PDF-Download - Das Gedächtnis der Nation

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Marc J. Philipp
Zeitzeugenerinnerungen an den
Nationalsozialismus
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Berlin-Brandenburg, 2010
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Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin
[email protected]
Satz: Marc J. Philipp, Glashütten
Umschlag: hawemannundmosch, Berlin
Printed in Germany
ISBN 978-3-937233-60-4
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Inhalt
Vorwort .........................................................................................................................................11
Einleitung .......................................................................................................................................12
1.
Gedächtnis und Erinnerung .................................................................................................27
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
1.6
2.
Das Zeitzeugeninterview: zum Quellenkorpus der Untersuchung ....................................72
2.1
2.2
2.3
2.4
3.
Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses................................................27
Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß .................................................................31
Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt.................................................33
Die Veridikalität von Erinnerungen............................................................................39
1.4.1
Erinnern und Vergessen..............................................................................40
1.4.2
Erinnern und Verdrängen ...........................................................................42
1.4.3
Erinnern und Verfälschen: Das False-Memory-Syndrom...........................46
1.4.4
Bedingungsfaktoren für die Veridikalität von Erinnerungen ......................50
Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses.................................................................62
Konsequenzen für die Untersuchung..........................................................................70
Zum Quellenwert von Zeitzeugeninterviews..............................................................72
2.1.1
Die Methode der Oral History ....................................................................72
2.1.2
Zum Quellenwert von Memoirenliteratur ...................................................77
2.1.3
Objektivität, Reliabilität, Validität..............................................................79
Der Weg der Datenerhebung ......................................................................................83
2.2.1
Die Auswahl der Zeitzeugen ......................................................................83
2.2.2
Die Durchführung der Interviews ...............................................................85
2.2.3
Transkription ..............................................................................................88
Das Repräsentativitätsproblem ...................................................................................89
2.3.1
Stichprobenbeschreibung............................................................................91
2.3.2
Die Repräsentativität der Interviewinhalte .................................................99
Auswertung ..............................................................................................................105
Personen ...............................................................................................................................113
3.1
Adolf Hitler ..............................................................................................................113
3.1.1
»Auf einmal explodierte er und flippte aus.« – Der Choleriker.................114
3.1.2
»Hitler hat das deutsche Volk besoffen gemacht.«
– Der Demagoge.......................................................................................120
3.1.3
»Wir haben ihn von Anfang an für einen größenwahnsinnigen Gefreiten gehalten!« – Der Dilettant.............................................................127
3.1.4
»Hitlers Wille war allmächtig.« – Der Diktator........................................134
3.1.5
»Für mich ist er der größte Massenmörder aller Zeiten.« –
Der Verbrecher .........................................................................................138
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3.2
3.3
3.4
4.
Die politische Elite ...................................................................................................142
3.2.1
»Das war ein vollkommen demoralisierter, verantwortungsloser
Kerl, der nur noch an sein eigenes Wohlergehen dachte und von
nichts ’ne Ahnung hatte.« – Hermann Göring ..........................................143
3.2.2
»Das Furchtbare an ihm war, daß er seine Intelligenz für diese
fürchterlichen Verbrechen mißbraucht hat.« – Joseph Goebbels .............151
3.2.3
»Er war der böse Geist im Dritten Reich.« – Heinrich Himmler..............157
3.2.4
»Er war im Grunde seiner Seele ein Techniker, ein Ingenieur, aber
kein wirklicher Nazi.« – Albert Speer.......................................................164
3.2.5
»Er war der rückhaltlose Gefolgsmann Hitlers, aber sicherlich auch
ein Anhänger einer sinnvollen und friedlichen Europapolitik.« –
Rudolf Heß ...............................................................................................169
3.2.6
»Er war ein Wolf im Schafspelz: Nach außen hin zur Jugend freundlich, nett, hilfsbereit, obwohl die Ziele ganz andere waren.« –
Baldur von Schirach .................................................................................176
3.2.7
»Er war der Schäferhund des Schäfers, ein Mann für’s Grobe, der
oben am Treppengeländer steht und guckt, wer zu spät kommt.« –
Martin Bormann .......................................................................................181
3.2.8
Fazit..........................................................................................................185
Die militärische Elite................................................................................................190
3.3.1
»Er war ein General, der von vorne führte, ein Idealbild des militärischen Führers.« – Erwin Rommel ......................................................191
3.3.2
»Er war zweifellos der beste strategische und operative Kopf der
deutschen Wehrmacht, aber das Unrecht und die Verbrechen hat er
nicht sehen wollen.« – Erich von Manstein ..............................................196
3.3.3
»Er war eine schwache, jämmerliche Persönlichkeit, ein Zauderer,
der zu feige war, der 6. Armee gegen den Befehl von Hitler den Ausbruch aus Stalingrad zu erlauben.« – Friedrich Paulus ............................204
3.3.4
»Er war ein hoch angesehener Seeoffizier, der dafür gesorgt hat,
daß die ganzen Marineeinheiten Millionen von Flüchtlingen gerettet
haben.« – Karl Dönitz ..............................................................................209
3.3.5
»Er war ein Held, der sein Leben aufs Spiel setzte, um anderen zu
helfen.« – Wilhelm Canaris ......................................................................214
3.3.6
»Er war ein Lakai, der zu allem Ja und Amen sagte, was Hitler von
ihm verlangt hat.« – Wilhelm Keitel ........................................................219
3.3.7
»Er war einer der wenigen, die Hitler ganz entschieden widersprochen haben.« – Alfred Jodl................................................................224
3.3.8
Fazit..........................................................................................................228
Ergebnisse ................................................................................................................231
Ereignisse .............................................................................................................................236
4.1
4.2
Von der Machtübernahme zur Etablierung der NS-Herrschaft .................................237
4.1.1
»Ich brauch’ mir keinen Vorwurf zu machen, ich habe ihn ja nicht
gewählt!« – Hitlers ›Machtergreifung‹ vom 30. Januar 1933 ...................237
4.1.2
»Es hat plötzlich a’ jeder a’ Arbeit gehabt.« – Die Beseitigung der
Arbeitslosigkeit ........................................................................................246
4.1.3
Fazit..........................................................................................................250
Die Außenpolitik des ›Dritten Reiches‹ bis 1939 .....................................................251
4.2.1
»Endlich hatten wir unser ganzes Reich wieder für uns!« – Der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland 1936 ........................................253
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4.2.2
4.3
4.4
4.5
4.6
5.
»Das hat die Menschen in einen Taumel versetzt.« – Der ›Anschluß‹
Österreichs 1938.......................................................................................254
4.2.3
»In ganz Europa war der Jubel riesengroß.« – Das Münchener Abkommen und der Anschluß des Sudetenlandes 1938 ................................258
4.2.4
»Hier ließ Hitler erstmals die Maske fallen.« – Die Zerschlagung
der ›Rest-Tschechei‹ 1939........................................................................261
4.2.5
Fazit..........................................................................................................264
Der Zweite Weltkrieg ...............................................................................................266
4.3.1
»Der Größenwahn und die Leichtfertigkeit dieses Spieltyps Hitler
haben ihn entfesselt.« – Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges .............268
4.3.2
»Der Krieg im Westen war doch sehr nobel und anständig.« – Der
Westfeldzug..............................................................................................274
4.3.3
»Das war ein Kampf der Höhlenmenschen, ohne Gesetze, ohne
nichts.« – Der Krieg gegen die Sowjetunion ............................................281
4.3.4
»Als die Amerikaner mit der Invasion kamen, da wußten wir, das ist
jetzt das Aus.« – Das Kriegsende im Westen............................................311
4.3.5
»Das ist ein Verbrechen gewesen, junge Vierzehn-, Fünfzehnjährige
in letzter Minute so zu verheizen!« – Der Volkssturm ..............................314
4.3.6
»Dieser Angriff war ein regelrechtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« – Die Zerstörung von Dresden ..................................................316
4.3.7
»Man hatte ein Gefühl der Erleichterung, daß endlich diese Schießerei und Mörderei aufhörte.« – Das Kriegsende am 8. Mai 1945...........321
4.3.8
Fazit..........................................................................................................326
Die Verfolgung und Ermordung der Juden...............................................................329
4.4.1
»Das war dieser Tag, wo das mit der Judenverfolgung losging.« –
Die ›Reichskristallnacht‹ 1938 .................................................................331
4.4.2
»Es waren Menschen wie wir!« – Der Stellenwert des Antisemitismus in der Gesellschaft des ›Dritten Reiches‹ ..........................................341
4.4.3
»Von den KZs natürlich, aber von den Gaskammern habe ich während des Krieges nicht gehört.« – Was wußten die Zeitzeugen von
der Judenvernichtung?..............................................................................347
4.4.4
Fazit..........................................................................................................354
Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ......................................................357
4.5.1
»Daran sieht man, daß es in allen Schichten in Deutschland immer
Menschen gegeben hat, die mit Entsetzen sahen, was geschah.« –
Das Elser-Attentat 1939............................................................................360
4.5.2
»Das Attentat hat der Welt gezeigt, daß es in diesem Volke Menschen gab, die bereit waren, ihr Leben einzusetzen, um dieses
Regime zu beseitigen.« – Der 20. Juli 1944 ..............................................362
4.5.3
Exkurs: »Er war der einzig wirklich hundertprozentige Held.« –
Claus Schenk Graf von Stauffenberg........................................................374
4.5.4
Fazit..........................................................................................................379
Ergebnisse ................................................................................................................382
Erfahrungen.........................................................................................................................390
5.1
Fronterfahrungen ......................................................................................................390
5.1.1
»Das war ja die Hölle, was man da mitgemacht hat!« – Kämpfe.............391
5.1.2
»Das höchste Gut, was man hatte, war, daß man sich auf seinen
Nächsten verlassen konnte.« – Kameradschaft.........................................400
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5.1.3
5.2
5.3
5.4
»Ich habe mir all die Jahre nur eines gewünscht: daß ich nach Hause komme.« – Heimweh ............................................................................406
5.1.4
»Das waren keine bösen Menschen, aber wir konnten doch nicht
alle einfach davonlaufen.« – Fahnenflucht ...............................................410
5.1.5
»Da ist man halb am Sterben.« – Verwundung ........................................419
5.1.6
»Das Risiko einer Gefangenschaft war im Westen sehr viel geringer,
während die im Osten nie wußten, ob sie überhaupt lebend wieder
rauskamen.« – Kriegsgefangenschaft .......................................................423
5.1.7
»Das hat leider Gottes zum Kriegsalltag dazugehört.« – Sterben und
Tod ...........................................................................................................429
5.1.8
Fazit..........................................................................................................438
Erfahrungen an der Heimatfront...............................................................................439
5.2.1
»Es stand praktisch kein Stein mehr auf dem anderen.« – Luftangriffe
auf deutsche Städte...................................................................................440
5.2.2
»Im Grunde genommen wurde alles ermordet, was den Russen in
die Hände kam.« – Der Einmarsch der Roten Armee ...............................444
5.2.3
Fazit..........................................................................................................454
Die Selbstwahrnehmung der Zeitzeugen ..................................................................455
5.3.1
»Jeder sagt, er habe nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt, aber bei mir stimmt’s wirklich!« – Das eigene Verhältnis zum
Nationalsozialismus..................................................................................455
5.3.2
»Vom ersten Tag an wurden wir belogen, zwölf Jahre lang.« – Die
Indoktrination durch Staat und Partei .......................................................459
5.3.3
»Ich konnte ja nichts dafür. Das wurde ja alles von oben bestimmt.«
– Zum Schuldbewußtsein der Zeitzeugen .................................................463
5.3.4
Fazit..........................................................................................................468
Ergebnisse ................................................................................................................469
Schlußbetrachtung.......................................................................................................................472
Anhang ........................................................................................................................................483
Bibliographie................................................................................................................................487
Zeitzeugeninterviews.............................................................................................................487
Demoskopische Erhebungen .................................................................................................527
Zeitungen, Wochenschauberichte..........................................................................................528
Reden, Tagebücher, Memoiren, sonstige Quellen .................................................................528
Literatur.................................................................................................................................531
Personen- und Ortsregister.........................................................................................................574
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1.
Gedächtnis und Erinnerung
1.1
Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen und Schriftsteller, das Geheimnis des
menschlichen Gedächtnisses zu ergründen, und seit mehr als hundert Jahren setzen
sich Wissenschaftler mit den Problemen des Erinnerns und Vergessens auseinander.
Lange Zeit waren nur langsame Fortschritte erkennbar, doch in den vergangenen 20
Jahren hat die Gedächtnisforschung erhebliche, teilweise gar revolutionäre Veränderungen erlebt.1 Vor diesem Paradigmenwechsel, der sich am Ende des 20. Jahrhunderts vollzog, herrschte noch die Ansicht vor, Erlebnisse und Ereignisse würden an
einem lokalisierbaren Ort im Gehirn wie in einem Computer gespeichert und wären
aus diesem Speicher jederzeit in unveränderter Form wieder abrufbar.2 Heute wissen
wir, daß derartige Vorstellungen mit der Funktionsweise des Gedächtnisses, soweit
sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu viel gemein haben. Ein Gedächtnis als
einen Speicher von Repräsentationen der Umwelt, die für verschiedene Gelegenheiten abgerufen werden können, gibt es als neurophysiologische Funktion nicht.3 Vielmehr stellt das Gedächtnis ein konstruktives Netzwerk dar, das mit verschiedenen
Systemen des Einspeicherns, Aufbewahrens und Abrufens operiert, die ihrerseits
wieder auf unterschiedliche Subsysteme zugreifen. Entgegen den früher angenommenen Speicherungskonzeptionen wird das wahrgenommene Geschehen nicht einfach abgebildet, sondern auf vielfältigen Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen gefiltert und interpretiert. Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die
Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind auch nicht, wie lange Zeit angenommen,
an bestimmten Stellen des Gehirns lokalisierbar, sondern als Muster neuronaler
Verbindungen über verschiedene Bereiche verteilt. Dies gilt insbesondere für persönliche Informationen, die in der Regel nicht nur eine neutrale Wissenseinheit
darstellen, sondern meist emotional besetzt sind und ein ganzes Informationsgebilde,
zum Beispiel die Episode der ersten Liebe oder des eigenen Abiturs, einschließen.4
Sich zu erinnern bedeutet, assoziative Muster zu aktivieren und neu zu bilden, wobei
die Bestandteile des Erinnerten, wie etwa ihre zeitlichen, situativen und emotionalen
Merkmale, in verschiedener Weise neu figuriert werden.5 Beim Abruf gespeicherter
1
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 21. Zur Genese der Gedächtnisforschung vgl.
DRAAISMA, Die Metaphernmaschine.
2
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 711-712.
3
Vgl. MATURANA, Erkennen, S. 62. Der Befund, daß das Gedächtnis keineswegs wie eine
Speichermaschine funktioniert, ist innerhalb der ernstzunehmenden Gedächtnisforschung mittlerweile völlig unbestritten. Vgl. exemplarisch KETTNER, Nachträglichkeit, S. 37-38.
4
Vgl. MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 238.
5
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 8, 21.
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28
Gedächtnis und Erinnerung
Informationen wird im Gehirn mittels einer Vielzahl biochemischer und elektrophysiologischer Prozesse eine Reihe miteinander kommunizierender Hirnorgane aktiviert, von deren Funktion die neurowissenschaftliche Forschung bis vor wenigen
Jahren noch nichts wußte.6 Es liegt auf der Hand, daß dieser Prozeß der
Mustervervollständigung derart vielfältigen gedächtnisinternen wie -externen Einflüssen unterliegt, daß von einer exakten Erinnerung an eine Situation oder ein Geschehnis nur in seltensten Grenzfällen auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und wie gesagt konstruktive Arbeit, die die Erinnerung mit Bezug auf die jeweilige Gegenwart neu figuriert.7
Am Anfang dieses konstruktiven Erinnerungsprozesses steht jedoch nicht der Abruf einer Information aus dem Gedächtnis, sondern ihre Aufnahme, die bereits mit
dem Wahrnehmungsprozeß einsetzt, durch den die in einer beliebigen Situation
empfangenen Reize selektiert und modifiziert werden.8 Dies bedeutet, daß jedes
Wahrnehmen zugleich ein Erinnerungsphänomen darstellt, das auf einer Vielzahl
von Sinnesorganen beruht.9 Um einer Reizüberflutung vorzubeugen, bedarf es zuverlässiger Schutzmaßnahmen seitens des Gehirns, das noch vor jeglichem Bewußtwerden aus den unzähligen Eindrücken, die ihm fortwährend zufließen, eine
Auswahl zwischen relevanten und irrelevanten Informationen treffen muß, die entsprechend ihrer Bedeutungszuweisung festgehalten, vergessen oder erst gar nicht
aufgenommen werden.10 Als Gütekriterien für diesen stets unbewußt ablaufenden
6
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 123-124.
Vgl. SCHMIDT, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S. 378, 380; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 20; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160; dens., Interview, S. 52.
8
Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 114-116; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 32.
9
Vgl. FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 69-70.
10
Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 569; PATZEL-MATTERN, Geschichte im Zeichen der Erinnerung, S. 258. Als Beleg für den hohen Selektivitätsgrad läßt sich die Wahrnehmung
akustischer Reize anführen. Zwar ist unser Ohr dazu in der Lage, mechanische Schwingungen von
etwa 20 bis 20.000 Hz als Töne wahrzunehmen. Im Bereich des Infraschalls (unter 20 Hz) sowie im
Bereich des Ultraschalls (über 20.000 Hz) hören wir jedoch so gut wie nichts mehr, obwohl es
eigentlich etwas wahrzunehmen gäbe. Vgl. hierzu HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der
Gedächtnispsychologie, S. 11-12. Gleiches gilt in Parallele auch für die Aufnahme visueller Reize,
wie in besonders prägnanter Weise aus einem Versuch hervorgeht, bei dem Probanden eine Gruppe
von Leuten beobachten sollten, die in einem Kreis standen und sich fortwährend einen Basketball
zuwarfen. Die Aufgabe bestand darin, die Ballkontakte eines Beteiligten zu zählen. Wenn nun
plötzlich jemand in einem Gorillakostüm durch den Kreis läuft, stehen bleibt und sich auf die Brust
trommelt, dann müßte das den Probanden, so die Versuchshypothese, eigentlich auffallen. Das
Ergebnis zeigte jedoch, daß die Hälfte der Teilnehmer den Mann im Gorillakostüm nicht bemerkt
hatte. Dies läßt sich damit erklären, daß sich die Versuchspersonen in ihrer Wahrnehmung ganz auf
die Bewegung des Balles konzentriert hatten und daher blind für alles waren, was mit den unbeobachteten Objekten geschehen war, weshalb sie eine plötzliche Veränderung der Situation nicht
enkodierten. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 82-83.
