Zitat 2 Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. Karl Marx Dieser Mann traut sich was! Der Mensch, der alle Menschen vor ihm des Irrtums bezichtigt, der halb getanen Arbeit, des Versäumnisses der wirklich bedeutsamen Dinge, der muss eine ziemlich hohe Meinung von sich selbst haben. Marx, der Besserwisser. Marx, der Arrogante. Aber auch: Marx, der Denker. Es ist in der Philosophie wie in anderen geisteswissenschaftlichen Sparten manchmal vonnöten, sich eine Meinung zu bilden, die gegen die althergebrachten Auffassungen geht, diese Meinung zu halten und auch unter starkem Beschuss zu verteidigen. Es ist das radikal Neue, das Kompromisslose, das die Zuhörer anzieht, nicht das Zweifeln, nicht der Satz: „Es war alles gut bisher, ich hätte nur einen kleinen Einwand vorzubringen…“. Vor allem in einer Zeit sozialer Probleme und sich ausbreitender Armut – wie es das 18.Jahrhundert für breite Arbeiterschichten zweifellos war – wollen die Menschen tatkräftige Aussagen hören. Marx hatte also durchaus einen Grund, die bisherigen Philosophen der Untätigkeit zu bezichtigen: Er wollte Veränderung. Um Veränderung zu erzielen, brauchte er die Unterstützung der Massen. Und um sich diese zu sichern, brauchte er radikale Versprechungen und eine mehr als selbstbewusste Geisteshaltung. Vom politischen Standpunkt her ist Marx als Person mitsamt seinen Aussagen also durchaus nachvollziehbar. Ist seine These aber auch philosophisch begründet? Der Philosoph als Wissenschaftler Die reine Philosophie gibt es nicht. Sie ist keine Wissenschaft mit klar umrissenen Grenzen, außerhalb derer nichts mehr in ihren Zuständigkeitsbereich fällt, im Gegenteil – sie umfasst beinahe alles, und was sie nicht umfasst, das ist doch aus ihr hervorgegangen. Alle Wissenschaften haben ihren Ursprung im Denken des Menschen, und mit dem ersten Gedanken des Menschen, der sich nicht auf die Deckung der Grundbedürfnisse und den Fortpflanzungstrieb beschränkte, begann auch die Philosophie. Immer wenn diese Urlehre im Laufe der Evolution in einem Gebiet besonders erfolgreich war, sei es bei der Sprachentwicklung, sei es in der Biologie, so spaltete sich ein neuer Wissenschaftszweig von ihr ab, der nur noch diesem Bereich nachging. Aber die Philosophie als Mutter allen Wissens blieb bestehen, und sie macht sich auch heute noch die Erkenntnisse ihrer Abkömmlinge zunutze, ohne sich ihnen anzugleichen. Der Philosoph als ihr Liebhaber und ihr Vertreter nach außen kennt im Idealfall die Einsichten aller Wissenschaftsbereiche und führt sie in der Philosophie zusammen, um sie miteinander zu vergleichen, zu kombinieren und über sie hinauszudenken. In diesem Tun gleicht er einem beliebigen Wissenschaftler, der Daten sammelt, bewertet und miteinander in Bezug setzt, immer auf der Suche nach einer verbindenden Gesetzmäßigkeit. Und wie es für einen Wissenschaftler ein Ziel sein sollte, seine Erkenntnisse irgendwann zum Nutzen der Menschheit verwenden zu können, so soll auch der Philosoph mit all seinem Denken nicht bloß darauf abzielen, sein Verständnis der Welt zu erweitern, sondern ebendieses Verständnis dazu nutzen, um die Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern – so zumindest sieht es Marx. Wenn wir nun in diese Richtung weiterdenken, so kommen wir zu einer Kernfrage der Philosophie: Der Frage nach dem Zweck. Denken um des Denken willens? Oder Denken mit einem Ziel vor Augen? Um dies beantworten zu können, müssen wir uns zuerst die zwei Komponenten genauer ansehen, die den Menschen am meisten prägen und auf die Marx in seinem Zitat anspielt: Den Geist und die Tat. Der Geist Der Mensch denkt. Unentwegt. Pausenlos. Er kann nicht anders, es ist wie atmen. Einatmen, ein Gedanke saust durch den Kopf. Ausatmen, der Geist gibt sich selbst Antwort. Einatmen, ich denke ans Mittagessen. Ausatmen, vielleicht gibt es Spaghetti? Einatmen… Wie halten wir das aus? Wir sind es gewohnt. Und meistens mögen wir unseren Geist mitsamt seinen Gedanken, und seien sie noch so banal - denn er macht einen großen Teil unserer Persönlichkeit aus. Aber wenn wir ihn einmal näher zu betrachten versuchen, dann macht er es uns nicht leicht, dieses kleine, gestaltlose, immaterielle, unvorstellbare