marx steht ... schon am Beginn seines Weges vor der Aufgabe,
zwei Gedanken fugenlos miteinander zu verbinden: Die Einsicht in das
Ungenügen der nur theoretischen Form von Hegels Philosophie mit der
Einsicht, dennoch Philosophie und Welt, Begriff und Wirklichkeit in
einer Einheit von jener Struktur zu denken, die zum ersten Male von
Hegel entwickelt worden ist. Bald sollte es sich als sehr schwierig erweisen, diese Aufgabe zu lösen. Es bestehen nicht wenige Gründe für die
Vermutung; daß sie unlösbar ist. Aber es ist die Leistung von Karl Marx
als Denker, daß er an ihr festgehalten hat und daß er es verstand, sie
energischer als seine Freunde in ihre Konsequenzen zu entfalten“23.
Gänzlich in die philosophische Tradition bindet Eberhard Simons die
Marxsche Theorie ein, indem er annimmt, Marx habe im „Kapital“ die
„Fundamentalkategorie gesellschaftlicher Verdinglichung“24 entwickelt,
die in ihrer Tragfähigkeit erst durch Heidegger weitergeführt und vertieft
worden sei. Marx habe durch die Darstellung des Kapitals als der übergreifenden „Verdinglichungsstruktur“25 einen kritischen Begriff ihrer
Aufhebung formuliert und damit „die Möglichkeit eröffnet, statt objektivistisch-entzweiender Entfremdung wahre Identität des Menschen und
der Gesellschaft oder das 'Reich der Freiheit' zu schaffen.“26
Auch wenn er deutlich macht, daß er die Marxsche Theorie für falsch
hält, so setzt sich L. Bruno Puntel mit ihr in ernsthafter Weise, ohne billige
Polemik, auseinander. Es erscheint uns zwar als zu einfach die materialistische Dialektik als ein bloßes Mißverständnis von Hegels „Wissenschaft
der Logik“ abzutun, aber zumindest kritisiert er sie nicht von außen
mittels ein paar banaler Phrasen, sondern versucht, ihr immanente Aporien nachzuweisen27.
23
Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt/Main 1971, S. 193 f.
Eberhard Simons, Transzendenz, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe,
a.a.O., S. 1550.
25 ebd., S. 1551.
26 ebd., S. 1552
27 L. Bruno Puntel, Hegels "Wissenschaft der Logik" und die materialistische Dialektik: eine neue Sicht eines alten Problems, Manuskript.
24
Marx an der Münchner Universität
Doch diese Stimmen, die sich um eine ernsthafte Auseinandersetzung
und um ein gerechtes Bild der Marxschen Theorie bemühen, sind selten
und haben in München den gebührenden Einfluß bislang nicht finden
können. Noch immer herrscht weitgehend jenes undifferenzierte und
polemisierende Bild der Marxtöter vor, die im Marxismus wenig mehr als
die Ausgeburt hybrider Selbstvergötterung des Menschen entdecken,
deren utopische Irrationalität nur Terror, Chaos und Diktatur zur Folge
haben könne.
Der Marxismus als Herausforderung der bürgerlichen Philosophie:
Ohne Zweifel bildet der Marxismus heutzutage die entscheidende Gegenposition zur bürgerlichen Philosophie; seine materialistische Dialektik, sein sozialistisches Menschenbild und seine Geschichtsauffassung
stellen ihre Grundlagen am grundsätzlichsten in Frage. Trotz alledem
stellt sich uns die ernste Frage, ob es sich die Münchner Philosophie
weiterhin leisten kann, einer der Protagonisten in der Bundesrepublik bei
der Formulierung des Antimarxismus zu bleiben. Kann sie ohne Substanzverlust die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Marx und
dem Marxismus auf einem solchen Niveau weiterführen, daß man geneigt ist, hinter ihren Äußerungen weniger die Kompetenz und Kenntnis
als das bayerische Kultusministerium und dessen Wissenschaftspolitik zu
vermuten? Will sie nicht zu provinzieller Weltabgeschiedenheit verkommen, will sie mehr, als sich im elfenbeinernen Turm der Philosophie
nochmals die geistigen Grundlagen des „christlichen Abendlandes“ vor
Augen zu führen, dann wird sie sich der weltweiten geistigen Herausforderung des Marxismus in anderer Weise stellen müssen. „Utopie“,
„Ideologie“, „Prophetie“ - mit solchen polemischen Metaphern, hinter
denen sich letztlich doch nur die mangelnde Beschäftigung mit Marx und
das eigene, dogmatisch vorausgesetzte Verständnis von Philosophie
verbirgt, läßt sich keine ernsthafte Diskussion um die Aufgaben der
Philosophie, ihren Gegenstand und ihre Methode führen.
Ansätze zu einer rationalen Diskussion sind zweifelsfrei vorhanden. Es
gibt durchaus Stimmen, die nicht bereit sind, jene Militanz des ideologi-
Alexander von Pechmann
schen kalten Kriegs mitzumachen, die um ein vorurteilfreies Marxbild
und eine ernsthafte Auseinandersetzung bemüht sind, und die bereit
wären, eine authentische Darstellung der Marxschen Theorie zu geben.
Soll da immer nur das letzte Argument die Drohung mit der Waffe des
Berufsverbotes bleiben?
P.S.. Zum Abschluß der Bestandsaufnahme sei der eigennützige Hinweis
erlaubt, daß nicht zuletzt die Zeitschrift „Widerspruch“ nicht nur von
ihrem Selbstverständnis her, sondern auch in ihrer aktuellen Durchführung ein Forum bietet, das an die Stelle unqualifizierter Scharfmacherei
die rationale Auseinandersetzung mit dem Marxismus und damit um die
Grundfragen der Philosophie in der Gegenwart setzen will.
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