Das Ende der Fünften Republik?

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Kulturelles Wort
Redaktion: Rainer Sütfeld
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Sendung am: 07.05.2017
19.05 – 19.15 Uhr
GEDANKEN ZUR ZEIT
Das Ende der Fünften Republik?
oder: Wie die guten Republikanischen Sitten in Frankreich unter
die Räder kommen
Von Johannes Willms
GEDANKEN
ZUR ZEIT
Sonntags
19.05 - 19.15 Uhr
Sprecher An- und Absage: Jürgen Deppe
Manuskript und Sprecher: Johannes Willms
Telefon:
0511 / 988-2321
Zur Verfügung gestellt vom NDR
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- Unkorrigiertes Exemplar -
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich, bei
denen heute die Entscheidung zwischen den zwei Kandidaten fällt, die im ersten
Wahlgang das beste Ergebnis erzielten, folgen am 11. und 18. Juni die Wahlen für
die Gesetzgebende Versammlung. Diese wiederholten Urnengänge sind dem in
Frankreich geltenden Mehrheitswahlrecht geschuldet. Danach erhält nur der Kandidat
im ersten Wahlgang den Zuschlag, der mehr als 50 Prozent der abgegebenen
Stimmen auf sich vereinte. Da das eher selten der Fall ist, wird in der sich
anschließenden Stichwahl der Sieger mit relativer Stimmenmehrheit ermittelt.
Trotz gelegentlicher Überraschungen garantierte diese Praxis bislang politische
Stabilität. Die scheint jetzt jedoch in Frage gestellt zu sein, denn die beiden
Kandidaten, die im Stichwahlentscheid für das Amt des Staatspräsidenten stehen,
gehören keiner der beiden großen politischen Familien an, die bislang als
verlässliche Bleigarnitur den Bestand der Fünften Republik gewährleisteten. Der
Kandidat der Sozialisten erlebte im ersten Wahlgang ein Debakel, das ihn weit
abgeschlagen auf den fünften Platz verwies. Das war dem Umstand geschuldet, dass
man sich mit Benoît Hamon auf einen Apparatschik verständigt hatte. Dieses
Handicap wies den Kandidaten angesichts der riesigen Unpopularität des noch
amtierenden sozialistischen Präsidenten François Hollande von vorneherein als
chancenlos aus. Dagegen verpasste François Fillon, der Kandidat des konservativen
Lagers mit rund 20 Prozent nur vergleichsweise knapp die Teilnahme an der
Stichwahl, obwohl er bis Ende Januar als der mit Abstand aussichtsreichste
Bewerber gegolten hatte. Was ihn um diese so gut wie sichere Aussicht brachte, war
seine Entlarvung als abgefeimter Biedermann, gegen die er sich mit wütendem
Ungeschick zur Wehr zu setzen suchte.
Also mussten sich die Wähler zwischen zwei Kandidaten entscheiden, wie sie
gegensätzlicher kaum denkbar sind: Dem 39jährigen Emmanuel Macron, einem
wirtschaftsliberalen politischen newcomer, der seine Zuordnung zur Rechten oder
Linken entschieden in Abrede stellt, auch wenn er zeitweilig als Wirtschaftsminister
unter Präsident Hollande tätig war. Die politische Heimat Macrons ist eine von ihm
gegründete Sammlungsbewegung mit dem Namen „En marche!“, was soviel bedeutet
wie „unterwegs“ oder „vorwärts“. Diese erst im Aufbau begriffene und
programmatisch noch weithin unbestimmte sozial-liberale Bewegung soll gleichwohl
schon in allen 577 Wahlkreisen mit eigenen Kandidaten für die Parlamentswahlen
vertreten sein.