Ding! Was ich über ihn weiß, ist wenig. Ich kenne weder seinen Ursprung noch seine Arbeitsweise, nur einer Sache bin ich mir vollkommen sicher: Er existiert. Immer schon haben die Menschen, genauso wie ich, ihn in sich gespürt, über ihn gerätselt und versucht, ihn systematisch zu erklären. Mit begrenztem Erfolg. Die Philosophie ist eine Geisteswissenschaft, eine Lehre des Geistes. Nicht, weil sie uns so vieles über die Beschaffenheit oder die Eigenarten des Geistes lehrt, nein, diesen Bereich hat sie vor gar nicht allzu langer Zeit an die Psychologie abgegeben. Was jedoch viel essentieller ist: Sie lehrt uns, unseren Geist zu benutzen. Die Gedanken, die er beharrlich aussendet, nicht nur planlos durch unser Bewusstsein fließen zu lassen, sondern sie einzuordnen und miteinander in Verbindung zu setzen. Ein Gedankensystem zu erschaffen, bestehend aus Thesen, Belegen, Interpretationen und Schlussfolgerungen. Philosophisch tätig zu sein. Ab welchem Zeitpunkt philosophiert der menschliche Geist? Ist schon der banalste Gedanke dieser Bezeichnung wert, oder muss ein höheres geistiges Level erreicht werden? Eine Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Da die Deckung der Grundbedürfnisse laut obiger Definition nicht zum Bereich der Philosophie gehört, ist der Gedanke ans Mittagessen folglich kein philosophischer. Denke ich aber an Nahrung allgemein, daran, was sie für mich bedeutet und wie sie sich auf mich auswirkt, so nähere ich mich dem Wissenschaftlichen und damit der Philosophie. Mein Geist bewegt sich nun auf einer individuellen Ebene, die ich nicht mit allen Menschen teile und die mich als Person ausmacht. Er ist, als sich ständig weiterentwickelnde Kraft, der Ursprung meines sich ebenso stetig verändernden Ichs. Außerdem ist er Teil eines Dualismus, der die Beziehung zwischen mir und meiner Umwelt determiniert. Der Geist bestimmt, wie ich die Welt sehe. Aber wie die Welt mich sieht, wird von einer anderen Kraft bestimmt: der Tat. Die Tat Stellen Sie sich einen Menschen vor, körperlos. Nicht taub, nicht blind, er nimmt durch die Sinnesorgane seines Geistes die Welt auf wie jeder andere durch seine Körpersinne. Aber er besteht eben nur aus diesem Geist. Unfähig zur Tat muss er alles miterleben, was um ihn herum geschieht, ohne etwas ändern zu können. Ist er überhaupt ein Mensch? Die menschliche Persönlichkeit ergibt sich aus zwei Faktoren, die ohne einander nicht existieren können, ohne dass das Individuum grundlegender menschlicher Eigenschaften beraubt wird. Der Einfachheit halber habe ich oben von einem Dualismus gesprochen, auch wenn dieser Begriff in diesem Zusammenhang wohl nicht absolut korrekt ist. Geist und Tat bedingen sich zwar gegenseitig, der Geist nimmt in dieser Wechselwirkung streng wissenschaftlich gesehen allerdings den höheren Stellenwert ein. (Gemeint ist hier nicht unbedingt der philosophische Geist, sondern auch das banale Denken, das bereits vor der Geburt einsetzt.) Vor jeder Tat steht eine geistige Regung, und sei es nur ein Zucken, das durch die Nervenzellen geht. Man könnte jetzt genauer auf die Erkenntnisse der Neurowissenschaft eingehen, da diese sich allerdings bereits sehr weit von der Philosophie entfernt hat und außerdem auch keine letztgültigen Sicherheiten bietet, werde ich darauf verzichten. Fakt sei: Der Geist bedingt die erste Tat. Von da an gleicht die Beziehung GeistTat einer chemischen Gleichgewichtsreaktion: Der Geist wird beeinflusst von der Tat und reagiert auf sie wiederum mit Taten. Als weitere Faktoren kommen noch die Sinneswahrnehmung und die Umwelt ins Spiel und machen die Reaktion um einiges komplizierter. Ein Gleichgewicht ist in diesem Fall sehr schwer zu erzielen und ist seiner Natur gemäß immer instabil. Der grundlegende Unterschied der Tat zum bereits erörterten Geist ist ihre direkte Auswirkung auf die Umwelt und damit auf fremde Individuen. Die Folgen einer Tat exakt einzuschätzen wäre nur möglich, wenn wir alle sie beeinflussenden Faktoren kennen würden, also alles wissen würden. Das ist nicht realistisch – folglich bleibt die Tat immer ein Risiko. Ein Risiko aber, das wir eingehen müssen, wenn wir nicht für immer auf derselben rein geistigen