7
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Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
29
Selektionsprozeß werden lebenslang angesammelte Vorinformationen herangezogen, vor deren Hintergrund die eingegangenen Wahrnehmungsinhalte auf ihre Semantik hin überprüft und sinnhaft interpretiert werden.11 Da jeder Mensch über
andere Wertvorstellungen und Einstellungen verfügt und auf eine individuell einzigartige Lebensgeschichte zurückblickt, ist es kaum verwunderlich, wenn zwei Menschen vollkommen verschiedene Erinnerungen an ein- und dasselbe Ereignis aufweisen.12
Nachdem die wahrgenommenen Inhalte die verschiedenen Selektionskanäle, auf
die im Zusammenhang mit der zeitlichen Untergliederung des Gedächtnisses in Abschnitt 1.2 noch näher eingegangen wird, durchlaufen haben, werden sie in Form
elektronischer Signale verarbeitet, das heißt, sie werden in Informationen zergliedert, die dem Gehirn als längst vertraut oder als völlig neu und ungewohnt erscheinen. Vertrautes wird von den zuständigen Neuronen als Vertrautes, eine Farbe vom
Farbengedächtnis beziehungsweise den dafür zuständigen Neuronen als dieses Farbsignal, ein Ton vom Tongedächtnis als dieses Tonsignal und ein Geruch vom Geruchsgedächtnis als dieses Geruchssignal, etc. registriert.13 Diese inhaltliche Strukturierung der aufgenommenen Informationen ist von größter Bedeutung, denn sie
ermöglicht erst ihre spätere Rekonstruktion. Wenn eine zu einem früheren Zeitpunkt
aufgenommene und verarbeitete Information erinnert, das heißt aus dem Gedächtnis
abgerufen werden soll, müssen ihre Einzelteile sinnvoll reproduziert und immer
wieder neu zusammengesetzt werden. Auf neuronaler Ebene führt dies dazu, daß im
Gehirn eine dauerhaft gebahnte, kognitive Struktur, in deren Form die betreffenden
Informationen repräsentiert sind, aktiviert wird, deren Leistungen dem Bewußtsein14
zugänglich gemacht werden.15 Es liegt auf der Hand, daß derartige Rekonstruktionen
nur in den seltensten Fällen ihrem ursprünglichen Input entsprechen, schließlich
erfahren sie nicht nur durch den angesprochenen Verarbeitungsprozeß zahlreiche
Veränderungen, sondern auch durch die inzwischen erfolgte Persönlichkeitsentwicklung der sich erinnernden Person sowie durch die herrschenden Bedingungen
11
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 109-110, 125, 140; SÜLLWOLD, Deutsche
Normalbürger 1933-1945, S. 33; ZEDELMAIER, Selektion, S. 532-533.
12
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 89-91; SCHMIDT, Geleitwort, S. 8.
13
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 136.
14
Da Bewußtsein Gegenstand einer Reihe von Disziplinen ist, entzieht sich der Terminus bislang einer einheitlichen Definition. Das Spektrum an Definitionen reicht vom Komazustand zu
Schlaf und Wachheit, dann weitergehend zu gerichteter Aufmerksamkeit, Reflexion des eigenen
Selbst gegenüber seiner Umgebung bis hin zu pathologischen Gradierungen wie Doppelbewußtsein, das sich im psychiatrischen Bereich bei dissoziativen Störungen zeigt. Andere Definitionen
unterschieden zwischen einem Kernbewußtsein und einem erweitertem Bewußtsein oder zwischen
autonoetischen, noetischen und anoetischen Bewußtseinsgraden. Vgl. hierzu LOHMANN/HEUFT,
Autobiographisches Gedächtnis und aktuelle Lebensperspektive im Alter, S. 189; PAUEN, Das
Rätsel des Bewußtseins, S. 42-43; ROTH, Bewußtsein, S. 83.
15
Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 244; SCHMIDT, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S. 381-384.
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30
Gedächtnis und Erinnerung
zum Abrufzeitpunkt.16 Da die erinnerte Lebensgeschichte immer wieder neu figuriert werden muß, ist jede Vergegenwärtigungssituation einmalig, das heißt, jede
Vergangenheitsversion verändert sich der jeweiligen Gegenwart entsprechend.17
Dies bedeutet, daß lebensgeschichtliche Erinnerungen nicht aus der Vergangenheit
stammen, sondern die Vergangenheit resultiert aus der Erinnerung.18 Erinnerungen
stellen folglich keine objektiven Abbilder einer vergangenen Wahrnehmung, geschweige denn einer vergangenen Realität dar, sondern sind vielmehr durch den
gegenwärtigen Abrufkontext gefärbt.19 Freilich gilt dies für die vorliegenden
Zeitzeugenerinnerungen in besonderem Maße, schließlich haben nach 1945 einschneidende politische, soziale und auch wirtschaftliche Erosionsprozesse stattgefunden, die die Sichtweise auf das ›Dritte Reich‹ stark verändert haben. Dort, wo vor
dem Kriegsende noch bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem NS-Regime und
seinen Repräsentanten gefordert war, besteht heute Einigkeit über den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Politik. Zu diesen gesellschaftspolitischen Umwälzungen kommt die aktuelle Lebenssituation des Zeitzeugen hinzu, die
maßgeblichen Einfluß darauf hat, wie die eigene Biographie im Rückblick betrachtet
und bewertet wird. Gegenwärtig wichtige Ereignisse wie zum Beispiel der Tod einer
nahestehenden Person oder eine eigene Krankheit können die Erinnerung vorübergehend überlagern, so wie die gesamte psychische Konstitution der Gegenwart den
Blick auf die Vergangenheit beeinflußt.20 Freilich handelt es sich hierbei um Einflüsse, über die die vorliegenden Interviews kaum Informationen bieten und die auch
im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar sind, schließlich sind viele der befragten
Zeitzeugen mittlerweile verstorben. Zudem ist es völlig ausgeschlossen, all jene
Faktoren lückenlos zu ergründen, die die Erinnerungen eines jeden Befragten nach
1945 geprägt oder verändert haben.
Mit dem Gegenwartsbezug von Erinnerungen hängt eine weitere Eigentümlichkeit
zusammen, durch die die abgerufenen Informationen wesentlich beeinflußt werden.
Prägende Erlebnisse und richtungsweisende Begebenheiten innerhalb eines Lebenslaufs werden immer wieder abgerufen, so daß die verschiedenen Erinnerungsprozesse sich über dem ursprünglichen Gegenstand ablagern, sich metaphorisch ge16
Vgl. HAAS, Philosophie der Erinnerung, S. 39; JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 44; KORFF,
Bemerkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur, S. 164; MANN, Validitätsprobleme retrospektiver Interviews, S. 358; PLATT, Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung, S. 247; REINHARDT,
»Kollektive Erinnerung«, S. 96.
17
Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 27-28.
18
Vgl. JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 44.
19
Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7; HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 55-56; KEPPLER, Soziale Formen, S. 137; ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 70; SCHRÖDER, Die Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs, S.
18; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160; dens., Interview, S. 52.
20
Vgl. BOMMES, Gelebte Geschichte, S. 86; GÖPFERT, Oral History, S. 106; ROSENTHAL,
Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität, S. 132; WELZER/MOLLER/
TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 202-203.
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Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses
31
sprochen wie erkaltende Lavaschichten über einen Vulkan legen, der nach jedem
Ausbruch in einer veränderten Form zurückgelassen wird. Oft ist dann beim Eintreten eines weiteren Erinnerungsprozesses gar nicht mehr eindeutig zu unterscheiden,
ob es sich dabei wirklich um eine Erinnerung an ein ursprüngliches Erlebnis oder
um eine Erinnerung an das Ergebnis eines der zahlreichen zuvor bereits stattgefundenen Erinnerungsakte handelt. Wird ein Ereignis mehrfach abgerufen, lagern sich
all seine unterschiedlichen Erinnerungen in mehreren Schichten über dem tatsächlichen Geschehen ab. Je dicker diese Ablagerung wird, um so mehr verschwindet die
ursprüngliche Erfahrung fast bis zur Unkenntlichkeit.21 Folglich haben wir es nur in
Ausnahmefällen mit Erinnerungen an ein tatsächliches Erlebnis zu tun. In der Regel
handelt es sich um Erinnerungen an Erinnerungen, das heißt an zu einem früheren
Zeitpunkt abgerufene Informationen.22
Die geschilderte rekonstruktive Funktionsweise, der Gegenwartsbezug sowie der
Umstand, daß es sich bei Gedächtnisinhalten meist um Erinnerungen an Erinnerungen handelt, trifft freilich auf alle Bereiche des Gedächtnisses zu, die innerhalb der
neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung diskutiert werden. Letztere sieht eine
Unterteilung des Gedächtnisses nach der Zeit und nach dem Inhalt vor, wobei sich
die zeitliche Unterteilung auf die gängige Differenzierung in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis bezieht, die im folgenden Abschnitt erläutert wird,
während sich das Gedächtnis in inhaltlicher Hinsicht in ein semantisches, ein episodisches, ein prozedurales und in ein Priming-Gedächtnis aufspalten läßt, die es im
einzelnen in Abschnitt 1.3 darzustellen gilt.
1.2
Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß
Als erste Speicherinstanz umfaßt das sensorische oder auch Ultrakurzzeitgedächtnis
sämtliche Gedächtnisphänomene im Zeitbereich von wenigen Millisekunden bis zu
einigen Sekunden.23 Um das Kurz- und das Langzeitgedächtnis vor einer Informationsüberflutung zu schützen, selektiert und manipuliert es die eintreffenden Sinnes-
21
Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 96. Äquivalent zur Metapher mit dem Vulkan wird der Erinnerungsprozeß häufig auch mit dem Kindergeburtstagsspiel ›Stille Post‹ verglichen, bei dem eine Geschichte von Person zu Person weitergegeben wird und mit jeder Erzählung Umdeutungen und kreative Neukonstruktionen erfährt. Von der ursprünglich ins Ohr geflüsterten Geschichte bleibt am Ende kaum etwas übrig. Statt dessen werden unklare Leerstellen kreativ ausgefüllt, so daß häufig eine ganz neue, zum Teil aber trotzdem plausible Episode entsteht.
Vgl. JENSEN, Geschichte machen, S. 21; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 158-159.
22
Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 195, 204.
23
Vgl. ERDFELDER, Kurzzeitgedächtnis, S. 337-339; HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 17; KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 521; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 30-33.
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32
Gedächtnis und Erinnerung
reize und trifft innerhalb weniger Sekunden eine Entscheidung darüber – und zwar
unbewußt –, welche Informationen an das Kurz- und das Langzeitgedächtnis weitergeleitet werden und welche nicht.24 Hinsichtlicht seiner Kapazität erscheint das sensorische Gedächtnis nahezu unbegrenzt, zumindest aber deutlich größer als das
Kurzzeitgedächtnis.25
Diejenigen Informationen, denen vom sensorischen Gedächtnis hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, werden in das Kurzzeitgedächtnis überführt und dort
durch verschiedene Kontrollprozesse weiterverarbeitet. Das Kurzzeitgedächtnis fungiert somit als Bindeglied zwischen den Speichern des sensorischen Gedächtnisses
und dem Langzeitgedächtnis, in dem Informationen langfristig abgelegt werden.
Seine Speicherlatenz ist anders als die des sensorischen Gedächtnisses durch ungestörtes Memorieren prinzipiell beliebig dehnbar, bewegt sich im allgemeinen aber
im Bereich von einigen Sekunden bis zu wenigen Minuten. Im Gegensatz zur nahezu unbegrenzten Speicherkapazität des sensorischen Gedächtnisses ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf 7 ± 2 Informationseinheiten (chunks) begrenzt,
unabhängig davon, ob die betreffende Information eine Ziffer, ein Wort, einen ganzen Satz, eine Melodie, ein Bild oder ein Gesicht etc. darstellt.26
Dasjenige Gedächtnissystem, auf das Zeitzeugen zugreifen, wenn sie sich an die
Zeit des Nationalsozialismus zurückerinnern, ist das Langzeitgedächtnis, dessen
Funktionen zeitlich weit über die des Kurzzeitgedächtnisses hinausgehen.27 Während das sensorische wie das Kurzzeitgedächtnis Informationen nur für wenige Sekunden oder Minuten bereithalten können, werden Inhalte, die einmal im Langzeitgedächtnis abgelagert worden sind, unter Umständen ein Leben lang bewahrt. In den
Langzeitspeicher gelangen freilich nur solche Informationen, die zuvor im Kurzzeitgedächtnis präsent gehalten worden sind und denen eine wichtige Bedeutung für
24
Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 569-570.
In der Frage der Kapazität des sensorischen Gedächtnisses gehen die Meinungen in der Gedächtnisforschung auseinander. KAERNBACH (Sensorisches Gedächtnis, S. 538-540) bezweifelt
die Unbegrenztheit der Speicherkapazität, ohne sie jedoch näher bestimmen zu können, während
KNOPF (Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 521) von einem Speicher von
bis zu 1.000 Bit ausgeht.
26
Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 48; ERDFELDER, Kurzzeitgedächtnis, S. 337-339; HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 18;
KAERNBACH, Sensorisches Gedächtnis, S. 521-522, 538-540; MARKOWITSCH, Bewußte und
unbewußte Formen des Erinnerns, S. 220; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 22-23.
27
Die Gedächtnisforschung konnte bisher keine eindeutigen Befunde darüber erzielen, ob das
Langzeitgedächtnis sequentiell auf dem Kurzzeitgedächtnis aufbaut und ob darüber hinaus noch ein
intermediäres Gedächtnis existiert, das im Bereich von Stunden liegt. Neurowissenschaftler vermuten, daß das menschliche Nervensystem über parallele Wege zur Informationsverarbeitung verfügt, was bedeuten würde, daß sich Kurz- und Langzeitgedächtnis im Bereich der ersten Minuten
und Stunden nach dem Wahrnehmungsprozeß überlappen. Vgl. hierzu MARKOWITSCH, Bewußte
und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 220-221; dens., Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85.
25
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Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß
33
ihre Übertragung in das Langzeitgedächtnis beigemessen wurde.28 Im Gegensatz
zum Kurzzeitgedächtnis gilt die Kapazität des Langzeitgedächtnisses als unbegrenzt,
wobei nicht primär Worte kodiert werden, sondern Inhalte und ihre Bedeutungen.
Verbales Material wird semantisch, das heißt abstrakt, visuelles über Vorstellungsbilder und akustisches über auditive Muster kodiert.29
1.3
Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt
Neben der zeitlichen Unterteilung hat seit Ende der siebziger Jahre eine inhaltliche
Auffächerung des Langzeitgedächtnisses zunehmend Eingang in die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung gefunden.30 Gegenwärtig werden hier vier unterschiedliche Gedächtnissysteme postuliert, die untereinander interdependent und
jeweils noch weiter differenzierbar sind: erstens das Gedächtnis für allgemeines
Wissen ohne Bezug zu autobiographischen Episoden, das als semantisches Gedächtnis oder auch als Wissenssystem bezeichnet wird; zweitens das Gedächtnis für Informationen und Ereignisse mit einem direkten Bezug zu bestimmten Episoden des
eigenen Lebens, das sogenannte episodische Gedächtnis; drittens ein nicht notwendig verbalisierbares Gedächtnis für prozedurales Wissen verschiedenster Art, das
sogenannte prozedurale Gedächtnis; viertens ein Gedächtnis zur Wiedererkennung
von bereits unbewußt wahrgenommenen Reizen, das sogenannte Priminggedächtnis.31
28
Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 50; HOBI, Kurze Einführung in die
Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 20; KAERNBACH, Sensorisches Gedächtnis, S. 538540, S. 522; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 23.
29
Während eintreffende Sinnesinformationen das sensorische wie das Kurzzeitgedächtnis
durchlaufen, um schließlich in das Langzeitgedächtnis zu gelangen, ist parallel ein vierter Gedächtnistypus aktiv, der von verschiedenen Disziplinen der Gedächtnisforschung als ›Arbeitsgedächtnis‹
bezeichnet wird, dessen Wirkungsweise für den Abruf von Langzeitinformationen jedoch als unbedeutend einzustufen ist. Vgl. hierzu BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 61; ERDFELDER, Arbeitsgedächtnis, S. 46-48; FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 97; GISBERT, Das
autobiographische Gedächtnis, S. 26-36; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische
Gedächtnis, S. 153; SCHACTER, Aussetzer, S. 49; dens., Wir sind Erinnerung, S. 468; WELZER,
Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169-186.
30
Vgl. ERDFELDER, Langzeitgedächtnis, S. 341; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S.
18-21; WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169.
31
Bei den vier genannten Gedächtnissystemen handelt es sich um die in der Gedächtnisforschung am deutlichsten nachweisbaren Varianten des Langzeitgedächtnisses. Darüber hinaus existieren noch weitere Gedächtnissysteme, die jedoch nicht von allen Forschern nachvollzogen werden, unter anderem das perzeptuelle Gedächtnis, bei dem es um das Erkennen von Reizen aufgrund
von Familiaritäts- oder allgemeinen Bekanntheitsgesichtspunkten geht, das Gedächtnis für eigene
Pläne und Vorhaben (prospektives Gedächtnis), das Gedächtnis für den Wortlaut beziehungsweise
die Wortfolge von Berichten (phonemisches Gedächtnis), das Gedächtnis für Gerüche (olfaktorisches Gedächtnis) sowie das Gedächtnis für die Quelle oder Kontextmerkmale einer Information
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34
Gedächtnis und Erinnerung
All diese genannten Systeme haben verschiedene Funktionsweisen, die für die
vorliegende Untersuchung eine unterschiedliche Relevanz besitzen. Von geringerer
Bedeutung sind zum einen das Priming-Gedächtnis32, das sich auf unbewußt
wahrgenommene Information bezieht, die zu einem späteren Abrufzeitpunkt verhaltenswirksam werden33, zum anderen das prozedurale Gedächtnis34, das Fähigkeiten wie das Sprechen einer Sprache oder das Einhalten grammatikalischer Regeln
sowie motorische Fertigkeiten wie Laufen, Fahrradfahren, Schwimmen oder Tennisspielen beinhaltet. Beide Systeme sind Bestandteil des sogenannten non-deklarativen oder auch impliziten Gedächtnissystems35, das über eine hochgradig automatisierte Arbeitsweise verfügt, das heißt, daß die einzelnen Subsysteme aktiviert werden, ohne daß sich der Betroffene dessen bewußt wäre.36 Obwohl die Inhalte des
impliziten Gedächtnissystems im Gegensatz zu semantischen oder episodischen
Informationen ausgesprochen resistent gegen Verzerrungen und Verluste sind37 –
(Quellengedächtnis). Vgl. hierzu MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 188 sowie
FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 96.
32
Zum Priming-Gedächtnis vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 84;
MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 222; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24-30.
33
Das beste Beispiel für solch eine unbewußte Informationsaufnahme ist das Experiment des
französischen Nervenarztes Eduard Claparéde mit einer Patientin, die keinerlei Fähigkeit mehr
besaß, neue Erinnerungen zu bilden und beispielsweise ihren Arzt schon dann nicht mehr wiedererkannte, wenn dieser zwischenzeitlich nur für ein paar Minuten das Zimmer verlassen hatte. Claparéde war auf die Idee gekommen, ihr zur Begrüßung nicht wie üblich die bloße Hand hinzustrekken, sondern eine, in der eine Heftzwecke verborgen war, an der sich die Patientin beim Händedruck auch kräftig stechen sollte. Zwar konnte sie sich auch bei Claparédes nächstem Besuch in
keiner Weise daran erinnern, wer dieser Herr war und was er von ihr wollte, aber sie weigerte sich
fortan, seine Hand zu schütteln, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Wie diese Episode
belegt, hatte sich bei der besagten Patientin unbewußt eine Information eingeschlichen, die ebenso
unbewußt wieder von ihr abgerufen wurde. Zwar konnte sie sich nicht an die Ausgangssituation
erinnern, doch unbewußt hatte sie gelernt, daß es ihr weh tun könnte, wenn sie Claparédes Hand
schüttelte. Vgl. hierzu DRAAISMA, Die Metaphernmaschine, S. 200-201; LEDOUX, Das Netz der
Gefühle, S. 194; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 60-61.
34
Zum prozeduralen Gedächtnis vgl. KÖLBL, Prozedurales Gedächtnis, S. 463-464; MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 222; TULVING, memory systems, S.
394.
35
Zum impliziten Gedächtnis vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 211, 263-264.