Mit Macron in Konkurrenz steht Marine Le Pen, die Chefin des rechtsradikalen Front
National. Sie hat es mit Geschick verstanden, einige der widerwärtigsten Aspekte der
von ihrem Vater gegründeten Partei zu übertünchen und als eine Protestbewegung
gegen das politische Establishment der Fünften Republik aufzuziehen, dem sie den
pauschalen Vorwurf macht, den Problemen Frankreichs taub und blind gegenüber zu
stehen. Dementsprechend artikuliert und instrumentalisiert sie mit diabolischem
Geschick die grassierenden Ängste der französischen Unter- und Mittelschichten vor
Arbeitslosigkeit und Überfremdung. Hauptursache der fortschreitenden Krise
Frankreichs sei die Globalisierung, die von der Europäischen Union und dem Euro
gefördert werde. Gegen diese Symptome fortschreitenden Niedergangs schlägt Le
Pen nationale Patentlösungen vor. Allein diese würden Gewähr bieten, die Gefahren
zu bannen, dass das Land dauerhaft abgehängt werde und in Überfremdung
versinke.
Wie eingängig dieses krude politische Credo der Marine Le Pen ist, zeigt sich nicht
nur daran, dass sie im ersten Präsidentschaftswahlgang das zweitbeste Ergebnis
erzielte. Noch mehr gibt zu denken, dass einige Größen linker wie rechter Parteien
sich im Blick auf die Stichwahl weigerten, gegen den Front National und für ihren
Konkurrenten Macron Stellung zu nehmen. Das ist ein eklatanter Verstoß gegen den
bislang respektierten republikanischen Schulterschluss gegenüber der extremen
Rechten. Darin scheint ein Kalkül auf, das für die weitere Zukunft der Fünften
Republik nichts Gutes verheißt. So verblüffte etwa der Führer der extremen Linken
Jean-Luc Mélenchon, der das viertbeste Ergebnis im ersten Wahlgang für die
Präsidentschaft erzielte, zunächst durch beharrliches Schweigen. Dann sprach er
sich gegen eine Stimmabgabe für Marine Le Pen aus, hütete sich aber, seine
Anhänger zur Wahl von Macron aufzurufen. Deren Stimmenthaltung liefe aber
dennoch auf ein Votum für den Front National hinaus. Ähnlich ist die Situation auf
Seiten der Rechten. Nicht wenige führende Mitglieder der Partei „Die Republikaner“
versagten sich sogar lauthals der Forderung, Marine Le Pen die Stimme zu
verweigern.
Im einen wie im anderen Fall lässt sich das mit dem Schielen auf die
Parlamentswahlen im Juni erklären, bei denen man die Ängste jener, die jetzt für den
Front National stimmten, für die eigenen Belange nutzen möchte. Solche Absichten
stehen im Einklang mit den Besonderheiten des Mehrheitswahlrechts wie mit dem
spezifischen Charakter der politischen Parteien in Frankreich. Das
Mehrheitswahlrecht erlaubt es den Parteien, vor der Stichwahl jeweils politische
Zweckbündnisse zu schließen, um einem der beiden bestplatzierten Kandidaten den
Sieg zu verschaffen. Diese befristeten Bündnisvereinbarungen lassen sich umso
leichter bewerkstelligen, als die Parteien in Frankreich ihrem Wesen nach politische
Wahlvereine sind, die einen vergleichsweise nur lose geknüpften Verbund
verschiedener Grüppchen, Klüngel oder Flügel darstellen. Ihr Zusammenhalt wird
durch eine recht schüttere Schnittmenge von Grundüberzeugungen gewährleistet, die
sich jeweils um eine starke Figur auskristallisieren, die gern als „Tenor“, „Baron“ oder
„Elefant“ bezeichnet wird.
Bislang war es den Parteien selbstverständlich, jegliche Berührung mit dem
rechtsradikalen Front National zu vermeiden. Diesem Tabu war es zuzuschreiben,
dass die Partei Marine Le Pens in der augenblicklichen Nationalversammlung nur
über zwei Sitze verfügt. Für die demnächst stattfindenden Wahlen der 577
Abgeordneten rechnet der Front National jedoch mit wenigstens 40 Mandaten, die
ihm endlich den begehrten Status einer Fraktion verschafften.