Ebene verharren, sondern unser Leben konkret weiterbringen wollen. Ohne Taten gibt es keine gesellschaftliche Entfaltung, kein soziales Weiterkommen, aber bedingt durch die gegenseitige Abhängigkeit auch keine Entwicklung des Geistes. Die durchdachte Tat ist die Anwendung unserer in geistiger Arbeit gewonnenen Erkenntnisse und damit im eigentlichen Sinne ein Fortschritt. Die Philosophie als Verbindung von Geist und Tat Aus dieser Schlussfolgerung heraus erscheint Karl Marx’ Ausspruch in einem etwas anderen Licht: Er fordert nicht die politische Aktion in kompromissloser Ablehnung aller bestehender Gedankensysteme der Vergangenheit und Gegenwart, sondern die Tat als eine Folge genau dieser Gedanken und Interpretationen. Den Philosophen, beharrlichen denkenden und ideenreichen Wissenschaftlern, wirft er keineswegs eine falsche Weltsicht vor, wohl aber das Fehlen jeglicher Reaktion darauf in Form einer Tat. „Denken um des Denkens willen?“ Dem setzt Marx ein klares Nein entgegen. Seine Auffassung ist strikt teleologisch, alles, selbst das Denken, muss streng ein Ziel verfolgen. Die Philosophie als rein geistige Wissenschaft lehnt er ab, nur in Kombination mit der Tat hat sie einen konkreten Wert für den Kosmos. Der Geist muss die Beschaffenheit der Welt aufnehmen, sie untersuchen, analysieren und interpretieren, um dann das gewonnene Wissen über Gut und Böse, über Nützlich und Unnütz, in Taten umzusetzen. Erst dann entsteht wirkliche Philosophie. Natürlich kam ihm Feuerbach da ganz gelegen als Beispiel, wie man es nicht machen sollte: Feuerbach, der sein Leben lang an einer Analyse des Menschen arbeitete, Feuerbach, der eine detaillierte Interpretation der Welt lieferte, der aber nicht ein einziges Mal auf eine Veränderungsmöglichkeit hinwies. Für Feuerbach hatten sowohl Mensch als auch Welt bestimmte statische Eigenschaften, mit denen man sich abfinden musste – was Marx natürlich absolut ablehnte. Einen entscheidenden Faktor allerdings hatte Marx in seine These nicht miteinbezogen: Die Art der Veränderung. Das Ziel des Umbruchs war klar, die klassenlose Gesellschaft. Aber die Mittel der Veränderung, die Regeln also, denen die Taten folgen sollten, die blieben verschwommen. Marx hatte Unrecht oder Worauf es wirklich ankommt Karl Marx wäre nicht glücklich darüber – trotzdem ist es meiner Auffassung nach durchaus legitim, sich dem philosophischen Denken hinzugeben, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. In allen wissenschaftlichen Feldern entstehen zuweilen brillante Erkenntnisse dadurch, dass jemand über das eigentlich Geforderte hinaus denkt und im ziellosen geistigen Schweifen Dinge durchschaut, mit denen er sich andernfalls niemals befasst hätte – ganz einfach weil sie keinen Nutzen versprachen. Genauso ist es mit der Philosophie. Im geistigen Versuch kann ich gefahrlos viele Interpretationen durchprobieren, verschiedene Weltansichten auf ihre Wahrheit überprüfen und mit allen Facetten ebenso des Irrealen wie des Realen experimentieren. Durch diese Gedankenspiele entwickle ich selbst mich weiter, ohne meine Umgebung direkt zu beeinflussen. Wenn ich meine Erkenntnisse in die Welt in mündlicher oder schriftlicher Form entlasse, dann können auch meine Mitmenschen diese auf ihre für sie individuell gültige Wahrheit prüfen und gegebenenfalls an ihnen wachsen – wenn sie das wollen. Lasse ich aber, wie es dem philosophischen Wesen entspricht, meinen Überlegungen Taten folgen, dann beeinflusse ich damit meine Umwelt, auch gegen ihren Willen. Obwohl ich die Folgen einer Tat, wie bereits oben erklärt, niemals in ihrer Gesamtheit abschätzen kann, so habe ich doch die ethische Pflicht, genau über die Art meiner Handlung nachzudenken und Vor- und Nachteile abzuwägen, bevor ich sie ausführe. Tatendrang muss gelenkt werden. Wichtiger als die simple Umgestaltung der Welt aus dem bloßen Wunsch der Veränderung heraus ist die Überlegung, in welche Richtung und mit welchen Mitteln eine Veränderung zu erfolgen hat und ob sie zum Besseren führt. Um es zu formulieren wie er: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, Karl Marx wollte die Welt nur verändern, es kommt aber darauf an, WIE sie verändert wird. Apfelkern