36
Ein häufig zitiertes Beispiel für die automatische Arbeitsweise dieses Systems ist das Autofahren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was wir zuerst tun müssen, wenn wir während der Fahrt vom
zweiten in den dritten Gang schalten wollen, antworten die meisten Autofahrer fälschlicherweise
mit »Kupplung drücken«. Tatsächlich muß zuerst der rechte Fuß vom Gaspedal genommen werden.
Vgl. hierzu MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 81.
37
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24-30. Daß implizite Gedächtnisinhalte
wesentlich resistenter gegen Verzerrungen und Schädigungen sind, belegt Schacter am Beispiel
eines Patienten, dem nahezu vollständig die Fähigkeit abhanden gekommen war, sich an etwas zu
erinnern, der aber nach wie vor ein glänzender Golfspieler war und mit einer bemerkenswerten
Selbstverständlichkeit nicht nur über die Technik und das Körperwissen, sondern auch über die
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Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt
35
»Fahrradfahren verlernt man nicht!« –, sind sie für die vorliegende Untersuchung
weder inhaltlich von Interesse, noch läßt sich ihre Anwendung – vom unbewußten
Einsatz der Sprache abgesehen – in den Interviewgesprächen nachweisen. Einen aus
Sicht der Fragestellung wesentlichen größeren Stellenwert besitzen dagegen jene
Inhalte, die dem episodischen wie dem semantischen Gedächtnis zugeordnet werden. Dabei handelt es sich vor allem um allgemeines Wissen (semantisch) sowie um
Informationen über die eigene Biographie (episodisch), die sowohl für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Zeitzeugen, als auch für die retrospektive Interpretation der historischen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 von allergrößter
Bedeutung sind.
Das semantische Gedächtnis, das von der Forschung neuerdings auch als ›Weltwissen‹ oder ›Wissenssystem‹ bezeichnet wird, bezieht sich dabei auf jenen Teil des
Langzeitgedächtnisses, der kontextunabhängiges und damit rein gegenwartsbezogenes Wissen über wertneutrale Fakten wie etwa eine mathematische Formel bewahrt.38 Es enthält unter anderem die Bedeutung von Wörtern und sprachlichen
Symbolen, linguistische Regeln sowie unser allgemeines Wissen über die Fakten in
der Welt, zum Beispiel daß die Hauptstadt Italiens Rom heißt oder Fledermäuse
Säugetiere sind.39 Gemeinsam mit dem episodischen Gedächtnis bildet es das deklarative Gedächtnissystem, worunter man jenen Teil des Langzeitgedächtnisses
versteht, der dem Individuum bewußt über die Sprache zugänglich ist.40 Im Unterschied zu dem auf zeitlich-räumliche Einordnung beruhenden episodischen Gedächtnis werden die Inhalte des semantischen Gedächtnisses jedoch ohne einen
räumlich-zeitlichen Bezug gespeichert.41 Semantisches Wissen zeichnet sich durch
ein hohes Maß an Strukturiertheit und Organisiertheit aus, vor allem aber dadurch,
daß es im Gegensatz zu episodischen Inhalten unabhängig von spezifischen Lernerfahrungen und -kontexten lange Zeit erhalten bleibt, unter Umständen das ganze
Leben lang.42
zugehörigen Fachausdrücke verfügte – jeweils während des aktuellen Spiels, danach nicht mehr.
Vgl. hierzu SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 221-225.
38
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 82; MARKOWITSCH, Die Erinnerung von
Zeitzeugen, S. 34.
39
Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 58.
40
Vgl. KÖLBL, Deklaratives Gedächtnis, S. 115; TULVING, memory systems, S. 389-390;
dens., Episodic and semantic memory, S. 383; WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 171.
41
Vgl. SCHERMER, Semantisches Gedächtnis, S. 533-534.
42
Vgl. FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 96; KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf
der Lebensspanne, S. 519.
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36
Gedächtnis und Erinnerung
Abbildung 1: Die vier Systeme des Langzeitgedächtnisses
Gedächtnis
deklaratives Gedächtnissystem
(bewußt)
implizites, non-deklaratives
Gedächtnissystem (unbewußt)
Wissens-
Episodisches
Prozedurales
system
Gedächtnis
Gedächtnis
Priming
Mein erstes
Treffen mit
Gerd
H2O = Wasser
2
2
a +b =c
2
Mein
Abschlußball
Rom = Hauptstadt von Italien
Quelle: MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 189.
Im Unterschied zum semantischen Gedächtnis, das in seiner basalen Form und
Funktion auch bei Tieren anzutreffen ist, ist das episodische Gedächtnis ausschließlich menschlicher Natur, weil es ein Bewußtsein über die Vergangenheit voraussetzt.43 Mit dem Merkmal des Vergangenheitsbewußtseins, das das episodische
Gedächtnis sowohl auf Verhaltens- als auch auf Hirnebene zur komplexesten Form
des Gedächtnisses macht,44 hängen zwei weitere Eigenschaften zusammen: Episodische Gedächtnisinhalte sind zum einen kontextgebunden, das heißt, daß die Informationen über Zeit und Ort des zu erinnernden Ereignisses verfügbar sind, zum
43
Vgl. KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 519; NELSON,
Erzählung und Selbst, S. 248.
44
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 33.
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Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt
37
anderen sind sie auf die eigene Person bezogen.45 Beim Abruf von Informationen
wie der Name der Hauptstadt Italiens fehlt dieser persönliche Bezug. Es handelt sich
hierbei um semantisches Wissen. Versucht man jedoch, sich zu erinnern, wann und
wo man gelernt hat, daß Rom die Hauptstadt Italiens ist, wird das episodische Gedächtnis beansprucht.46 Episodische Inhalte beziehen sich folglich auf konkrete
Erlebnisse oder Ereignisse, die im Gegensatz zu semantischen Gedächtnisinhalten
nicht wertneutral sind, sondern eine affektive Konnotation aufweisen und von dem
Phänomen begleitet sind, daß wir uns dessen bewußt sind, daß wir uns erinnern.47
Diese Dimension wird von den Neurowissenschaften als ›autonoetisch‹ beziehungsweise als ›erfahrungsbewußt‹ bezeichnet. Noetisches Erinnern hingegen umfaßt persönliches Wissen, das jedoch weder ein Wiedererleben noch eine »mentale Zeitreise«48 in die Vergangenheit erlaubt. Diese Differenz zwischen Wissen (noetisch)
und Erinnern (autonoetisch) macht den zentralen Unterschied zwischen dem semantischen und dem episodischen Gedächtnis aus.49
Jener Teil des episodischen Gedächtnisses, der sich auf Erlebnisse der eigenen
Person bezieht, wird von den Neurowissenschaften als autobiographisches Gedächtnis bezeichnet.50 Hervorstechende Merkmale des autobiographischen Gedächtnisses
45
Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 82-83; MARKOWITSCH,
Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 223-224; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24.
46
Vgl. PARKIN, Gedächtnis, S. 37-56; SCHACTER, Aussetzer, S. 49; TULVING, Episodic
and semantic memory, S. 381-403; VATERRODT-PLÜNNECKE, Episodisches Gedächtnis, S
142-143.
47
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 36.
48
Tulving zitiert nach MARKOWITSCH, Autobiographisches Gedächtnis aus neurowissenschaftlicher Sicht, S. 188.
49
Vgl. MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 223-224; NELSON, Erzählung und Selbst, S. 248; TULVING, Das episodische Gedächtnis, S. 50-54-58.
50
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 82; GISBERT, Das autobiographische Gedächtnis, S. 26-29; WEBER, Autobiographisches Gedächtnis, S. 67-68. In der Gedächtnisforschung ist
die inhaltliche Zuordnung des autobiographischen Gedächtnisses überaus umstritten. Auf der einen
Seite stehen Neurowissenschaftler wie MARKOWITSCH (Autobiographisches Gedächtnis aus
neurowissenschaftlicher Sicht, S. 188 sowie ders., Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 35.), die
davon ausgehen, daß das autobiographische Gedächtnis Bestandteil des episodischen ist. Auf der
anderen Seite vertritt der Sozialpsychologe Harald WELZER (Das kommunikative Gedächtnis, S.
144 sowie Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 182-184) die These, daß das autobiographische Gedächtnis keineswegs als Spezialfall des episodischen Gedächtnisses anzusehen ist,
sondern als ein übergeordnetes System, das sich im Wechselspiel von episodischen, semantischen,
prozeduralen und Priming-Gedächtnisfunktionen herausbildet und erhält. Dem-zufolge kommt dem
autobiographischen Gedächtnis die Aufgabe zu, die in den unterschiedlichen Gedächtnissystemen
bearbeiteten Gedächtnisfunktionen zu synthetisieren und beständig auf das Selbst zurückzubeziehen. Da Welzers These in der Gedächtnisforschung weit weniger Zustimmung findet als die herkömmliche Definition der Neurowissenschaften und sich zudem mit dem Vorwurf konfrontiert
sieht, ein veraltetes Gedächtnisverständnis zugrunde zu legen – so die Auffassung von Markowitsch und Tulving –, schließt sich die vorliegende Darstellung dem traditionellen Befund an,
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38
Gedächtnis und Erinnerung
sind seine Selbstbezogenheit – es geht nicht um Dinge, die irgendwo irgendwann
irgendwem geschehen sind, sondern um Ereignisse, die in irgendeiner Weise mit mir
zu tun haben.51 Autobiographische Inhalte sind demnach nicht nur in gewußter,
sondern auch in affektiver Form repräsentiert und abrufbar. Im ersten Fall handelt es
sich um ich-bezogene Informationen, zum Beispiel das eigene Geburtsdatum, das
wir nur aufgrund von Berichten anderer kennen. Neben diesem gewußten Selbstbezug existiert die Form des emotionalen Erlebens selbstbezogener Erinnerungen. Der
Erinnerungsprozeß ist hier von einem Gefühl des Bereits-gehabt-Habens und des
Wiedererkennens begleitet. Wir verspüren eine Vertrautheit zu dem erinnerten Geschehen und sind fest davon überzeugt, daß sich das Erinnerte genauso zugetragen
Abbildung 2: Eigenschaften des semantischen, episodischen und autobiographischen Gedächtnisses
Eigenschaft
Gedächtnisart
semantisches
episodisches
Gedächtnis
Selbstbezug
gering und selten
Gedächtnis
gering
Gedächtnis
hoch
Gefühl des Sich-Erin-
selten vorhanden
persönliche Interpretation
selten
selten
häufig vorhanden
Veridikalität
sozialer Konsens
hoch
unterschiedlich
nerns
Dauerhaftigkeit
kontextspezifische sens-
orische und perzeptuelle
bedeutsam
Jahre
normalerweise, aber
autobiographisches
nicht immer vorhanden
immer vorhanden
nie vorhanden
immer vorhanden
Tage
Jahre
möglich, aber selten
häufig vorhanden
häufig vorhanden
immer vorhanden
Attribute
Imagery
Quelle: GRANZOW, Das autobiographische Gedächtnis, S. 20.
hat, wie es von uns erinnert wird. Dieses Gefühl des Wiedererlebens und die Überzeugung, daß es sich um eine wahrheitsgemäße Erinnerung an ein Ereignis aus der
eigenen Vergangenheit handelt, wird als ›Imagery‹ bezeichnet und ist bei autobiographisch-episodischen Informationen wesentlich stärker ausgeprägt als bei semantischen.52
wonach das autobiographische Gedächtnis dem episodischen zuzuordnen ist. Allerdings darf an
dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Subsystemen des
Langzeitgedächtnisses fließend sind und eine eindeutige Abgrenzung kaum möglich ist.
51
Vgl. WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169.
52
Vgl. GRANZOW, Das autobiographische Gedächtnis, S. 20; JUREIT, Erinnerungsmuster, S.
45; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 11-13; NELSON, Über
Erinnerungen reden, S. 78-92.
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Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt
39
Wie aus den bisherigen Erörterungen ersichtlich wird, sind die Grenzen zwischen
dem semantischen und dem episodisch-autobiographischen Gedächtnis keineswegs
immer eindeutig bestimmbar, zumal beide Systeme deklarativer Natur sind und eng
miteinander zusammenhängen.53 Episodisch-autobiographischen Ursprungs sind
Zeitzeugenberichte vor allem dann, wenn sich die Befragten auf die bereits erwähnte
mentale Zeitreise begeben und eine Episode aus ihrer Vergangenheit schildern,
beispielsweise wie sie als Angehörige der 6. Armee während ihrer Zeit in Stalingrad
einen »Wahnsinnshunger«54 erleiden mußten:
»Sie kamen auf die ausgefallensten Ideen. Da wurde gescharrt, ob irgendwo noch
ein Grasbüschel zu … zu ergattern war, oder sie haben … ich war zum Beispiel
Nichtraucher, ich hab zum Beispiel auf Zigarren gekaut, nicht, die ich nie in meinem Leben geraucht hätte oder überhaupt in den Mund genommen hätte, um nur
… nur um das Hungergefühl zu töten.«55
Als semantisch sind dagegen all jene Aussagen einzustufen, in denen Fakten dargelegt werden, die den Betroffenen zum Zeitpunkt des Erlebens nicht bekannt gewesen
sein können und erst im Nachhinein erworben wurden, beispielsweise die Angabe,
daß »in den letzten neun Monaten nach dem 20. Juli [1944] mehr Menschen, Soldaten und Zivilisten umgekommen sind als in den fünf Jahren zuvor.«56 Gleiches gilt
auch für solche Passagen, in denen die historischen Geschehnisse aus der heutigen
Situation heraus moralisch oder in sonstiger Hinsicht bewertet werden, beispielsweise die Beurteilung des Untergangs der 6. Armee in Stalingrad als »größte[n]
Fehler einer militärischen Führung« oder als »größte Schweinerei des Jahrhunderts«57.
1.4
Die Veridikalität von Erinnerungen
Wenn das Gedächtnis nun nicht, wie lange Zeit angenommen, wie ein Speicher
funktioniert, aus dem Informationen eins zu eins abgerufen werden, sondern vielmehr ein konstruktiv arbeitendes Netzwerk darstellt, müssen seine Leistungen als
unzuverlässig und an vielen Stellen als fehlerhaft erachtet werden.58 Trotz dieser
nicht zu bestreitenden Anfälligkeit für Verzerrungen und Verfälschungen läßt uns
unser subjektives Bewußtsein keine andere Wahl, als unsere Erinnerungen grundsätzlich für wahr zu halten, denn erst sie bilden das Fundament für all unsere Erfah-
53
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 25.
Int. 01067, S. 14.
55
Int. 00057, S. 29.
56
Int. 01183, S. 28.
57
Int. 01298, S. 19.
58
Vgl. SCHACTER, Memory Distortion, S. 103
54
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40
Gedächtnis und Erinnerung
rungen, Beziehungen und vor allem für das Bild unserer eigenen Identität.59 Objektiv betrachtet ist in den meisten Fällen die Veridikalität einer Erinnerung nur äußerst
schwer überprüfbar, da häufig keine vergleichbaren Informationen und Quellen über
persönliche Lebensereignisse existieren.60 Dies gilt in besonderem Maße für die
vorliegenden Interviewberichte, deren Wahrheitsgehalt aufgrund fehlender Vergleichsmöglichkeiten meist nur schwer überprüfbar ist, vor allem, wenn die Befragten über ihre damaligen Ansichten und Einstellungen berichten und etwa behaupten,
dem Nationalsozialismus von Anfang an skeptisch gegenübergestanden oder schon
frühzeitig erkannt zu haben, daß der Krieg für Deutschland verloren gehen würde.
Dennoch lassen sich verschiedene Verformungskräfte und -prozesse benennen, die
auf unsere Erinnerungen einwirken. An erster Stelle steht dabei das, was allgemein
hin als Vergessen bezeichnet wird, also jener Prozeß, der bewirkt, daß bereits einmal
im Gedächtnis abgelegte Informationen scheinbar wieder verloren gehen. Eine Steigerung erfährt das Vergessen in den unterschiedlichen Mechanismen der Verdrängung, die insbesondere nach traumatischen Ereignissen wirksam werden. Darüber
hinaus existiert ein drittes Phänomen, das in der Forschung als False-Memory-Syndrom bezeichnet wird und verschiedene Formen der Verzerrung und Verfälschung
von Gedächtnisinhalten abseits von Vergessen und Verdrängen beinhaltet. Für alle
drei genannten Verformungskräfte gelten unterschiedliche Bedingungsfaktoren,
welche die Veridikalität einer Erinnerung maßgeblich beeinträchtigen, zum Beispiel
der Zeitabstand zwischen einem Ereignis und seiner Erinnerung, der Kontext, in
dem sich ein Gedächtnisabruf vollzieht, oder das Alter der sich erinnernden Person.
1.4.1
Erinnern und Vergessen
Die Kapazität des menschlichen Gedächtnisses erscheint begrenzt, zumindest aber
sind alle Informationen, die von unserem Gehirn jemals aufgenommen und verarbeitet worden sind, nicht zum selben Zeitpunkt in gleichem Maße verfügbar. Solch
eine totale Erinnerung wäre für unser Gehirn nicht zu bewältigen. Der Mensch
könnte von all den Eindrücken, die er wahrnimmt, nicht sonderlich viel behalten,
wenn er nicht gleichzeitig anderes wieder vergäße.61 Vergessen ist ein konstruktiver
Prozeß, der zum einen in ›negativer‹ Hinsicht die aufgenommenen Sinneseindrücke
verformt und gewichtet und aus ihrer Fülle dasjenige aussortiert, wessen es nicht zu
bedürfen meint. Zum anderen kommt dem Vergessen aber auch eine entlastende
Funktion zu, die darin besteht, das Gedächtnis von einschnürenden und beklemmenden Erinnerungen zu befreien und ihm dadurch zu neuer geistiger Vitalität zu ver-
59
Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen, S. 103-104, 109.
Vgl. WEBER, Autobiographisches Gedächtnis, S. 69.
61
Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 325-326.
60
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Die Veridikalität von Erinnerungen
41
helfen.62 Vor diesem Hintergrund ist es völlig unzutreffend, Erinnern und Vergessen, wie allgemein hin angenommen wird, als Gegensatz zu betrachten, denn beide
bilden eine zusammenhängende Funktion zur Bewältigung einer beinahe unendlichen Fülle an Informationen. Freilich lassen sich für die Auswahl der Sinneseindrücke und Inhalte keine festen Regeln aufstellen, zumal sie sowohl bewußt, begründet und gezielt, aber auch instinktiv und unbewußt erfolgen kann. Davon unabhängig sind es jedoch nicht nur unwichtige Informationen, die dem Vergessen anheimfallen, sondern ungewollt auch solche, die sich im Verlauf des Lebens als bedeutsam herausstellen.63
Mit der Unterscheidung zwischen der Selektion eintreffender Sinneseindrücke auf
der einen und dem Entfernen bereits im Gedächtnis kodierter und abgelegter Erinnerungen auf der anderen Seite ist bereits angedeutet worden, daß dem Vergessensprozeß zwei verschiedene Funktionen zugeordnet werden. Im ersten Fall werden
eintreffende Informationen erst gar nicht Bestandteil des Langzeitgedächtnisses, da
sie bereits im Vorfeld dem Selektionsprozeß zum Opfer fallen. Ob bei solch einer
Definition wirklich von Vergessen gesprochen werden kann, erscheint äußerst fragwürdig, da es sich hierbei um keine Form des Nicht-Erinnerns handelt, sondern um
eine Auswahl, die vielmehr dem Wahrnehmungsprozeß, genauer gesagt den Selektionsmechanismen des sensorischen beziehungsweise des Kurzzeitgedächtnisses
geschuldet ist. Weitaus zutreffender gestaltet sich hingegen die zweite Funktion, die
Vergessen als Versagen des Abrufs von Informationen betrachtet, die sich bereits im
Langzeitgedächtnis befinden.64 Der entscheidende Unterschied zur erstgenannten
Definition besteht darin, daß das zu Vergessende hier zu einem früheren Zeitpunkt
schon einmal verfügbar gewesen ist und nicht erst kodiert und im Gedächtnis repräsentiert werden muß.65 Wenn eine bereits gespeicherte Information in einem
bestimmten Moment nicht abrufbar ist und als vergessen erscheint, bedeutet das aber
nicht zwangsläufig, daß sie nicht mehr vorhanden sein muß. Oftmals können andere
Kontextbedingungen scheinbar Vergessenes doch noch ans Tageslicht befördern.