Die Aussichten, dass es dazu kommt, stehen nicht schlecht, denn zu verblüffend
deutlich sind die Übereinstimmungen in der Kritik, die sowohl vom Front National wie
insbesondere der linksradikalen Bewegung des Jean-Luc Mélonchon oder der
rechten Partei der „Republikaner“ am „Ultraliberalismus“ geäußert wird, den
angeblich Emmanuel Macron personifiziert. Damit kündigen sich Übereinstimmungen
an, die sich sehr schnell nicht nur als Bündnisse für Stichwahlen beim Votum für die
Nationalversammlung formalisieren lassen.
Wie sehr die guten republikanischen Sitten in Frankreich unter die Räder gekommen
sind, zeigen die Erfolge des Front National wie das spektakuläre Scheitern der
beiden großen Flügelparteien bei den Präsidentschaftswahlen. Beide Entwicklungen
machen Mitteilung von einer stürmischen Evolution des politischen Systems der
Fünften Republik. Vor allem dessen unflexible, weil allzu zentralistische und
geradezu monarchisch anmutende Struktur, erweist sich als zunehmend
dysfunktional. Das gilt vor allem für deren Zuschnitt auf einen politisch schier
allmächtigen Präsidenten, der, wenn er den großen Anforderungen seines Amtes
nicht gewachsen ist, schnell als Versager gilt, dem alle Versuche, diesen Eindruck zu
dementieren, ins Gegenteil ausschlagen. Die Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy
oder François Hollande haben dafür zahlreiche Beispiele geliefert.
Das gilt aber nicht weniger dafür, plausible Lösungen für die Probleme zu
formulieren, die Frankreich hat und die sich dem Land angeblich mit den Folgen der
dämonisierten Globalisierung stellen. Als Beleg dafür wird gern auf den ruinösen
Zustand des „peripheren Frankreich“, also der ländlichen Gebiete abseits der
boomenden Metropolen wie der kleineren Provinzstädte verwiesen, deren Blüte und
geschäftiges Treiben einst den Charme Frankreichs ausmachte. Wer hier lebt, hat
den Eindruck, von der Entwicklung abgehängt zu sein. Daraus nährt sich das dumpfe
Gefühl, zu den Verlierern des Fortschritts zu gehören, das seinen Niederschlag in
den hohen Wahlergebnissen findet, die vom Front National erzielt werden.
Sehr fraglich jedoch ist, ob für diesen Niedergang des peripheren Frankreich
tatsächlich die Globalisierung oder der Euro verantwortlich sind, die nicht nur von
Marine Le Pen immer als Sündenböcke genannt werden. Ursächlich dafür dürfte
vielmehr die traditionelle staatliche Engführung der französischen Wirtschaft sein,
deren zentralisierte Steuerung aller Entscheidungsabläufe eine Signatur der Fünften
Republik ist. Dieses System erweist sich auch einfach deshalb als reformunfähig,
weil damit die Ersatzreligion des Vorsorgestaats verknüpft ist, an der die Franzosen
hängen und die sie mit wütendem Widerstand verteidigen. Das macht sich Marine Le
Pen mit Geschick zunutze, indem sie sich für viele glaubwürdig als Anwältin der
Sorgen und Nöte des Volkes darstellt. Mit dem Erfolg, den der Front National damit
erzielt, droht das bislang für die Fünfte Republik gültige politische Schema, das
Frankreich in ein rechtes und ein linkes Lager einteilte, abgelöst zu werden durch
einen unversöhnlichen Gegensatz: Den als „ultraliberal“ verunglimpften Reformern,
die für eine energische Fortentwicklung der europäischen Einigung eintreten, stehen
jene gegenüber, die auf der Rechten wie der Linken das künftige Heil des Landes mit
strikt nationalen Lösungen der anstehenden Probleme identifizieren. Das verheißt
weder für Frankreichs Fünfte Republik noch für Europa Gutes.
Johannes Willms, Jahrgang 1948, Historiker und Publizist, lebt und arbeitet in München und Paris.
Im Frühjahr 2017 erschien sein neues Buch: „Mirabeau oder Die Morgenröte der Revolution - Eine
Biographie“.
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