Einen Beweis, daß etwas endgültig vergessen worden ist, gibt es daher nicht. Ob und
wie weit solch scheinbar vergessene Informationen später abrufbar sind, ist von
einer Vielzahl meist unbestimmbarer Faktoren abhängig, beispielsweise vom Zeitabstand zwischen einem Ereignis und seinem Abruf. Der sogenannten Vergessenskurve läßt sich entnehmen, daß in der ersten Stunde nach der Wahrnehmung einer
Information der größte Erinnerungsverlust eintritt. Die Geschwindigkeit des Vergessens verlangsamt sich mit zunehmender Zeit. Parallel dazu laufen im Gedächtnis
verschiedene Konstruktionsprozesse ab, die zu einer Veränderung des ursprüng62
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 113-114.
Vgl. POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 37-41; RICOEUR, Das Rätsel der Vergangenheit, S. 131-132.
64
Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 78; vgl. WERBER, Vergessen / Erinnern, S. 84.
65
Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 108.
63
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42
Gedächtnis und Erinnerung
lichen Erlebnisses auf der Basis von vorhandenem Wissen und von Erfahrungen
führen.66
Im Ergebnis bleibt festzustellen, daß Erinnern und Vergessen miteinander korrespondieren. Als erinnert kann eine Information dann gelten, wenn sie gedanklich
wieder oder weiterhin zu Verfügung steht, als vergessen, wenn gedanklich nicht
mehr auf sie zugegriffen werden kann.67 Daß insbesondere Zeitzeugen des Nationalsozialismus, die über Erlebnisse berichten, die mehr als 50 Jahre zurückliegen, anfällig für das Vergessen von Informationen sind, liegt auf der Hand. Bei welchen
Erinnerungsinhalten dies mehr oder minder der Fall ist und welche Faktoren dies
bedingen, ist in Abschnitt 1.4.4 noch näher zu erörtern.
1.4.2
Erinnern und Verdrängen
Die Erinnerungen mancher Menschen sind in einer Art und Weise unzugänglich, die
weit über das Maß des Vergessens hinausgeht.68 Speziell Opfer traumatischer Erfahrungen, zum Beispiel Personen, die vergewaltigt oder entführt worden sind, die also
unbeschreibliche Schrecken durchlebt haben, sind oftmals dermaßen gekennzeichnet, daß sie diese gravierenden Erlebnisse verdrängt haben. Verdrängung wird in der
klassischen psychoanalytischen Theorie als Schutzmechanismus aufgefaßt, der dafür
sorgt, daß jene Ereignisse aus dem Gedächtnis ausgeschlossen werden, die als zu
furchterregend, zu demütigend oder zu beschämend empfunden werden, als daß ihre
Erinnerung psychisch bewältigbar wäre.69 Als traumatisch werden Erinnerungen im
psychologischen Sinne dann bezeichnet, wenn sie angesichts ihrer extrem emotionalen Intensität die Lebensgeschichte beziehungsweise das subjektive Zeitbewußtsein eines Menschen nachhaltig stören und daher nicht hinreichend verarbeitet werden können. Dies bedeutet, daß das traumatische Ereignis als derart schwerwiegend
empfunden wird, daß es zunächst verdrängt werden muß und solange latent bleibt,
bis es durch einen späteren Anlaß wieder hervortritt.70 Verdrängte Informationen
sind folglich keineswegs für immer verloren, sondern lediglich für einen bestimmten
Zeitraum nicht verfügbar.71
Etwas anders geartet sind extrem negative und belastende Lebensereignisse besonderen Ausmaßes, die einen Gedächtnisverlust hervorrufen können, der als ›psychogene Amnesie‹ bezeichnet wird. Ein solcher Gedächtnisverlust kann auf ein spe-
66
Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 623-624.
Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 108.
68
Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen?, S. 104.
69
Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 7; VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 625.
70
Vgl. NOLTE, Das Trauma des Genozids, S. 88.
71
Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 85; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 75-78.
67
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Die Veridikalität von Erinnerungen
43
zielles Ereignis begrenzt sein oder sich auf die gesamte Persönlichkeit beziehen.72
Bestes Beispiel für solch eine belastende Erfahrung sind Ereignisse wie Krieg oder
Völkermord, die bei vielen Überlebenden zu traumatischen Reaktionen und Verdrängungsprozessen führen können. Oftmals sehen die Opfer in der Vermeidung der
Erinnerung des Erlebten die einzige Möglichkeit, der überwältigenden Pein der
Ereignisse zu entfliehen, denn jeder Gedanke an das Geschehene würde eine zu
große psychische Belastung für sie darstellen.73 Andere hingegen stehen unter einem
derart starken Einfluß des Erlebten, daß sie auch nach Jahren oder Jahrzehnten regelrecht in der Vergangenheit stecken bleiben.74 In solchen Fällen sprechen Psychologen von ›Hypermnesie‹ – einer Krankheit, bei der Menschen von einem fast schon
überscharfen und mit starkem Affekt geladenen Erinnerungsvermögen heimgesucht
werden, das oftmals tiefgreifende seelische Erschütterungen nach sich zieht.75
Angesichts der Auswirkungen, die die geschilderten Verdrängungsmechanismen
auf das Gedächtnis ausüben können, stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit
der Erinnerungen traumatisierter Menschen. Einige Forscher sind zu der Auffassung
gelangt, daß Erinnerungen an traumatische Ereignisse äußerst detailliert und möglicherweise sogar für immer erhalten bleiben und sich daher grundsätzlich von Erinnerungen an herkömmliche Erlebnisse unterscheiden. Ihrer Argumentation zufolge
wird bei psychischen Traumata der innerste Kern einer Erfahrung dauerhaft und oft
erstaunlich genau bewahrt. Gedächtnistäuschungen betreffen hier, wenn sie denn
auftreten, fast immer nur bestimmte Einzelheiten.76 Andere Forscher stellen hinge-
72
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 136; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle
und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 40-41.
73
Vgl. BAUMBACH, Die Verfolgung Hamburger Juden, S. 14-15; ROTH, Trauma, Repräsentation und historisches Bewußtsein, S. 170-171.
74
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 276-277.
75
Vgl. MANN, Validitätsprobleme retrospektiver Interviews, S. 364.
76
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 331-337. Einen Beleg für die Zuverlässigkeit
traumatischer Erinnerungen scheint die Studie von Willem WAGENAAR und Jop GROENEWEG
(The memory of concentration camp survivors, S. 77-87) zu liefern. Die beiden Psychologen machten die Erinnerungen von Insassen des Lagers Erika, eines holländischen Gefängnisses, das während der deutschen Besetzung 1942/43 in ein Konzentrationslager umgewandelt worden war, zum
Gegenstand einer Studie. Nachdem das Lager aufgelöst worden war, hatte die holländische Polizei
viele der Überlebenden befragt, die ihre Erinnerungen an die Mißhandlungen, Folterungen und
Morde schilderten. Vierzig Jahre später befragten Wagenaar und Groeneweg einige der Überlebenden erneut und verglichen ihre Aussagen mit denen, die sie nach ihrer Befreiung gegenüber
der holländischen Polizei gemacht hatten, mit dem Ergebnis, daß sich ihre Erinnerungen im allgemeinen mit ihren früheren Aussagen als weitgehend identisch erwiesen. Die meisten Insassen
machten übereinstimmende Angaben über die Foltermethoden und die schreckliche Behandlung
der jüdischen Häftlinge. Alle erinnerten sich an zentrale Merkmale des Lagers und an wichtige
Geschehnisse. Doch bei einzelnen Ereignissen und Fakten kamen Vergessen und Gedächtnistäuschungen ins Spiel, speziell bei der Frage des Einlieferungsdatums. Auf der Basis solcher Ergebnisse scheint vieles dafür zu sprechen, daß Erinnerungen an psychische Traumata tatsächlich sehr
häufig zuverlässiger sind als Erinnerungen an herkömmliche Erlebnisse. In methodischer Hinsicht
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44
Gedächtnis und Erinnerung
gen den Faktor Streß in den Vordergrund, der bei den Betroffenen infolge traumatisierender Ereignisse ausgelöst wird und die Genauigkeit ihrer Wahrnehmung und
daraus resultierend auch ihrer Erinnerungen beeinträchtigt. Situationen, die als
streßhaft oder traumatisch erlebt werden, können auf Hirnebene Kaskaden von
Streßhormonen freisetzen, die den normalen Informationsfluß und damit den Zugang zu bereits abgelegten Informationen beziehungsweise die Aufnahme neuer
Informationen blockieren.77 In einer Untersuchung mit 23 entführten und 16 Stunden
festgehaltenen Schulkindern, die vier bis fünf Jahre nach dem Ereignis befragt wurden, wurde eine überraschend hohe Quote von falschen Erinnerungen festgestellt,
die auf eine verzerrte oder extrem eingeschränkte Wahrnehmung während der Ereignisse selbst zurückzuführen ist.78 In eine ähnliche Richtung weisen auch Studien mit
Kriegsveteranen, die in Mann-Gegen-Mann-Kämpfe verwickelt gewesen waren und
nachfolgend über kognitive Störungen, insbesondere Gedächtnisschwund klagten.
Die Betroffenen wiesen auffallende Schrumpfungen im Bereich des Hippocampus
auf – jener Struktur, die für die Informationsübertragung in das Langzeitgedächtnis
verantwortlich ist.79 Diese und andere Studien belegen, daß unsere Umwelt und
insbesondere der Grad der Streßhaftigkeit, unter dem Informationen aufgenommen
beziehungsweise abgerufen werden, unsere Gedächtnisleistung signifikant beeinflussen. In Anbetracht der genannten Befunde sind berechtigte Zweifel angebracht
gegenüber der Annahme, Erinnerungen an traumatische Ereignisse seien präziser
oder gar authentischer als in gewöhnlichen Fällen. Auch wenn durchaus einzelne
Aspekte zuverlässig rekonstruierbar sind, unterliegen sie insgesamt denselben auf-
weist die Studie Wagenaar und Groeneweg jedoch erhebliche Mängel auf. Mit ihrem Untersuchungsansatz konnten die beiden Psychologen lediglich belegen, daß die Erinnerungen der Insassen ein hohes Maß an Reliabilität aufwiesen, da sie über vierzig Jahre hinweg stabil geblieben waren. Daß sie gleichzeitig aber auch valide waren, das heißt den tatsächlichen Ereignissen innerhalb
des Lagers entsprochen haben, ist damit keineswegs erwiesen, schließlich ist es durchaus vorstellbar, daß die Angaben, die die Insassen drei Jahre nach ihrer Befreiung gegenüber der holländischen Polizei gemacht hatten, bereits Verzerrungen und Verfälschungen unterworfen waren.
77
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 46.
78
Vgl. hierzu ausführlich TERR, Unchained memories.
79
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 44. Im 20. Jahrhundert wurden
die negativen Folgen traumatischer Erfahrungen für das Gedächtnis und andere psychische Funktionen erstmals während des Ersten Weltkriegs erkannt. Die Ärzte begannen Fälle des sogenannten
Granatenschocks zu behandeln – Soldaten, die auf den Schlachtfeldern Europas lebensgefährliche
Situationen durchlebt hatten, waren durch ständig wiederkehrende Alpträume und intrusive Erinnerungen an ihre Begegnungen mit dem Tod wie gelähmt. Mit dem Zweiten Weltkrieg kam es zu
einer weiteren Zunahme solcher Fälle, doch dieses psychische Leiden, das wir heute posttraumatische Belastungsstörung nennen, wurde von der medizinischen Zunft offiziell erst nach dem Ende
des Vietnamkrieges anerkannt. Krankenhäuser und andere Institutionen wurden überflutet mit Fällen, in denen intrusive Kriegserinnerungen und stetig wiederkehrende, von Schlachtenbildern gespeiste Alpträume die Fähigkeit der Opfer beeinträchtigten, ihr Leben in der Heimat fortzusetzen
und sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 275.
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Die Veridikalität von Erinnerungen
45
bewahrungsspezifischen Einschränkungen wie Erinnerungen an weniger belastende
Ereignisse.80
Mit Blick auf das vorliegende Zeitzeugensample stellt sich nun die Frage, inwiefern die vom ZDF befragten Personen als traumatisiert einzustufen sind – eine
Frage, die von einem Nicht-Psychologen, der der Historiker nun mal ist, nur schwer
beantwortet werden kann. Freilich enthalten die vorliegenden Erzählungen zahlreiche Aussagen, in denen die befragten Zeitzeugen bestimmte Erlebnisse als »traumatisch«81 erachten, beispielsweise Gefechtssituationen, die Vertreibung aus der Heimat, die Zeit der Kriegsgefangenschaft oder das Erleben des Holocaust:82
»Zunächst möcht’ ich einmal sagen, daß ich mit großer Beklemmung mit diesem
Thema [dem Holocaust, Anm. des Autors] vor die Kamera trete hier. Die Dinge,
über die ich sprechen werde, liegen sechzig Jahre zurück, aber das Trauma ist geblieben. Das zunächst. Ich bin sechsmal mit der geheimen Staatspolizei, Gestapo,
unfreiwillig natürlich, zusammengekommen in Anführung. 1933, 1935, 1939, 1941
und zweimal 1944. 1933, ziemlich am Anfang im Mai oder Juni klingelte es morgens um sechs an der Tür. […]«83
Obwohl sich solche Passagen, in denen Zeitzeugen bestimmte Erlebnisse als traumatisch einstufen, häufiger beobachten lassen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß
hier auch wirklich ein akutes Trauma im medizinischen Sinne vorliegt, zumal sich
die Befragten trotz einer solchen Selbstdiagnose dazu in der Lage sehen, über Themen, die sie als belastend empfinden, vor der Fernsehkamera Auskunft zu geben. Ob
in solchen Fällen, wie von dem Zeitzeugen behauptet wird, wirklich ein Trauma
vorliegt, oder ob es sich um ein ›ehemaliges‹, mittlerweile überwundenes Trauma
handelt, also um eine Erfahrung, die lange Zeit verdrängt wurde, inzwischen aber
wieder zugänglich ist –
»Ich habe viele Jahre, man kann sagen Jahrzehnte, unter einem Trauma des DRKEinsatzes Zerstörung Dresden und der Militäreinsätze zu leiden, hatte Schwierigkeiten, darüber zu sprechen. Vor einigen Jahren hätte ich dieses Interview heute
nicht führen können«84.
80
Vgl. LEDOUX, Das Netz der Gefühle, S. 263; SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 349351; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 35.
81
Int. 01255, S. 28.
82
Vgl. Int. 00014, S. 22; Int. 00030, S. 9-10; Int. 01058, S. 3; Int. 01074, S. 15; Int. 01095, S.
30; Int. 01100, S. 5-6; Int. 01111, 2003, S. 4-5; Int. 01139, S. 27; Int. 01262, S. 30; Int. 01291, S.
10, 26; Int. 01316, S. 8; Int. 01360, S. 15; Int. 01378, S. 2; Int. 02103, S. 3; Int. 02128, S. 3; Int.
02177, S. 6; Int. 02459, S. 30-31; Int. 03032, S. 21; Int. 03144, S. 8; Int. 03215, S. 7; Int. 03310, S.
8; Int. 03380, S. 18; Int. 03398, S. 26.
83
Int. 02087, S. 1.
84
Int. 03502, S. 5.
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Gedächtnis und Erinnerung
–, läßt sich aus Sicht des Historikers nicht endgültig beantworten. Eine solche Diagnose wäre selbst für einen Arzt oder Psychiater auf der Basis eines Zeitzeugeninterviews kaum möglich, da solche Interviews unter gänzlich anderen Voraussetzungen
geführt werden als therapeutische Gespräche.85 Ein Hauptunterschied liegt in dem
nicht-therapeutischen Zweck, dem Erinnerungsinterviews dienen. Hinzu kommt, daß
die Initiative zum Gespräch nicht im Leidensdruck der Befragten ihren Ausgangspunkt findet, sondern vom Forschenden beziehungsweise im vorliegenden Fall von
den Redakteuren des ZDF ausgeht, durch deren Fragestellung und Interessen das
einzelne Interview letztlich bestimmt wird. Ein weiterer Unterschied zur Therapie
besteht in dem fehlenden Veränderungswunsch des Befragten. Zeitzeugen sind keine
Klienten oder Patienten, die sich aufgrund psychischer Probleme um fachkundige
Hilfe bemühen.86 Es liegt auf der Hand, daß derartige Interviews folglich auch keine
therapeutisch heilende Wirkung erzielen können, sie ermöglichen es unter Umständen aber, daß der Befragte die Möglichkeit, seine eigene Geschichte einer ihm zuvor
unbekannten Person erzählen zu können, als Entlastung empfindet.87
1.4.3
Erinnern und Verfälschen: Das False-Memory-Syndrom
Neben den geschilderten Vergessensprozessen und Verdrängungsmechanismen,
denen verschiedene Gedächtnisinhalte anheimfallen können, existiert ein weiteres
Phänomen, das einen originalgetreuen Abruf aus dem Gedächtnis erschwert: das
›False-Memory-Syndrom‹. False memory bezeichnet den Unterschied zwischen real
gemachten Erfahrungen auf der einen und ihrer veränderten Erinnerung auf der
anderen Seite. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Phänomenen sind die
Differenzen von Input und Output einer Informationen hier jedoch nicht auf zwischenzeitliche Prozesse der Verdrängung, der Selektion oder des Informationsverlusts zurückzuführen, sondern liegen in den verschiedensten Formen der Verfälschung oder Verzerrung begründet.88 Eines der in der Gedächtnisforschung sehr
häufig zitiertes Beispiele für solch eine Verzerrung sind die Aussagen des Zeugen
John Dean89 im Zusammenhang mit dem Watergate-Skandal, die trotz ihrer
detaillierten und mit exakten Zeit- und Ortsangaben versehenen Erinnerungen sich
85
Vgl. JUREIT, Flucht und Ergreifung, S. 229-230.
Vgl. JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 53.
87
Vgl. BAUMBACH, Die Verfolgung Hamburger Juden, S. 14-15.
88
Vgl. ECHTERHOFF, false memory, S. 165-166.
89
John Dean (geb. 1938) war der Rechtsberater von Richard Nixon und gehörte zum innersten
Kreis des US-Präsidenten. Dean war eine der Schlüsselfiguren im sogenannten Watergate-Skandal.
Anfangs dem Präsidenten loyal ergeben und eine der Personen, die die Vertuschung der Affäre
vorantrieb, wechselte er am Ende die Fronten und wurde Hauptbelastungszeuge der Anklage, nachdem Nixon versucht hatte, ihn zum Sündenbock der Affäre zu stempeln. Zum Watergate-Skandal
vgl. Stanley L. KUTLER, The Wars of Watergate.
86
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Die Veridikalität von Erinnerungen
47
allesamt als falsch erwiesen, nachdem sie mit den später veröffentlichten Tonbandmitschnitten der entsprechenden Gespräche verglichen worden waren. Interessanterweise waren Deans allgemeine Schlußfolgerungen und Situationsinterpretationen
trotz der faktischen Fehlerinnerung bestimmter Details inhaltlich weitgehend korrekt, was belegt, daß Erinnerungszeugnisse trotz ihrer Anfälligkeit für Verzerrungen
und Verfälschungen nicht völlig an den ursprünglich gemachten Erlebnissen vorbeigehen.90 In welcher Form und Intensität false memories letztlich auftreten, ist von
Fall zu Fall verschieden und von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig.
Am häufigsten anzutreffen sind Verzerrungen, bei denen episodisch-autobiographische Inhalte durch äußere Einflüsse wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen
oder andere externe Informationsquellen unbewußt angereichert und verändert werden.91 Speziell beim Thema Nationalsozialismus üben öffentliche Formen des Erinnerns und Vergessens sowie damit verbundene gesellschaftliche Be- und Entlastungsstrategien, wenn auch unbewußt, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf
die Zeitzeugen aus.92 Gleichzeitig werden ihre Erinnerungen durch Erzählungen
anderer Menschen angereichert, die zur selben Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht
haben, beispielsweise Veteranen, die während des Krieges im selben Frontabschnitt
gekämpft haben.93 In extremen Fällen kommt es zu sogenannten Konfabulationen,
einer künstlichen Ausweitung des eigenen Erinnerungsrepertoires durch Inhalte, die
ausschließlich von außen, etwa durch den Selektions- und Umwandlungsfilter einer
anderen erzählenden Person hindurch unbewußt hinzugefügt werden.94 Solch eine
Integration von Fremderzählungen in die eigene Erinnerung ist selbst dann möglich,
wenn der Betroffene das Erzählte selbst gar nicht erlebt hat.95 Bestes Beispiel sind
die Aussagen von Zeitzeugen, die bei den Luftangriffen auf Dresden am 13. und 14.
Februar 1945 vor Ort gewesen sind und von Tieffliegern berichten, die Jagd auf
Menschen gemacht hätten – ein Mythos, der durch die Ergebnisse der historischen
Forschung unlängst widerlegt werden konnte (vgl. Abschnitt 4.3.6). Gedächtnisforscher sprechen in solchen Fällen, bei denen man etwas zu erinnern meint, das einem
in Wahrheit nie widerfahren ist, von kryptomnesischen Erinnerungen.96 Vor allem
Kriegserinnerungen erzeugen bei manchen Veteranen so etwas wie einen ›Ich-war-
90
Die Episode von John Dean wird in zahlreichen Untersuchungen geschildert, so etwa bei
FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 22-25, bei KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 53, bei
MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 267-268, bei SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 185-186, oder bei WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 34-35.
91
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 94.
92
Vgl. WELZER/MONTAU/PLAß, »Was wir für böse Menschen sind«, S. 34.
93
Vgl. SCHRÖDER, Die Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs, S. 18.
94
Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 99.
95
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 91-92; SCHACTER, Wir sind
Erinnerung, S. 205-214; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 162.
96
Vgl. WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 162.
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48
Gedächtnis und Erinnerung
dabei-Mythos‹. Hier verschmelzen Einbildung und Erinnerung auch bei denjenigen,
die nie in Kampfhandlungen verwickelt waren. Dabei helfen Bilder, die sich ihnen
durch Film und Fernsehen eingeprägt haben. Im autobiographischen Gedächtnis
fließen dann Selbsterlebtes und später Erfahrenes ununterscheidbar zusammen.97
Eng verbunden mit solchen Erinnerungsverzerrungen sind Veränderungen, die
durch später gewonnene Erkenntnisse und Faktenwissen zustande kommen. Sobald
Menschen den Ausgang eines Ereignisses kennen, bekommen sie den Eindruck, als
hätten sie schon immer gewußt, was geschehen würde.98 Gleiches gilt auch für Meinungen und Einstellungen zu politischen und sozialen Fragen, die im Laufe von
Jahren und Jahrzehnten gewissen Veränderungen unterworfen sind. Rückblickend
meinen viele zu glauben, ihre früheren Auffassungen hätten sich kaum von den
gegenwärtigen unterschieden. Dieses Phänomen läßt sich damit erklären, daß Erinnerungen aufgrund ihres konstruktiven Charakters keine Konstante in der Zeit darstellen, sondern genauso wie Meinungen, Einstellungen und Anschauungen fortwährend verschiedensten Wandlungsprozessen unterworfen sind, weshalb es schwer
fällt beziehungsweise unmöglich wird, zwischen einer ursprünglichen Information
und später gewonnenen Einflüssen zu unterscheiden.99 Ganz besonders gilt dies für
Sachinformationen über historische Vorgänge, die zum Zeitpunkt des Ereignisses
beziehungsweise zum Zeitpunkt einer früheren Erinnerung an dieses Ereignis noch
gar nicht bekannt gewesen sein konnten und das Geschehen im Nachhinein in einem
völlig anderen Licht erscheinen lassen.100 Bestes Beispiel hierfür wäre der Tag von
Hitlers ›Machtergreifung‹ am 30. Januar 1933 oder der Kriegsausbruch am 1. September 1939. Was heute über diese Ereignisse und ihre Folgen allgemein bekannt
ist, beispielsweise die Schrecken des Krieges, der Zerstörung und Vernichtung, ist
für die meisten Zeitzeugen zum damaligen Zeitpunkt in dieser Dimension nicht
absehbar gewesen, was jedoch nicht bedeutet, daß sie sich dieser Abweichung heute
bewußt sein müssen.101 Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, wenn
exakt dieselbe Begebenheit Jahre oder Jahrzehnte später in einem völlig anderen
Licht erscheint als zum Zeitpunkt des Erlebens oder als zu einem früheren Erinnerungszeitpunkt.102 In verschiedenen psychologischen Untersuchungen ist festgestellt worden, daß derartige Verzerrungen auch dann auftreten, wenn man die Probanden ausdrücklich anweist, bei ihren Erinnerungen den tatsächlichen Ausgang
eines Ereignisses außer Acht zu lassen. Derartige Befunde lassen den Schluß zu, daß
das Wissen um ein zurückliegendes Ereignis augenblicklich mit anderem allgemeinen Wissen in das semantische Gedächtnis integriert wird. Das menschliche Ge-
97
Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 78-79.
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 232.
99
Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 95; Schacter, Aussetzer, S. 222-223.
100
Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 106.
101
Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 5.
102
Vgl. BERTAUX/BERTAUX-WIAME, Autobiographische Erinnerung, S. 112; LEHMANN,
Erzählstruktur und Lebenslauf, S. 28.
98
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Die Veridikalität von Erinnerungen
49
dächtnis scheint unter einem Zwang zu stehen, die Vergangenheit so zu rekonstruieren, daß sie sich unserem gegenwärtigen Wissen angleicht.103
Eine weitere Form der Erinnerungsverzerrung besteht darin, daß das menschliche
Gedächtnis die eigene Person mit einem »tröstlichen Lichtschein positiver Illusionen«104 umgibt. Menschen sind meist motiviert, eine hohe Meinung von sich zu
haben und hegen daher nicht selten schmeichelhafte Vorstellungen von ihren Fähigkeiten und Leistungen, was zu ›positiven‹ Illusionen führen kann. Die bestimmende
Rolle des Selbst bei Enkodierung und Gedächtnisabruf sowie die ausgeprägte Neigung des Menschen, in einem positiven Glanz erscheinen zu wollen, sind ein fruchtbarer Boden für Erinnerungsverzerrungen. Vergangene Erlebnisse werden in ein
Licht getaucht, welches das Selbst von seiner besten Seite zeigt. Bestes Beispiel sind
Zeitzeugenberichte, in denen die Befragten geradezu beschwören, niemals mit dem
Nationalsozialismus sympathisiert zu haben, obwohl sie faktisch der Goebbelsschen
Propaganda in vielen Bereichen aufgesessen und Hitler bereitwillig gefolgt sind.
Dasselbe Motiv liegt auch dann zugrunde, wenn das frühere Selbst im Wert herabgesetzt wird, denn dieser Mechanismus folgt einzig und allein dem Ziel, das gegenwärtige Selbst in einem besseren Licht erscheinen zu lassen und die eigene positive
Entwicklung herauszustreichen.105
In eine andere Richtung weisen alle jene Erinnerungsverzerrungen, bei denen Stereotype zum Tragen kommen. Bei Stereotypen handelt es sich um generalisierende
Beschreibungen früherer Erfahrungen, die wir verwenden, um Menschen und Gegenstände in Kategorien einzuteilen. Ein Beispiel wäre die unter vielen Zeitzeugen
weitverbreitete Vorstellung, Russen seien »primitive Menschen, die schmutzig waren, die keine Kultur hatten, die oft im Ofen schliefen«106. Für viele Sozialpsychologen stellen derartige Stereotype »Energiesparvorrichtungen«107 dar, die das Verständnis der sozialen Welt vereinfachen. Es erfordert erhebliche kognitive Mühen,
jeden Menschen, den wir kennenlernen, als besonderes Individuum wahrzunehmen.
Daher machen wir uns die Sache häufig einfacher und greifen auf stereotype Verallgemeinerungen zurück, die sich aus verschiedenen Quellen speisen: aus Gesprächen
mit anderen Menschen, aus den Medien – in diesem Falle aus der NS-Propaganda –,
und aus persönlichen Erfahrungen. Zwar kann der Rückgriff auf solche Vorurteile
unser kognitives Leben entlasten, unter Umständen aber auch zu unerwünschten
Ergebnissen führen, etwa wenn Stereotype in bestimmten Fällen von der Wirklichkeit abweichen und folglich zu falschen Urteilen und ungerechtfertigtem Verhalten
führen. Neuere Studien zeigen, daß stereotype Verzerrungen automatisch und völlig
103
Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 262-266.
SCHACTER, Aussetzer, S. 243.
105
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 238-243.
106
Int. 03175, S. 14.
107
SCHACTER, Aussetzer, S. 244.
104
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50
Gedächtnis und Erinnerung
unbewußt geschehen.108 Gleichwohl üben sie nicht nur auf unser Denken und
Verhalten einen nicht zu unterschätzenden Einfluß aus. Darüber hinaus verändern
sie auch unsere Erinnerung, insbesondere dann, wenn Menschen ausgeprägte Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe verbinden wie zum Beispiel folgender
Zeitzeuge, der im Zusammenhang mit den fingierten polnischen Übergriffen auf den
Sender Gleiwitz behauptet, diese hätten tatsächlich stattgefunden. Auf die Frage,
woher er das denn wisse, entgegnet er:
»Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei. Ich kann es mir einfach vorstellen […]. Ich
meine, genauso wie es in der Tschechei die Tschechen gegen die Sudetendeutschen, so hat es auch in Polen Übergriffe gegeben. Und Sie glauben gar nicht, was
Minderheiten in dieser Hinsicht so alles anstellen. Da sind die Menschen plötzlich
zu Tieren geworden.«109
Wie an diesem Beispiel sehr deutlich wird, können solche Tendenzen einen Teufelskreis erzeugen, der dazu führt, daß ein Vorurteil den bevorzugten Abruf kongruenter Vorfälle bewirkt, was wiederum die stereotype Verzerrung verstärkt.110
Nimmt man die dargestellte Wirkungsweise des False-Memory-Mechanismus und
die Verformungskräfte des Vergessens und Verdrängens zusammen, so erscheint es
als überaus wahrscheinlich, daß die zu untersuchenden Zeitzeugenerinnerungen
durch spätere Einflüsse überlagert, gefärbt und verändert worden sind. Die Suggestibilität gegenüber derartigen Einflüssen und mithin die Wahrscheinlichkeit der
Veränderung einer Erinnerung ist jedoch individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die in ihren Erinnerungen gegenüber solchen Einflüssen praktisch immun
sind, während andere ihnen weitgehend unterliegen. Der Grad der Suggestibilität
hängt von verschiedenen individuellen Parametern ab, deren Einfluß auf die Veridikalität von Erinnerungen es im folgenden zu analysieren gilt.111
1.4.4
Bedingungsfaktoren für die Veridikalität von Erinnerungen
Losgelöst von den bisher dargestellten Vergessens-, Verdrängungs- und Verfälschungsmechanismen ist jede Erinnerung verschiedensten Bedingungen unterworfen, die einen bedeutenden Einfluß auf ihre Akkuratheit ausüben. Zum einen handelt
108
Erste Anhaltspunkte hierfür liefern Experimente, bei denen Stereotype aktiviert worden sind,
indem man verschiedenen Versuchspersonen Wörter so rasch darbot, daß die bewußte Wahrnehmung sie nicht registrieren konnte. Nach diesem unterschwelligem Priming durch Wörter, die einen
Stereotyp von ›Schwarzen‹ aktivieren sollten, zeigten weiße amerikanische Studenten eine größere
Neigung, eine fiktive männliche Person von unspezifischer ethnischer Zugehörigkeit als feindselig
einzustufen. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 245.
109
Int. 01596, S. 16.
110
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 244-248.
111
Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 5.
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Die Veridikalität von Erinnerungen
51
es sich dabei um Faktoren, die dem Erinnerungsgegenstand zu eigen sind wie die
subjektive Bedeutsamkeit eines Ereignisses für die sich erinnernde Person, sein
emotionaler Gehalt sowie sein Interferenzgrad, also das Maß an Ähnlichkeit zu
anderen Ereignissen, zum anderen um die Rahmenbedingungen des Informationsabrufs, die sich aus dem Erinnerungskontext, aus der temporalen Distanz zu dem betreffenden Ereignis sowie aus dem Alter des sich Erinnernden zusammensetzen.
1.
Der Einfluß der subjektiven Bedeutsamkeit eines Erlebnisses
Allgemein hin ist davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen,
insbesondere dann, wenn sie selten oder nie aus dem Gedächtnis abgerufen werden.
Auf Hirnebene führt dies dazu, daß die neuronalen Verbindungen, in deren Form die
entsprechenden Informationen repräsentiert sind, im Falle ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen.112 Diejenigen Ereignisse und Erlebnisse, die hingegen sehr häufig abgerufen werden, sind wesentlich
präziser memorierbar. Je öfter ein- und dieselbe Information benötigt wird, desto
exakter gestaltet sich ihre Erinnerung, allerdings mit der Einschränkung, daß es sich
hierbei um Erinnerungen an Erinnerungen und keineswegs um einen originalgetreuen Abruf handelt.113 Es liegt auf der Hand, daß Ereignisse, die von großer persönlicher Relevanz sind, öfter aus dem Gedächtnis abgerufen und kommuniziert
werden als alltägliche Begebenheiten und routinisierte Vorgänge oder als Erfahrungen anderer Menschen, deren Leid oder Glück uns weitaus weniger berührt als das
eigene.114 Insbesondere das letztgenannte Phänomen ist in den vorliegenden Interviews überaus häufig zu beobachten, beispielsweise wenn Frontsoldaten ausführlich
über den Schmerz ihres schwersten Verwundungserlebnisses berichten, während sie
die Verletzung eines Kameraden nur am Rande thematisieren (vgl. Abschnitt 5.1.5),
oder in plastischer Weise jene Verbrechen schildern, die von der Roten Armee an
der deutschen Zivilbevölkerung verübt worden sind, die von deutscher Seite an
russischen Zivilisten begangenen Greueltaten hingegen marginalisieren (vgl. Abschnitt 4.3.3 und 5.2.2).
Ein von verschiedenen Gedächtnisforschern in diesem Zusammenhang beschriebenes Phänomen stellen sogenannte ›Blitzlicht-Erinnerungen‹ (flashbulb memories)
dar. Hierbei handelt es sich um Erinnerungen an außergewöhnliche Ereignisse, die
einen herausragenden Bedeutungsgehalt besitzen. Ausgehend vom Attentat auf John
F. Kennedy im Jahre 1963 waren die Psychologen Roger Brown und James Kulick
112
Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen?, S. 108; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160.
113
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 146.
114
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 101; MANN, Validitätsprobleme retrospektiver
Interviews, S. 356.
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52
Gedächtnis und Erinnerung
die ersten, die von Blitzlicht-Erinnerungen sprachen. Sie nahmen an, daß ein neues
und schockierendes Ereignis einen speziellen Mechanismus im Gehirn auslöst, den
sie als Schnappschuß bezeichneten. Analog zum grellen Schein des Blitzlichts bei
einem Photo bewirkt dieser Schnappschuß, daß alles festgehalten oder ›eingefroren‹
wird, was in jenem Augenblick vor sich geht, in dem wir von einem schockierenden
Ereignis erfahren:115 »They have a ›primary‹, ›live‹ quality that is almost perceptual.
Indeed, it is very like a photograph.«116 Zentrale Merkmale solcher Blitzlicht-Erinnerungen sind zum einen ein hoher Grad an subjektiver Gewißheit, daß die abgerufenen Informationen den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen, zum anderen die
Folgenschwere des betreffenden Ereignisses, die dafür ausschlaggebend ist, ob der
besagte Schnappschußmechanismus ausgelöst wird oder nicht. Im Zusammenhang
mit dem Kennedy-Attentat konnten alle Probanden bis auf einen sich exakt an die
Umstände der Kenntnisnahme des Mordanschlags erinnern. Im Falle der Ermordung
Robert Kennedys dagegen war dies nur bei der Hälfte der Befragten der Fall, was
damit zu erklären ist, daß das Attentat von 1969 keinen so tiefen Schock in der Gesellschaft ausgelöst hat wie das auf seinen Bruder.117 Die Folgenschwere eines Ereignisses kann in ihrer Bedeutung folglich kaum überschätzt werden, zumal die Befürworter der Flashbulb-memory-Theorie davon ausgehen, daß Blitzlicht-Erinnerungen weitaus resistenter gegen Verzerrungen und Verfälschung sind als herkömmliche Erinnerungsformen. Ihrer Argumentation zufolge sind Blitzlicht-Informationen, die mit vielen lebendigen und bildhaften Details repräsentiert und mit
anderen Erinnerungen verknüpft sind, präziser memorierbar, weil sie auf vielen
verschiedenen Wegen rekonstruiert werden können.118 Kritiker hingegen erblicken
gerade in der visuellen Prägnanz eine Gefahr für Verzerrungen, schließlich sind
speziell Bilder anfällig für Veränderungen, da sie besonders häufig abgerufen werden und mit jedem Abruf eine Veränderung erfahren können. Hinzu kommt, daß de
facto nicht das bedeutsame Ereignis als solches erinnert wird, sondern in erster Linie
die mit ihm zusammenhängenden Emotionen. Untermauert werden diese Zweifel
durch verschiedene Untersuchungen, die hervorgebracht haben, daß eine bemerkenswert geringe Korrelation zwischen der Akkuratheit einer Erinnerung und der
115
Neurologisch betrachtet handelt es sich bei diesen Blitzen um eine massive Zunahme der
Kortexaktivität, die möglicherweise von einer plötzlichen Hormonfreisetzung ausgelöst wird. Die
Hormone erhöhen die Menge der zu Verfügung stehenden Glucose, die den Zellen als Brennstoff
dient. Vgl. hierzu KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 117.
116
Brown/Kulik zitiert nach GREENBERG, President Bush’s false »flashbulb memory« of
9/11/01, S. 365.
117
Vgl. hierzu SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 318. Blitzlicht-Erinnerungen sind von der
Gedächtnisforschung auch bei anderen bedeutenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts diagnostiziert
worden, etwa bei der Explosion des Luftschiffes Hindenburg 1937, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Mondlandung 1969, dem Mordanschlag auf Ronald Reagan 1981, dem Rücktritt der
britischen Premierministerin Margaret Thatcher 1990 oder dem Golfkrieg 1991.
118
Vgl. POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 73-75; REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 30.
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Die Veridikalität von Erinnerungen
53
Überzeugung besteht, sich an jede Einzelheit präzise erinnern zu können.119 So haben etwa die Psychologen Ulrich Neisser und Nicole Harsch festgestellt, daß Studenten, die 24 Stunden nach dem Challenger-Unglück interviewt worden waren,
zweieinhalb Jahre später ziemlich abweichende Erinnerungen an das Ereignis und
die Umstände seiner Kenntnisnahme aufwiesen, indessen aber der festen Überzeugung waren, ihre falschen Erinnerungen seien absolut zutreffend.120 Dies hat wesentlich damit zu tun, daß eine ausgeprägte emotionale Bedeutsamkeit die Überzeugung
nährt, unsere Erinnerungen seien in besonderer Weise zutreffend, dabei ist dieser
Glaube einzig und allein darauf zurückzuführen, daß es sich um Ereignisse handelt,
über die wir schon sehr häufig gesprochen haben.121
Diese Diskrepanz ist in besonderem Maße auch bei Zeitzeugen anzutreffen, die
nicht selten felsenfest behaupten, daß das von ihnen Berichtete sich genau so zugetragen habe:
»Ich hab die Erinnerung noch von diesen langen Schlangen, von diesen Leuten,
die da ausgezogen wurden, nackend, und dann in die … in die Schlucht getrieben
wurden. Diese Bilder habe ich heute noch vor Augen.«122
Die subjektiv empfundene Wahrhaftigkeit solcher Erinnerungen rührt daher, daß es
sich hierbei um wieder und wieder erinnerte und erzählte Episoden handelt, die
zudem in einen Kanon kurrenter Geschichten eingebettet werden, die den gleichen
sozial abgestützten Erzählmustern folgen. Dieser Umstand bestärkt die subjektive
Überzeugung, über wirkliche Erlebnisse und Geschehnisse zu sprechen.123 Folglich
haben wir es selbst bei Blitzlicht-Erinnerungen nicht mit Erinnerungen an Erlebtes
zu tun, sondern primär mit Erinnerungen an Erinnerungen.124 Obwohl damit erwiesen ist, daß selbst höchst folgenreiche Blitzlicht-Ereignisse nicht ganz unempfänglich für die Wirkung der Zeit sind und ebenso wie herkömmliche Erinnerungen
gewisse Veränderungen und Verzerrungen erfahren können, werden sie, wie der
Vergleich zwischen den beiden Kennedy-Attentaten belegt, dennoch dauerhafter
und präziser behalten als Erinnerungen an weniger spektakuläre Ereignisse.125
119
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 40.
Vgl. NEISSER/HARSCH, Phantom flashbulbs, S. 9. Als weiterer Beleg für die Ungenauigkeit von Blitzlicht-Erinnerungen ist die Untersuchung von Sven-Åke CHRISTIANSON (Flashbulb
memories, S. 435-443) im Zusammenhang mit der Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme 1986 anzuführen.
121
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 319-326.
122
Int. 01121, S. 18.
123
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 185; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S.
161; dens., Das kommunikative Gedächtnis, S. 39-42; dens., Interview, S. 59.
124
Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 195.
125
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 319-326.
120
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Gedächtnis und Erinnerung
54
2.
Der Einfluß von Emotionen
In eine ähnliche Richtung wie die Bedeutsamkeit eines Ereignisses weist seine emotionale Konnotation. Sowohl Alltagserfahrungen als auch Laborstudien belegen, daß
emotional besetzte Ereignisse besser im Gedächtnis bewahrt werden als solche, bei
denen Emotionen keine Rolle spielen. Schon bei der Entstehung einer Erinnerung,
wenn Aufmerksamkeit und Elaboration darüber entscheiden, ob wir ein Erlebnis
behalten oder vergessen, findet eine emotionale Aufladung der wahrgenommenen
Informationen statt.126 Wie im Zusammenhang mit der Erinnerungsfähigkeit traumatischer Ereignisse bereits angedeutet wurde, beeinträchtigen extrem emotionale
Zustände jedoch unsere Wahrnehmung, das heißt, unsere Erinnerungen sind durch
Gemütszustände wie Freude, Liebe, Freundschaft oder Stolz beziehungsweise
Angst, Streß, Feindschaft oder Haß gefärbt.127 Die unüberschaubare Vielfalt möglicher Emotionen bringt uns manchmal in Situationen, in denen das Gefühl so überwältigend ist und alles so schnell passiert, daß das Gedächtnis wie betäubt ist. Wir
erinnern uns beispielsweise an den Tag, an dem ein geliebter Mitmensch gestorben
ist, aber nicht sonderlich gut an die vorangegangenen oder darauffolgenden Tage.
Wenn wir uns präziser an gute und schlechte Augenblicke unseres Lebens erinnern können als an neutrale, stellt sich die Frage, welche Erinnerungen eher der
Realität entsprechen: diejenigen an besonders glückliche Ereignisse, die wir uns
immer wieder gerne ins Bewußtsein rufen, oder diejenigen an grauenhafte und
schreckliche Begebenheiten, die wir am liebsten für immer vergessen würden. Psychologen haben lange über diese Frage gestritten. Wenngleich dazu bislang nur
wenige seriöse Befunde vorliegen, so haben die Experimente, die von dem Psychologen Kevin Ochsner durchgeführt worden sind, sich bisher als richtungweisend
erwiesen. Ochsner führte verschiedenen Studenten eine Reihe Dias vor, von denen
einige überaus angenehm anzuschauen waren, da sie unter anderem Bilder von attraktiven Frauen und Männern zeigten, andere hingegen waren unangenehm, wie
etwa solche, auf denen verstümmelte Körper zu sehen waren. Neben diesem gefühlsbesetzten Material zeigte Ochsner seinen Probanden auch neutrale Dias unter
anderem mit Bildern von Haushaltsgeräten. Im Ergebnis erinnerten die Studenten
weit mehr emotional konnotierte als neutrale Dias, was den erstgenannten Befund
untermauert. Erstaunlich ist jedoch, daß sowohl die Bilder mit angenehmen als auch
diejenigen mit unangenehmen Inhalten von den Probanden gleichermaßen zutreffend erinnert wurden.128 Dies läßt den Schluß zu, daß, wie bereits weiter oben
festgestellt worden ist, die Genauigkeit des Gedächtnisses in direkter Beziehung zur
emotionalen Erregung steht und zwar – und das ist der entscheidende Punkt – unab-
126
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 258-259.
Vgl. HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 15;
TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 320.
128
Vgl. OCHSNER, affective events, S. 242-261.
127
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Die Veridikalität von Erinnerungen
55
hängig davon, ob sie positiver oder negativer Natur ist. Einen Einfluß hat die Art der
Emotion lediglich dann, wenn sie dem Abrufkontext, dessen Wirkungsweise unter
Punkt fünf behandelt wird, entspricht, das heißt, daß negative Erfahrungen in einer
negativen Stimmung beziehungsweise positive Erfahrungen in einer glücklichen
Stimmung einfacher und genauer erinnert werden können.129
3.
Der Einfluß von Interferenzen
In engem Zusammenhang mit der subjektiven und emotionalen Bedeutsamkeit eines
Ereignisses steht der Einfluß von Interferenzen. Hierbei geht es um den Ähnlichkeitsgrad wahrgenommener Ereignisse und ihre Memorierbarkeit. Je größer die Interferenz der aufgenommenen Informationen, desto schwieriger wird es für das
Gedächtnis, ihre Inhalte voneinander zu unterscheiden.130 Besonders betroffen sind
serielle Ereignisse, die als Teil einer Sequenz von Ähnlichkeiten mit wenig dramatischen Übergängen auftreten und infolgedessen als zusammengeschmolzene Episoden gespeichert werden.131 Häufig handelt es sich dabei um alltägliche und routinisierte Abläufe, innerhalb derer wir bestimmte Situationen immer wieder erleben,
weshalb es äußerst schwer fällt, sich an einzelne Passagen zu erinnern. Psychologen
sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer ›Amnesie des automatischen
Verhaltens‹. Wie Erzählungen von Zivilisten über Bombenangriffe im Zweiten
Weltkrieg belegen, verdichten sich solch routinisierte Abläufe zu einem Gesamtbild.
So können die sich Tag und Nacht wiederholenden Situationen in den Kellern und
Bunkern nur noch bei herausragenden Angriffen präzise wiedergegeben werden,
während die Alltagserinnerung im wesentlichen auf die Angst, die durch den Lärm
der feindlichen Flugzeuge, durch den Fliegeralarm oder durch die einschlagenden
Bomben verursacht wurde, reduziert wird (vgl. Abschnitt 5.2.1):
»Die Angst, das Geräusch – oder wenn ’ne Bombe … Du hörtest ja ’ne Bombe, die
pfiff ja, wenn die … wenn die nur … Man hat gesagt: ,Wenn Du die pfeifen hörst,
die Bombe, dann trifft sie dich nicht!‘, nich’. So sagte man bei uns, nich’. Das ist
wie ’ne Granate. Da baute sich ’ne Angst auf.«132
Ähnliche Ergebnisse haben auch vergleichende Analysen von Lebensgeschichten
verschiedener Veteranen des Ersten und Zweiten Weltkrieges hervorgebracht. Während die Befragten über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg stundenlang erzählen
129
Vgl. PASUPATHI, Emotion regulation during social remembering, S. 151-163; SCHACTER, Aussetzer, S. 262; dens. Wir sind Erinnerung, S. 338; SCHAEFER/PHILIPPOT, Selective
effects of emotion, S. 148-150.
130
Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624.
131
Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 30.
132
Int. 02378, S. 7.
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Gedächtnis und Erinnerung
56
können, umschreiben sie ihre Erfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, die oft Monate oder Jahre andauerten, meist nur in knappen Metaphern.
Solche Erzählblockaden resultieren unter anderem aus der Schwierigkeit, die Erinnerung an das diffuse und chaotische Erleben des Schützenfeuers oder an den Alltag
in den Schützengräben in eine sequentielle Ordnung zu bringen. Angesichts der
Tatsache, daß ein Schützengraben aussah wie der andere, ist es wenig erstaunlich,
daß das Leben an der Front im Gedächtnis auf ein Bild oder eine knappe Evaluation
zusammengeschrumpft ist und es den Veteranen kaum gelingt, einzelne Episoden
daraus zu rekonstruieren.133
Entscheidend für das Überleben einer Erinnerungsspur ist neben dem herausragenden Charakter eines Ereignisses im Kontrast zum sonstigen Alltag seine Strukturiertheit.134 Klar strukturierte Informationen sind besonders leicht und präzise
abrufbar, weil sie als organisierte Einheiten aufgenommen und im Gedächtnis abgelegt werden können. Die Erinnerung ungestalteter Informationen fällt hingegen
ungleich schwerer.135 Versucht man, sich beispielsweise die Zahlenreihe 1, 6, 4, 8, 1,
8, 1, 5, 1, 8, 7, 1, 1, 9, 4, 5 einzuprägen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder
abzurufen, gelingt dies in der Regel nicht, zumindest solange einem die Zahlen als
völlig sinnlos erscheinen. Werden die Zahlen jedoch in Vierergruppen zusammengefaßt, entstehen plötzlich sinnvolle Einheiten – in diesem Falle historisch bedeutsame
Jahreszahlen –, die eine ökonomischere Organisation in Form von Mustern ermöglichen, mit denen das Gedächtnis leichter arbeiten kann.136 Wenn sich Zeitzeugen
alltägliche Abläufe, Handlungen und Ereignisse in Erinnerungen rufen, gestalten
sich diese in der Regel in Form von allgemeinen und metaphorischen Bildern, die
jedoch als äußerst zuverlässig erachtet werden können. Im Falle von Erinnerung an
spezielle Sequenzen im Rahmen eines routinisierten Ablaufs ist das Gedächtnis
aufgrund der Ähnlichkeiten und der Unstrukturiertheit einzelner Passagen hingegen
überfordert.137
4.
Der Einfluß des Abrufkontextes
Wie im Zusammenhang mit dem Vergessensphänomen bereits angedeutet wurde,
kann eine Information, die zu einem früheren Zeitpunkt einmal im Gedächtnis abgelegt worden ist, keineswegs endgültig als vergessen angesehen werden.138 Vielmehr scheitert der Abruf von Gedächtnisinhalten häufig daran, daß die dazu passen133
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 78-79. Zu den
Wandlungsprozessen in den Erzählungen dies., »…wenn alles in Scherben fällt…«, S. 382-400.
134
Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 320.
135
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 76.
136
Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 112-113.
137
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 76-77.
138
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 57-58.
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Die Veridikalität von Erinnerungen
57
den Abrufkontexte und -reize fehlen.139 Angesichts solcher Überlegungen hat die
Gedächtnisforschung Untersuchungen angestellt, die zweifelsfrei belegen, daß wir
uns besonders präzise an Inhalte erinnern können, wenn Abruf- und Einspeicherungssituation weitgehend kongruent sind – ein Umstand, der von verschiedenen
Forschern als ›State-dependent-retrieval-Phänomen‹ bezeichnet wird.140 »Der Geruch, der Geschmack, das Geräusch, das Gefühl und das sichtbare Umfeld, kurz alle
Sinne, in Lust oder Schmerz«, die während des Wahrnehmungsprozesses auf uns
einströmen, werden beim Abruf »wieder wach und bedürfen keiner Gedächtnisarbeit, um wahr zu sein und wahr zu bleiben.«141 Wenn wir etwa Alkohol trinken oder
andere Drogen konsumieren, erinnern wir uns nüchtern schlecht an das, was in den
entsprechenden Zuständen passiert ist. Experimentell ist aber nachgewiesen worden,
daß die Erinnerung präziser wird, je mehr wir uns wieder dem entsprechenden Zustand annähern, das heißt, uns wieder denselben Pegel antrinken.
Dieses Phänomen des zustandsabhängigen Abrufs bezieht sich jedoch nicht nur
auf unsere eigene körperliche wie emotionale Verfassung, sondern in besonderem
Maße auch auf die jeweilige Umgebung, in der eine Informationsaufnahme beziehungsweise ihr späterer Abruf erfolgt. Bei einem Experiment haben sich Taucher
drei Meter unter Wasser begeben, um dort eine Liste mit verschiedenen Wörtern
auswendig zu lernen. Die eingeprägten Worte konnten von den Probanden anschließend besser erinnert werden, wenn sie sich dabei erneut unter Wasser befanden als
wenn sie einfach nur am Strand saßen. Eine zweite Gruppe von Tauchern, die sich
die gleiche Liste eingeprägt hatte, dabei allerdings am Strand saß, erinnerte sich
hingegen an Land besser als unter Wasser.142 Informationen können folglich exakter
abgerufen werden, wenn der ursprüngliche Kontext wiederhergestellt wird.143 Angesichts dieses Befundes mag es kaum verwundern, wenn etwa auf Veteranentreffen
eine größere Reichhaltigkeit an ereignisspezifischen Erinnerungen vorzufinden ist
als im Rahmen anderer Settings, in denen lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden. Gleichwohl ist es für jedes Forschungsprojekt schon aus Logistik- und
aus Kostengründen schwer möglich, den Befragten ein entsprechendes Erinnerungsumfeld zu bieten. Hinzu kommen moralische und ethische Bedenken, schließlich
wäre es einem Holocaust-Überlebenden kaum zuzumuten, für eine Befragung an
den Ort des Geschehens, etwa nach Auschwitz-Birkenau, zurückzukehren. Unter
Zuhilfenahme von Abrufreizen, die mit einem Teil eines vergangenen Erlebnisses
korrespondieren, ist es jedoch im Rahmen von Zeitzeugeninterviews immerhin
möglich, bei den Befragten gewisse Assoziationen zu wecken, die eine Erinnerung
139
Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624-625.
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 40.
141
Kosseleck zitiert nach WELZER, Interview, S. 56.
142
Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 57.
143
Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 79; BRÜGGEMEIER, Traue keinem
über sechzig, S. 61.
140
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Gedächtnis und Erinnerung
58
weiterer Teile der gesuchten Information bewirken.144 Solche Stimuli können Photos, Schriftstücke oder auch nur das Gespräch als solches sein, die einzelne Elemente einer abgelagerten Einheit wieder hervorholen und zur Erinnerung weiterer
Elemente anregen – eine Erkenntnis, die sich die Redakteure des ZDF insofern zunutze machen, als daß sie im Vorfeld einer Zeitzeugenbefragung ihre Interviewpartner zum Durchblättern ihrer Photoalben und Dokumente animieren. Obwohl ein
günstiger Abrufkontext sowie entsprechende Abrufreize die Erinnerung von Informationen und Ereignissen erleichtern, ist jedoch auch hier keineswegs von einer
originalgetreuen Abbildung auszugehen. Zwar könnte man Zeitzeugen wahrscheinlich dazu bringen, längst vergessen geglaubte Erlebnisse zu erinnern, wenn man
ihnen spezifische Abrufreize darböte. Daß den Befragten jedes kleinste Detail wieder einfällt, das sie ursprünglich wahrgenommen haben, ist allerdings nahezu ausgeschlossen.145
5.
Der Einfluß der temporalen Distanz zwischen Erlebnis und Erinnerung
Die seit der Aufnahme einer Information vergangene Zeit gilt als entscheidender
Faktor für den Umfang des Vergessens beziehungsweise der Verzerrung. Falls ein
Gedächtnisinhalt nicht durch wiederholte Reproduktionen gefestigt wird, zerfällt die
Stärke seiner Spur mit zunehmender temporaler Distanz.146 Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der darin besteht, daß neue Informationen in unserem Gedächtnis kodiert und abgelegt werden, die unsere Fähigkeit, sich an frühere Ereignisse zu erinnern, beeinträchtigen. Wie der sogenannten Vergessenskurve zu entnehmen ist,
bewahrt das Gedächtnis zu relativ frühen Zeitpunkten nach der Informationsaufnahme – Minuten oder Stunden später – ein recht vollständiges Ereignisprotokoll,
das es uns ermöglicht, die entsprechenden Inhalte mit annehmbarer, wenn nicht
sogar vollkommener Genauigkeit zu reproduzieren. Je mehr Zeit allerdings vergeht,
desto stärker verblassen Einzelheiten und desto zahlreicher werden die Interferenzmöglichkeiten. Später gemachte Erfahrungen führen dazu, daß Gedächtnisinhalte
überschrieben werden und weiter verblassen. Als Erinnerung wird somit nur das
Wesentliche bewahrt, während Einzelheiten nur noch durch Schlußfolgerungen oder
bloße Vermutungen rekonstruiert werden können.147
144
Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 72-75; WELZER, Interview,
S. 58.
145
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 105-106, 128-129, 173-187.
Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 242; VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624.
147
Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 31.
146
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Die Veridikalität von Erinnerungen
6.
59
Der Einfluß des Alters
Ähnlich bedeutend wie die temporale Distanz zwischen der Aufnahme von Informationen und ihrem Abruf ist der Einfluß des Alters auf die Leistungsfähigkeit
unseres Gedächtnisses. Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand gilt
es dabei vor allem die folgenden beiden Aspekte zu betrachten: Zum einen geht es
um die Frage, ab welchem Alter wir überhaupt in der Lage sind, autobiographische
Informationen in einer Weise aufzunehmen, daß sie auch noch Jahre später zu Verfügung stehen. Zum anderen ist der Blick auf das Maß der Beeinträchtigung unserer
kognitiven Fähigkeiten, insbesondere der Erinnerungsfähigkeit infolge von Alterserscheinungen zu richten, schließlich liegt das Durchschnittsalter der befragten Zeitzeugen zum Interviewzeitpunkt bei 78 Jahren.
In den ersten Jahren nach unserer Geburt sind unsere Erinnerungen im allgemeinen äußerst anfällig für die Verwechslungen der Umstände von Geschehnissen und
ihrer Quelle. Dies hängt wesentlich damit zusammen, daß die kindliche Entwicklung
zunächst mit einem ausgeprägten Nachahmungslernen beginnt, das speziell in der
Aneignung prozedural-motorischer Fähigkeiten besteht. Dieser Phase schließt sich
unmittelbar der Erwerb exponentiell anwachsenden Wissens an, das speziell mit
einem ausgeprägten Vokalerwerb einhergeht. Auf dieser breiten Wissensbasis beginnt sich dann im späten Vorschulalter das autobiographische Gedächtnis auszubilden. Erst jetzt weisen unsere Erinnerungen einen Zeit-, einen Raum- und einen
Selbstbezug auf.148 Eine wesentliche Voraussetzung hierfür besteht im Erwerb einer
repräsentationalen Sprache, die es einem Kind erlaubt, sich auch jenseits seiner
unmittelbaren Gegenwart zu imaginieren, als jemand, dem etwa letzte Woche im
Kindergarten ein Mißgeschick passiert ist.149 Diese Stufe, in der Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft auseinanderfallen und wir in die Lage versetzt werden, auf
mentale Zeitreisen zu gehen, wird in der Regel zwischen dem vierten und fünften
Lebensjahr erreicht.150 All jene autobiographischen Informationen, die vor Abschluß
dieses Entwicklungsstadiums auf uns einströmen, fallen der sogenannten ›infantilen
Amnesie‹ anheim, das heißt, sie können nicht verarbeitet und abgelegt werden, da
148
Zur Ausbildung der verschiedenen inhaltlichen Gedächtnissysteme in den ersten Lebensmonaten vgl. speziell MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 136-165.
149
Nähere Informationen zu den hirninternen Prozessen, die bei der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses bei Säuglingen und Kleinkindern ablaufen, bietet Silke MATURA, Die
Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses auf Hirnebene, S. 202-212.
150
Vgl. MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 14, 21; WELZER,
Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, S. 164. Andere Autoren gehen davon aus,
daß sich das autobiographische Gedächtnis zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr ausbildet. Vgl. hierzu etwa MATURA, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses auf Hirnebene, S. 202.
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60
Gedächtnis und Erinnerung
das hierfür zuständige autobiographische Gedächtnis noch nicht hinreichend ausgebildet ist.151
Gestützt wird dieser Befund durch zahlreiche Experimente, bei denen Kindern in
Gesprächen Erlebnisse suggeriert wurden, an die sie sich später detailliert erinnern
zu können glaubten, obwohl sie faktisch niemals stattgefunden hatten.152 Einer der
spektakulärsten Fälle ist in diesem Zusammenhang der des Schweizer Psychologen
Jean Piaget, der mit der lebhaften Erinnerung aufgewachsen war, daß er im Alter
von zwei Jahren beinahe entführt worden wäre. In seiner Erinnerung sah er einen
Mann, der ihn bedrohte, sein Kindermädchen, das ihn tapfer verteidigte, und ihr
Gesicht, das in dem sich daraus ergebenden Handgemenge zerkratzt wurde. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend blieb diese Erinnerung lebendig. Erst als
er 15 Jahre alt war, schrieb das Kindermädchen seinen Eltern, daß sie sich die ganze
Geschichte nur ausgedacht hatte. Die Klarheit, mit der Piaget das Ereignis in seiner
Erinnerung gesehen hatte, und die persönliche Überzeugung, daß diese Erinnerung
der Wahrheit entsprach, waren kein Beweis, daß das Ereignis tatsächlich stattgefunden hatte. Was Piaget erinnerte, war nur eine Fiktion, die ihm über Jahre hinweg als
real geschildert und folglich in seine autobiographische Erinnerung integriert wurde.
Daß Kinder im Alter von zwei Jahren noch über kein autobiographisches Erinnerungsvermögen verfügen, war Piaget damals noch nicht bekannt.153
Für die vorliegende Untersuchung ist das Phänomen der infantilen Amnesie insofern von Bedeutung, als es hier um die Erinnerungen solcher Personen geht, die die
Zeit des Nationalsozialismus als Augenzeugen bewußt miterlebt haben. Da Kinder
vor dem Erreichen des vierten oder fünften Lebensjahrs über kein hinreichend ausgebildetes autobiographisches Erinnerungsvermögen verfügen, können letztlich nur
solche Personen als Zeitzeugen angesehen werden, die vor 1941 geboren worden
sind und zumindest in Bezug auf die letzten Kriegswochen ein autobiographisches
Bewußtsein besitzen.154 Personen, die erst 1941 oder später geboren wurden, haben
aus diesem Grund keine Berücksichtigung gefunden.
Neben dem Phänomen der infantilen Amnesie existiert mit dem Alterungsprozeß
ein weiterer mit dem Lebensalter zusammenhängender Bedingungsfaktor, der das
Erinnerungsvermögen von Zeitzeugen nachhaltig beeinträchtigt.155 Zunächst ist ganz
151
Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 39; NELSON, Erzählung und
Selbst, S. 245-246; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 108-117; RUBIN, The distribution of early childhood memories, S. 265-269.
152
Vgl. HARPAZ-ROTEM/HIRST, The earliest memory, S. 51-62; HELL, Gedächtnistäuschungen, S. 274; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 26-27;
WANG, Infantile amnesia reconsidered, S. 65-80.
153
Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 51; SIEGEL, Entwicklungspsychologische,
interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 37-40.
154
Vgl. SCHRÖDER, Zeitzeugen, S. 196-197.
155
Die vorliegend Befunde beziehen sich ausschließlich auf den Einfluß des Alters auf das
episodisch-autobiographische Erinnerungsvermögen, das für die vorliegende Untersuchung von
vorrangigem Interesse ist. Ausführlich Auskunft über die Auswirkungen des Älterwerdens auf die
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Die Veridikalität von Erinnerungen
61
allgemein davon auszugehen, daß die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses mit
zunehmendem Alter allmählich nachläßt. Wie die sich über Jahrzehnte mit dieser
Frage beschäftigende neurowissenschaftliche Forschung nachgewiesen hat,
schrumpft die Hirnmasse ab dem 60. Lebensjahr um fünf bis zehn Prozent pro Jahrzehnt. Die Durchblutung wie auch die Sauerstoffaufnahme des Gehirns nehmen
kontinuierlich ab, was dazu führt, daß es immer schwerer fällt, sich insbesondere an
jüngste Geschehnisse zu erinnern, da diese nicht mehr in das Langzeitgedächtnis
überführt werden.156 Dieser Befund ist jedoch dahingehend einzuschränken, daß die
Zuverlässigkeit des Gedächtnisses sich auch im Alter erheblich von Individuum zu
Individuum unterscheidet.157 So ist es wenig erstaunlich, wenn ältere Menschen bei
Gedächtnisexperimenten genauso gut oder gar besser abschneiden als jüngere Erwachsene.158 Verschiedene Gedächtnisforscher gehen davon aus, daß nicht allein das
Alter, sondern auch das Bildungsniveau einen bedeutenden Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses ausübt.159 Gleichwohl haben neuere Forschungsarbeiten gezeigt, daß sich mit zunehmendem Alter die Häufigkeit von BlitzlichtErinnerungen deutlich verringert. Dies hängt wesentlich damit zusammen, daß ältere
Menschen große Mühe haben, sich an die Quelle ihrer Informationen zu erinnern.
Da Blitzlicht-Erinnerungen definitionsgemäß vorwiegend Einzelheiten ihrer Quelle,
also die Umstände der Kenntnisnahme umfassen, ist dieser Befund wenig erstaunlich.160
Ein wesentlicher Unterschied in der Erinnerungsfähigkeit älterer und jüngerer
Menschen besteht darin, daß im Alter jene Ereignisse, die nur kurze Zeit zurückliegen, weniger intensiv erinnert werden als dies bei jungen Menschen der Fall ist. Bei
autobiographischen Erinnerungen an länger zurückliegende Ereignisse, wie solche
an das ›Dritte Reich‹ und den Zweiten Weltkrieg, ist dies hingegen umgekehrt. Insbesondere bei den ausgewählten Zeitzeugen ist dieses Phänomen zu beobachten,
zumal es sich hierbei nicht selten um in ihrer subjektiven Bedeutung herausragende
Ereignisse handelt:
»Ich kann Ihnen nicht sagen, was vor zwei Jahren – wir schreiben das Jahr 2002 –
[…] geschehen ist oder vor drei Jahren, aber ich kann Ihnen sagen, was im März
anderen Gedächtnissysteme geben MARKOWITSCH und WELZER, Das autobiographische
Gedächtnis, S. 241-258.
156
Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 84.
157
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 457-464.
158
In einer Untersuchung mit über 70-Jährigen konnten immerhin 20 Prozent genauso viele
Wörter in einer vorgelegten Liste korrekt wiedergeben wie Collegestudenten. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 38-39.
159
Bei Versuchspersonen zwischen 65 und 85 Jahren mit geringer formaler Bildung, die aufgefordert wurden, sich eine Wortliste einzuprägen, trat der Informationsverlust wesentlich früher ein
als bei Personen mit einem höheren Bildungsgrad. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 38-39.
160
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 474-475.
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62
Gedächtnis und Erinnerung
1935, im September 1938 oder im Dezember 1942 geschehen ist. Das hat sich eingebrannt in mir.«161
Bestätigung finden solche Aussagen in zahlreichen Experimenten mit älteren Menschen, die im Vergleich zu Personen, die sich im mittleren Abschnitt ihres Lebens
befinden, unverhältnismäßig häufig von Erlebnissen aus den Jahren ihrer Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters berichten.162 Der Umstand, daß die Erinnerung an die zweite und dritte, in machen Fällen sogar an die erste Dekade unseres
Lebens nicht nur auffallend häufig, sondern gleichzeitig auch zuverlässiger als die
an andere Lebensabschnitte ausfällt, stellt eine Ausnahme von der Regel dar, daß
Erinnerungen im Laufe der Zeit immer schwerer zugänglich werden. Die Gedächtnisforschung spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch von einem »Erinnerungshöcker«163 (reminiscence bump) oder vom Ribot’schem Gesetz, benannt nach
einem französischen Nervenarzt des 19. Jahrhunderts, der dieses Phänomen erstmals
beschrieb.164 Mit zunehmendem Alter erlangen die Erlebnisse der späten Jugend und
des frühen Erwachsenenalters, die den Kern unserer gerade sich formierenden erwachsenen Lebensgeschichte bilden, offenbar eine besondere Bedeutung. In den
späten Lebensjahrzehnten verspüren viele Menschen den Drang, sich häufiger und
intensiver mit ihrer Autobiographie auseinanderzusetzen, als sie es früher getan
haben.165 Solche sinnstiftenden Bilanzierungs- und Reminiszenzprozesse schärfen
speziell bei älteren Zeitzeugen das Bewußtsein, daß sie die letzten Überlebenden
einer bestimmten historischen Epoche sind, im vorliegenden Fall sogar einer Schlüsselperiode der deutschen Geschichte.166
1.5
Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses
Den bisherigen Ausführungen lagen schwerpunktmäßig Ergebnisse der neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Gedächtnisforschung zugrunde,
deren epistemologische Perspektive sowohl wissenschaftshistorisch als auch methodologisch und instrumentell eine rein individualistische ist. Da das Gehirn und mit
ihm das Gedächtnis aber ein Organ darstellt, dessen Struktur sich erst in der Auseinandersetzung mit seiner physischen und sozialen Umwelt organisiert und entwickelt,
haben wir es bei der Gehirn- und Gedächtnisentwicklung keineswegs mit einem
autonom ablaufenden biologischen Vorgang zu tun, sondern mit einem soziokul-
161
Int. 02087, S. 6.
Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 209-212.
163
KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 531.
164
Vgl. BERNTSEN/RUBIN, Emotionally Charged Autobiographical Memories; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85.
165
Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 468, 479, 482-485.
166
Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 31.
162
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Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses
63
turellen Interaktionsprozeß unterschiedlicher Individuen. Vor dem Hintergrund ihrer
Erfahrungsabhängigkeit können weder das Gehirn noch das Gedächtnis oder gar das
Bewußtsein als etwas konstitutiv Individuelles aufgefaßt werden.167
Aus diesem Verständnis heraus ist auf der Grundlage der mittlerweile klassischen
phänomenologischen Untersuchungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher
und sozialpsychologischer Arbeiten entstanden, die sich mit verschiedenen Formen
kollektiver Erinnerung befassen.168 Halbwachs’ Vorstellung zufolge stellt das kollektive Gedächtnis den Gesamtbestand aller Erinnerungen dar, die »die Gesellschaft
in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.«169
Das kollektive Gedächtnis nimmt Erfahrungen, die der Einzelne in seinem Leben
gemacht hat, auf und bewahrt sie über den Tod hinaus.170 Zu seinen wichtigsten
Eigenschaften gehören erstens die Einbindung jeder individuellen Erinnerung,
zweitens seine Gruppenbezogenheit, drittens seine rekonstruktive Funktionsweise
sowie viertens die Diskrepanz zwischen Gedächtnis und Geschichte.171
Grundlage des ›mémoire collective‹ ist die These von der Einbindung jeder individuellen Erinnerung in ein kollektives Gedächtnis, derzufolge kein Gedächtnis
existiert, das nicht sozial ist. Selbst die noch so privateste Erinnerung des Einzelnen
bildet sich erst in der Interaktion mit anderen heraus. Halbwachs geht vollkommen
ab von der körperlichen, das heißt neuronalen und hirnphysiologischen Basis des
Gedächtnisses und stellt statt dessen die sozialen Bezugsrahmen, sogenannte »cadres
sociaux«172 heraus, ohne die sich kein individuelles Gedächtnis konstituieren und
erhalten kann:
»Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren
sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen
zu fixieren und wiederzufinden.«173
Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Individuum wäre niemals dazu in der
Lage, ein Gedächtnis auszubilden, da dieses dem Menschen erst im Prozeß seiner
Sozialisation zuwächst. Augenfälligstes Beispiel hierfür ist der Erwerb der Sprache,
167
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 20; ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 14-18; dies., Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 7-9, 16-17; KETTNER, Nachträglichkeit, S. 62; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S.
22; WELZER, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, S. 165-166.
168
Vgl. etwa die zahlreichen Studien von Harald Welzer, die im Rahmen dieser Untersuchung
herangezogen werden.
169
HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390.
170
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 84.
171
Vgl. ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 117-118.
172
So der Titel jener Studie, in der Halbwachs seine langjährigen Forschungen zusammenführt:
Les Cadres sociaux de la mémoire.
173
HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 121.
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64
Gedächtnis und Erinnerung
die wir nicht von innen heraus entwickeln, sondern im Austausch mit anderen Menschen.174 Erinnerungen sind demzufolge immer kollektiv, denn ohne einen sozialen
Hintergrund wären sie erst gar nicht existent.175 Diese Verschränktheit von
individuellem und kollektivem Gedächtnis führt dazu, daß sich persönliche Erinnerungen kaum mehr von den Erzählungen und Erfahrungen anderer trennen lassen.
Halbwachs geht in seiner Auffassung gar so weit, das Kollektiv als Subjekt von
Gedächtnis und Erinnerung einzusetzen und Begriffe wie ›Gruppengedächtnis‹ und
›Gedächtnis der Nation‹ zu prägen. Diesen Schritt scheint er jedoch zu gehen, ohne
wirklich seine Voraussetzungen zu prüfen, denn wenn ein Kollektiv das Subjekt von
Gedächtnis und Erinnerung darstellte, würde das bedeuten, daß es dieselben Funktionen des Bewahrens, der Organisation und des Abrufens erfüllen könnte, die dem
individuellen Gedächtnis zueigen sind.176 Zwar beruht das kollektive Gedächtnis auf
einer »Gesamtheit von Menschen«177, Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt
letztlich aber immer der einzelne Mensch, denn nur er ist mit den nötigen Sinnesorganen ausgestattet, die ihn dazu befähigen, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu behalten und zu reproduzieren.178 Kollektive wie Institutionen, Körperschaften oder Nationen dagegen verfügen über kein Gedächtnis im neurowissenschaftlichen Sinne, da ihnen die nötigen neuronalen und hirnphysiologischen
Grundlagen fehlen. Gleichwohl befindet sich jedes Individuum in einer Abhängigkeit zu jenen Rahmen, die seine Erinnerung organisieren.179 Jedes individuelle Gedächtnis stellt nach Halbwachs einen »Ausblickspunkt«180 auf das kollektive
Gedächtnis dar. »Dieser Ausblickspunkt wechselt je nach Stelle, die wir darin einnehmen.«181 Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses darf somit keineswegs als
reine Metapher oder als künstliches Konstrukt abgetan werden, denn es zielt auf
Phänomene, die empirisch faßbar sind und sich deutlich von den Bedingungen des
individuellen Erinnerns abheben. Auch wenn Institutionen und Körperschaften wie
Staaten, Nationen, Firmen oder die Kirche über kein neuronales Verarbeitungsnetz
verfügen, bilden sie dennoch äquivalente Strukturen aus, wofür sie sich memorialer
Zeichen, Texte, Symbole, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Denkmäler bedienen,
durch die sie sich ihre eigene Identität schaffen. Mittels dieser Identität prägt das
174
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 20-37.
Vgl. PLATT, Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung, S. 247.
176
Vgl. RICOEUR, Das Rätsel der Vergangenheit, S. 78-79; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 157; WELZER/MONTAU/PLAß, »Was wir für böse Menschen sind«, S. 32-33.
177
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31.
178
Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 134.
179
Vgl. ASSMANN, Erinnern, um dazuzugehören, S. 59; ASSMANN, Erinnerungsräume, S.
132; JEGGLE, Auf der Suche nach der Erinnerung, S. 96-101; WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 21-23.
180
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31.
181
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31.
175
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Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses
65
Kollektiv die Gedächtnisse seiner Mitglieder, deren Erinnerungen folglich immer
individuell und kollektiv zugleich sind.182
Eng verbunden mit der Einbindung der Erinnerungen seiner Mitglieder ist die Eigenschaft der Gruppenbezogenheit des kollektiven Gedächtnisses. Jedes kollektive
Gedächtnis umfaßt zahlreiche soziale Gruppen unterschiedlicher Größenordnung in
lokalisierbaren Räumen, etwa in einem Stadtteil, einem Land oder in einem Raum
gleicher Religion sowie in ihrer jeweiligen kollektiv gelebten Zeit.183 Grundlage
solcher Erinnerungsgemeinschaften sind immer ihre Träger, also die ihr zugehörigen
Menschen, die durch ihre Teilhabe ihre Gruppenzugehörigkeit bezeugen. Innerhalb
des Kollektivs blickt jedes Mitglied von einer anderen sozialen und temporalen
Position auf das, was es für die Vergangenheit seiner Erinnerungsgemeinschaft hält,
weshalb es zwingend eine individuelle Version eben dieser Vergangenheit entwikkelt. Da das Gedächtnis einer Gesellschaft aber an seine Träger gebunden ist, erstreckt sich ihre Vergangenheit nur so weit, wie das Gedächtnis derjenigen Gruppen
reicht, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt.184 Frühere Ereignisse und
Gestalten fallen dem Vergessen anheim, wenn diejenigen Gruppen allmählich aussterben, die diese Vergangenheit bewahren. Das kollektive Gedächtnis ist folglich
nicht nur an Raum und Zeit gebunden, sondern auch »identitätskonkret«185, das
heißt, daß es sich ausschließlich auf den Standpunkt einer lebendigen und real existierenden Gesellschaft bezieht und nicht über die Grenzen dieser Gemeinschaft
hinaus erweitert werden kann.186 So wird ein bestimmtes Ereignis wie das Kriegsende 1945 von verschiedenen Kollektiven in unterschiedlicher Weise interpretiert,
weshalb ein Deutscher seine eigene Lebensgeschichte aus dieser Periode anders
wahrnimmt als ein Amerikaner, ein Russe oder ein Franzose. Umgekehrt können die
Mitglieder eines Kollektivs gleichzeitig verschiedenen Gemeinschaften angehören
und zwar sowohl solchen mit einer gleichen, als auch solchen mit einer sich widerstreitenden Denkweise und Ideologie, weshalb ihre Erinnerungen sehr verschiedene
Kombinationen aufweisen können.187
Mit der Gruppenbezogenheit hängt ein weiteres Merkmal des kollektiven Gedächtnisses zusammen: seine Rekonstruktivität. Damit ist gemeint, daß von der
Vergangenheit nur dasjenige bewahrt wird, »was die Gesellschaft in jeder Epoche
mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann«188. Da das Gedächtnis
wie bereits erwähnt keinen Speicher, sondern ein konstruktiv arbeitendes Netzwerk
darstellt, kann die Vergangenheit als solche nicht unverändert bewahrt werden,
182
Vgl. WELZER, Das gemeinsame Verfertigen, S. 167.
Vgl. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 103; KETTNER, Nachträglichkeit, S. 62;
WISCHERMANN, Geschichte als Wissen, S. 62.
184
Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 196-197.
185
ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 39.
186
Vgl. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 68-71.
187
Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 319.
188
HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390.
183
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66
Gedächtnis und Erinnerung
sondern muß von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her immer wieder reorganisiert werden.189 Gleiches gilt auch für neu aufzunehmende Informationen, die später ebenfalls immer nur in Form von Rekonstruktionen
abgerufen werden können.190 Das kollektive Gedächtnis operiert folglich in beide
Richtungen: zurück und nach vorne. Es rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es
organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.191
Wie den bisher geschilderten Eigenschaften des Raum- und Zeitbezugs sowie der
Identitätskonkretheit zu entnehmen war, ist das kollektive Gedächtnis auf Kontinuität und Wiedererkennbarkeit angelegt. Diesem Gedächtnis, das »bewohnt«192, das
heißt von verschiedenen lebenden Gruppen in Anspruch genommen und von ihnen
getragen wird, steht die Geschichte gegenüber, die keinerlei Bezug zu einer Gruppenidentität aufweist.193 Während das kollektive Gedächtnis die Gruppe von innen
betrachtet und bestrebt ist, tiefgreifende Veränderungen auszublenden, um seinen
Mitgliedern ein kohärentes Vergangenheitsbild zu vermitteln, läßt die Geschichte
nur dasjenige als historisches Faktum gelten, was als Prozeß oder Ereignis eine
Veränderung anzeigt. Das vorrangige Ziel des Gruppengedächtnisses besteht darin,
die Einzigartigkeit der eigenen Vergangenheit in Abgrenzung zu anderen Kollektiven zu betonen, wohingegen die Geschichte
»ihre Fakten in einem vollkommen homogenen historischen Raum, in dem nichts
einzigartig, sondern alles mit allem vergleichbar, jede Einzelgeschichte an die andere anschließbar und vor allem alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam
ist«194,
reorganisiert. Denn es gibt zwar viele Kollektivgedächtnisse, aber nur eine Historie,
die ohne jeglichen Bezug zu einem bestimmten Kollektiv oder einer bestimmten
Identität die Vergangenheit in einem »identitätsabstrakten Tableau«195 rekonstruiert,
in dem alles, wie Ranke sagt, »gleich unmittelbar zu Gott«196 ist. Die
Geschichtsschreibung agiert idealerweise völlig unabhängig von jedem Gruppenurteil, weshalb die Geschichte für Halbwachs auch kein Gedächtnis darstellt, weil es
kein universelles, sondern immer nur ein kollektives, das heißt gruppenspezifisches
und identitätskonkretes Gedächtnis gibt.197 Das kollektive Gedächtnis ist aber nicht
189
Vgl. ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118.
Vgl. HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 385.
191
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 40-42.
192
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 103.
193
Vgl. ASSMANN, Erinnerungsräume, S. 131; dies., Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, S. 174; ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118.
194
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 74.
195
HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 74.
196
Ranke zitiert nach ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 43.
197
Vgl. ASSMANN, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, S. 174; ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118.
190
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Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses
67
nur gegen die Geschichte abgegrenzt, sondern auch gegen jene organisierten und
objektiven Formen der Erinnerung, die Halbwachs unter dem Begriff ›Tradition‹
zusammenfaßt. Tradition stellt für ihn keine Form, sondern eine Verformung der
Erinnerung dar. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Übergänge zwischen ›mémoire‹
und ›tradition‹ derart fließend sein können, daß eine allzu scharfe begriffliche Unterscheidung wenig sinnvoll erscheint. Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat
der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann die Unterteilung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis vorgenommen, die innerhalb der Gedächtnisforschung auf große Zustimmung gestoßen
und von anderen Forschern wie dem Sozialpsychologen Harald Welzer weiter ausdifferenziert worden ist.198
Unter dem Begriff des kommunikativen Gedächtnisses werden jene Spielarten des
kollektiven Gedächtnisses subsummiert, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen. Aus dieser Art von Kommunikation baut sich im einzelnen ein Gedächtnis auf, das – wie Halbwachs gezeigt hat – sowohl sozial vermittelt als auch
gruppenbezogen sowie durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Variabilität und Unorganisiertheit gekennzeichnet ist.199 Es umfaßt jene Erinnerungen, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen, das heißt, es ist an
die Existenz seiner lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrungen gebunden, weshalb seine Inhalte nur begrenzt haltbar sind. Das kommunikative Gedächtnis entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer gesagt mit seinen Trägern.
Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung
gebildete Erinnerungsraum umfaßt drei bis vier Generationen, also etwa 80 bis 100
Jahre. Die Römer prägten dafür den Begriff des ›saeculum‹ und verstanden darunter
jene Grenze, bis zu der auch der letzte überlebende Angehörige einer Generation
und Träger ihrer spezifischen Erinnerung verstorben ist.200 Dieser Zeithorizont entspricht einer immer im gleichen Abstand zur Gegenwart mitwandernden Trennlinie
(floating gap), die aufgrund der fortwährenden Veränderung ihrer temporalen Position eine dauerhafte Fixierung der kommunikativen Inhalte unmöglich macht.201
Jenseits dieser Linie befindet sich die »graue Vorzeit«202 (dark ages) – eine Zeit, die
nur noch durch die kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt zugänglich ist, da
ihre lebendigen Träger bereits verstorben sind.203 Das kommunikative Gedächtnis ist
demzufolge mit einem Generationengedächtnis oder einem sozialen Kurzzeitgedächtnis gleichzusetzen, das sich auf die selbsterlebte Vergangenheit einer spezi-
198
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 45.
Vgl. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 10-11; BERING, Kulturelles Gedächtnis, S. 330; KORFF, Bemerkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur, S. 168-169.
200
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48-64.
201
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 14; dens., Das soziale Gedächtnis, S. 13.
202
VANSINA, Oral Tradition as History, S. 23.
203
Vgl. NIETHAMMER, Diesseits des »Floating Gap«, S. 25-27.
199
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68
Gedächtnis und Erinnerung
fischen Alterskohorte bezieht.204 Derzeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, verläuft
das floating gap entlang der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das heißt etwa
zwischen den Jahren 1890 und 1910. Für die dieser Studie zugrundeliegenden Zeitzeugen, für die das ›Dritte Reich‹ und der Zweite Weltkrieg noch Gegenstand persönlicher Erfahrung gewesen sind, bedeutet dies, daß ihre lebendigen Erinnerungen
schon bald nur noch über die Medien zugänglich sein werden.
Dem auf Alttagskommunikation beruhenden kommunikativen ist das kulturelle
Gedächtnis als Organ der außeralltäglichen Erinnerung gegenübergestellt, das alles
Wissen beinhaltet, »das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«205 Dies bedeutet, daß sich das kulturelle Gedächtnis
auf diejenigen Fixpunkte in der Vergangenheit bezieht, die aus jenem durch das
floating gap abgetrennten Raum der grauen Vorzeit über den Tod ihrer Träger hinaus bewahrt bleiben.206 Der mittlerweile klassisch gewordenen Definition Jan Assmanns zufolge handelt es sich dabei um
»den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchstexten, -bildern und -riten […], in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.«207
Im Gegensatz zu den Inhalten des kommunikativen Gedächtnisses basiert das kulturelle Gedächtnis nicht auf alltäglicher Kommunikation, sondern auf schicksalhaften Ereignissen der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung
wachgehalten wird.208 Freilich vermag sich diese Vergangenheit auch in ihm nicht
als solche zu erhalten, sondern gerinnt vielmehr zu Symbolen, an die sich die Erinnerung heftet.209 Diese Medien des kulturellen Gedächtnisses umfassen Artefakte
wie Texte, Bilder und Skulpturen neben räumlichen Kompositionen wie Denkmäler,
Architektur und Landschaften sowie zeitliche Ordnungen wie Feste, Brauchtum und
Rituale.210 Da das kulturelle Gedächtnis auf keine lebendigen Kommunikatoren als
Träger angewiesen ist, ist es in seiner Reichweite nahezu unbegrenzt, das heißt,
seine Fixpunkte sind absolut und unabhängig von der fortschreitenden Gegenwart.
204
Vgl. ASSMANN, Teil I, S. 36-41, Keppler, Soziale Formen, S. 142.
ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9.
206
Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52; FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S.
85.
207
ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12-15.
208
Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 563-564; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 14; dens., Das soziale Gedächtnis, S. 13.
209
Vgl. WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 156.
210
Vgl. ASSMANN, Teil I, S. 49-50; dies., Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, S. 45-48, 59.
205
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Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses
69
Zu seinen zentralen Eigenschaften gehören: erstens seine Identitätskonkretheit beziehungsweise Gruppenbezogenheit, das heißt, daß das kulturelle Gedächtnis immer
auf das Identitätskonzept bestimmter Kollektive – Völker, Staaten, Kommunen,
Familien, Parteien, etc. – bezogen ist; zweitens seine Rekonstruktivität, das heißt,
daß vom kulturellen Gedächtnis nur diejenigen Teile der Vergangenheit bewahrt
werden, die dem Identitätsbedürfnis des Kollektivs entsprechen und sich auf die
aktuelle gegenwärtige Situation beziehen lassen; drittens seine Geformtheit, das
heißt, daß sich das kulturelle Gedächtnis auf Medien wie Schriften, Bilder oder
Riten bezieht, in deren Form seine Inhalte repräsentiert und dadurch tradierbar werden; viertens seine Organisiertheit, womit eine institutionelle Absicherung von
Kommunikation gemeint ist, das heißt, die Erinnerungen werden nicht dem Belieben
des Einzelnen überlassen, sondern in einen Rahmen von Meinungen eingebettet, die
von Institutionen gebildet und geprägt werden.211 Im Ergebnis bleibt festzuhalten,
daß das kulturelle Gedächtnis den konzeptionell ausgefeiltesten Ansatz zur Erklärung der Rolle der Vergangenheit im Leben von Völkern und Nationen darstellt. Sein
Konzept hat sich bislang vor allem für solche Gedächtniswelten als geeignet erwiesen, die für eine bestimmte historische Zeitspanne und für eine bestimmte kulturelle
Gemeinschaft, etwa für ein bestimmtes Volk, Verbindlichkeit besaßen.212
Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, insbesondere auf die Frage, ob sich
aus den vorliegenden Zeitzeugeninterviews so etwas wie eine kollektive Erinnerung
herausdestillieren läßt, ist festzustellen, daß die Begriffe des kommunikativen und
kollektiven Gedächtnisses konzeptionell zu weit führen und daher in der folgenden
Analyse keine Anwendung finden. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht
um die Frage nach dem Zustandekommen einer Erinnerung, also ihren Einflußfaktoren, und auch nicht um die Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses insgesamt beziehungsweise eines seiner Spielarten. Es geht vielmehr darum, anhand der
in den Interviews dargelegten Erinnerungen zu untersuchen, ob sich die Vergangenheitskonstruktion der Zeitzeugen derart individuell gestaltet, daß von einer Atomisierung der Erinnerung ausgegangen werden muß, oder ob die von ihnen dargelegte
Erinnerungsstruktur ein derart homogenes Muster besitzt, so daß von einer kollektiven Erinnerung an den Nationalsozialismus gesprochen werden kann. Als Gradmesser für diesen Untersuchungsschwerpunkt dient zum einen die Struktur der Erzählung, die es auf inhaltliche Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen hin zu untersuchen gilt, zum anderen die in Kapitel eins bereits erwähnten Topoi, in denen sich
die Existenz einer kollektiven Erinnerung in besonderer konkreter Weise manifestiert.
211
ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 13; dens., Das kulturelle Gedächtnis, S. 53, 59; BERING, Kulturelles Gedächtnis, S. 329-332.
212
Vgl. WISCHERMANN, Geschichte als Wissen, S. 65-67.
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70
1.6
Gedächtnis und Erinnerung
Konsequenzen für die Untersuchung
Im vorangegangenen Abschnitt standen die sozialen Aspekte des Gedächtnisses im
Mittelpunkt, insbesondere seine kommunikative Verfertigung und seine montagehafte Gestalt, in der Erinnerungen an Selbsterlebtes, Erinnerungen an Geschehenes
und Mitgeteiltes sowie Erinnerungen an Erinnerungen ununterscheidbar zusammenfließen.213 Nun gilt es, aus diesen Befunden die notwendigen Schlußfolgerungen für
die zu untersuchenden Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus zu ziehen. Die erste Konsequenz, die bereits durch die Formulierung der Fragestellung
ausgesprochen wurde, besteht darin, daß die vorliegende Untersuchung nicht den
Anspruch erhebt, neue Erkenntnisse über den historischen Hergang der Jahre 1933
bis 1945 hervorbringen zu wollen. Auch wenn unser Gedächtnis nicht selten eine
gute und präzise Arbeit leistet, können vor dem Hintergrund seiner konstruktiven
Funktionsweise seine Leistungen keineswegs als verläßlich eingestuft werden – zu
viele Faktoren modifizieren und verzerren unsere Erinnerungen.214 Da Zeitzeugeninterviews, die über 50 oder 60 Jahre nach den betreffenden Ereignissen angefertigt
worden sind, im Vergleich zu anderen Quellengattungen, deren Entstehungszeitpunkt zumindest in der Zeitgeschichte in der Regel zeitlich wesentlich näher am
betreffenden Geschehen liegt, besonders anfällig für Verzerrungen und Verfälschungen sind, wäre es aus quellenkritischer Sicht unverantwortlich, hier von originalgetreuen Berichten auszugehen. Folglich geht es in der vorliegenden Untersuchung auch nicht um eine möglichst lückenlose Rekonstruktion historischer Sachverhalte, sondern um die Frage, wie die am damaligen Geschehen teilhabenden
Zeitzeugen sich an die Zeit des Nationalsozialismus zurückerinnern, genauer gesagt,
wie sie ihre Vergangenheit heute rekonstruieren und deuten.
Mit der Fragestellung eng verbunden ist auch eine zweite Schlußfolgerung: Wie
in Abschnitt 1.3 gezeigt werden konnte, setzt sich das Langzeitgedächtnis, um dessen Inhalte – nicht um die des Kurz- oder Ultrakurzzeitgedächtnisses – es in der
vorliegenden Analyse geht, aus verschiedenen Subsystemen zusammen, die aus
Sicht des Untersuchungsgegenstandes von unterschiedlicher Relevanz sind. Während implizite Gedächtnisinhalte, beispielsweise motorische Fähigkeiten (prozedurales Gedächtnis), oder das Wiedererkennen unbewußt aufgenommener Reize (Priming) wenig Aufschluß über die Zeitzeugenerinnerung an den Nationalsozialismus
bieten, ist dies bei Informationen mit semantischem oder episodisch-autobiographischem Charakter um so mehr der Fall. Episodisch-autobiographische Informationen sind aus Sicht der Fragestellung insofern von Interesse, als daß sie Auskunft
darüber geben, wie Zeitzeugen ihre eigene, selbsterlebte Vergangenheit heute rekonstruieren. Bei semantischen Inhalten handelt es sich dagegen um meist nachträglich
erworbenes Wissen, das zwar auf keiner eigenen relevanten Erfahrung beruht, je-
213
214
Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 207.
Vgl. ZÄNKER, Unsere Erinnerungen, S. 74-77.
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Konsequenzen für die Untersuchung
71
doch Aufschluß über die retrospektive Interpretation der historischen Geschehnisse
zwischen 1933 und 1945 und die Beurteilung der damals in politischer wie militärischer Hinsicht handelnden Personen bietet. Freilich ist es dabei nicht immer möglich, eindeutig zwischen semantischen oder episodisch-autobiographischen Inhalten
zu unterscheiden, was mit dem deklarativen Charakter beider Gedächtnissysteme
zusammenhängt. Wenn Zeitzeugen beispielsweise über ihre eigenen Reaktionen und
Empfindungen anläßlich historisch einschneidender Ereignisse wie dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 berichten, so fließen hier selbsterlebte Erfahrung (episodisch) mit nachträglich erworbenem Wissen (semantisch) zusammen – in diesem
Falle mit der Erkenntnis, daß dieser Krieg für Deutschland mit einer Niederlage
enden sollte. Daß eine solche semantische Information nicht spurlos an den episodischen Erinnerungen eines Zeitzeugen vorübergeht, sondern vielmehr seine Überzeugung nährt: »Wie der Krieg ausbrach, waren wir überzeugt: ›Also dieser Krieg endete im Inferno, ganz sicher!‹«215, liegt angesichts der skizzierten Wirkungsweise
des False-Memory-Mechanismus auf der Hand.
Angesichts dieser Anfälligkeit des menschlichen Gedächtnisses für Verzerrungen
und Verfälschungen muß die dritte Konsequenz dahingehend lauten, daß die in den
Interviews dargestellten Ansichten und Erinnerungen mit den Ergebnissen der historischen Forschung zu konfrontieren sind, schließlich wäre es aus wissenschaftlicher Sicht in höchstem Maße unseriös, eine verzerrte Darstellung wie die erwähnte
Dresdner Tieffliegerlegende unkommentiert stehen zu lassen. Wie der Fall Dresden
verdeutlicht, ist es unverzichtbar, an die Aussagen der Zeitzeugen den Maßstab der
Fachwissenschaft anzulegen. Dabei geht es nicht darum, den Nachweis zu erbringen, daß sich letztere nach über 50 oder 60 Jahren irren können – dies wäre angesichts der konstruktiven Funktionsweise des Gedächtnis keine neue Erkenntnis –,
sondern vielmehr um die Frage, welche historischen Sujets von den Befragten in
unreflektierter oder verzerrter Weise dargestellt werden und welche nicht und welche Erklärungsansätze sich hierfür aus den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung
ableiten lassen. Bei Aussagen wie: »Hitler […] hat viel Unglück gebracht«216, oder:
»Der Frankreichkrieg […] dauerte ja nur sehr kurz«217, wäre ein solcher Abgleich
allerdings wenig ertragreich, schließlich handelt es sich hier um solch banale und
unbestreitbare Thesen, die keinerlei Überprüfung benötigen. Eine Konfrontation der
Zeitzeugenerinnerung mit der Fachwissenschaft erscheint vielmehr dann sinnvoll,
wenn die Vergangenheitskonstruktion der Befragten wie im Falle der Dresdner
Tieffliegerangriffe in deutlichem Widerspruch zu den Ergebnissen der historischen
Forschung steht.
215
Int. 01270, S. 3.
Int. 01004, S. 8.
217
Int. 01345, S. 4.
216
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