Marc J. Philipp Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen. © be.bra wissenschaft verlag GmbH Berlin-Brandenburg, 2010 KulturBrauerei Haus S Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin [email protected] Satz: Marc J. Philipp, Glashütten Umschlag: hawemannundmosch, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-937233-60-4 www.bebra-wissenschaft.de © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Inhalt Vorwort .........................................................................................................................................11 Einleitung .......................................................................................................................................12 1. Gedächtnis und Erinnerung .................................................................................................27 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 2. Das Zeitzeugeninterview: zum Quellenkorpus der Untersuchung ....................................72 2.1 2.2 2.3 2.4 3. Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses................................................27 Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß .................................................................31 Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt.................................................33 Die Veridikalität von Erinnerungen............................................................................39 1.4.1 Erinnern und Vergessen..............................................................................40 1.4.2 Erinnern und Verdrängen ...........................................................................42 1.4.3 Erinnern und Verfälschen: Das False-Memory-Syndrom...........................46 1.4.4 Bedingungsfaktoren für die Veridikalität von Erinnerungen ......................50 Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses.................................................................62 Konsequenzen für die Untersuchung..........................................................................70 Zum Quellenwert von Zeitzeugeninterviews..............................................................72 2.1.1 Die Methode der Oral History ....................................................................72 2.1.2 Zum Quellenwert von Memoirenliteratur ...................................................77 2.1.3 Objektivität, Reliabilität, Validität..............................................................79 Der Weg der Datenerhebung ......................................................................................83 2.2.1 Die Auswahl der Zeitzeugen ......................................................................83 2.2.2 Die Durchführung der Interviews ...............................................................85 2.2.3 Transkription ..............................................................................................88 Das Repräsentativitätsproblem ...................................................................................89 2.3.1 Stichprobenbeschreibung............................................................................91 2.3.2 Die Repräsentativität der Interviewinhalte .................................................99 Auswertung ..............................................................................................................105 Personen ...............................................................................................................................113 3.1 Adolf Hitler ..............................................................................................................113 3.1.1 »Auf einmal explodierte er und flippte aus.« – Der Choleriker.................114 3.1.2 »Hitler hat das deutsche Volk besoffen gemacht.« – Der Demagoge.......................................................................................120 3.1.3 »Wir haben ihn von Anfang an für einen größenwahnsinnigen Gefreiten gehalten!« – Der Dilettant.............................................................127 3.1.4 »Hitlers Wille war allmächtig.« – Der Diktator........................................134 3.1.5 »Für mich ist er der größte Massenmörder aller Zeiten.« – Der Verbrecher .........................................................................................138 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 3.2 3.3 3.4 4. Die politische Elite ...................................................................................................142 3.2.1 »Das war ein vollkommen demoralisierter, verantwortungsloser Kerl, der nur noch an sein eigenes Wohlergehen dachte und von nichts ’ne Ahnung hatte.« – Hermann Göring ..........................................143 3.2.2 »Das Furchtbare an ihm war, daß er seine Intelligenz für diese fürchterlichen Verbrechen mißbraucht hat.« – Joseph Goebbels .............151 3.2.3 »Er war der böse Geist im Dritten Reich.« – Heinrich Himmler..............157 3.2.4 »Er war im Grunde seiner Seele ein Techniker, ein Ingenieur, aber kein wirklicher Nazi.« – Albert Speer.......................................................164 3.2.5 »Er war der rückhaltlose Gefolgsmann Hitlers, aber sicherlich auch ein Anhänger einer sinnvollen und friedlichen Europapolitik.« – Rudolf Heß ...............................................................................................169 3.2.6 »Er war ein Wolf im Schafspelz: Nach außen hin zur Jugend freundlich, nett, hilfsbereit, obwohl die Ziele ganz andere waren.« – Baldur von Schirach .................................................................................176 3.2.7 »Er war der Schäferhund des Schäfers, ein Mann für’s Grobe, der oben am Treppengeländer steht und guckt, wer zu spät kommt.« – Martin Bormann .......................................................................................181 3.2.8 Fazit..........................................................................................................185 Die militärische Elite................................................................................................190 3.3.1 »Er war ein General, der von vorne führte, ein Idealbild des militärischen Führers.« – Erwin Rommel ......................................................191 3.3.2 »Er war zweifellos der beste strategische und operative Kopf der deutschen Wehrmacht, aber das Unrecht und die Verbrechen hat er nicht sehen wollen.« – Erich von Manstein ..............................................196 3.3.3 »Er war eine schwache, jämmerliche Persönlichkeit, ein Zauderer, der zu feige war, der 6. Armee gegen den Befehl von Hitler den Ausbruch aus Stalingrad zu erlauben.« – Friedrich Paulus ............................204 3.3.4 »Er war ein hoch angesehener Seeoffizier, der dafür gesorgt hat, daß die ganzen Marineeinheiten Millionen von Flüchtlingen gerettet haben.« – Karl Dönitz ..............................................................................209 3.3.5 »Er war ein Held, der sein Leben aufs Spiel setzte, um anderen zu helfen.« – Wilhelm Canaris ......................................................................214 3.3.6 »Er war ein Lakai, der zu allem Ja und Amen sagte, was Hitler von ihm verlangt hat.« – Wilhelm Keitel ........................................................219 3.3.7 »Er war einer der wenigen, die Hitler ganz entschieden widersprochen haben.« – Alfred Jodl................................................................224 3.3.8 Fazit..........................................................................................................228 Ergebnisse ................................................................................................................231 Ereignisse .............................................................................................................................236 4.1 4.2 Von der Machtübernahme zur Etablierung der NS-Herrschaft .................................237 4.1.1 »Ich brauch’ mir keinen Vorwurf zu machen, ich habe ihn ja nicht gewählt!« – Hitlers ›Machtergreifung‹ vom 30. Januar 1933 ...................237 4.1.2 »Es hat plötzlich a’ jeder a’ Arbeit gehabt.« – Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit ........................................................................................246 4.1.3 Fazit..........................................................................................................250 Die Außenpolitik des ›Dritten Reiches‹ bis 1939 .....................................................251 4.2.1 »Endlich hatten wir unser ganzes Reich wieder für uns!« – Der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland 1936 ........................................253 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 4.2.2 4.3 4.4 4.5 4.6 5. »Das hat die Menschen in einen Taumel versetzt.« – Der ›Anschluß‹ Österreichs 1938.......................................................................................254 4.2.3 »In ganz Europa war der Jubel riesengroß.« – Das Münchener Abkommen und der Anschluß des Sudetenlandes 1938 ................................258 4.2.4 »Hier ließ Hitler erstmals die Maske fallen.« – Die Zerschlagung der ›Rest-Tschechei‹ 1939........................................................................261 4.2.5 Fazit..........................................................................................................264 Der Zweite Weltkrieg ...............................................................................................266 4.3.1 »Der Größenwahn und die Leichtfertigkeit dieses Spieltyps Hitler haben ihn entfesselt.« – Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges .............268 4.3.2 »Der Krieg im Westen war doch sehr nobel und anständig.« – Der Westfeldzug..............................................................................................274 4.3.3 »Das war ein Kampf der Höhlenmenschen, ohne Gesetze, ohne nichts.« – Der Krieg gegen die Sowjetunion ............................................281 4.3.4 »Als die Amerikaner mit der Invasion kamen, da wußten wir, das ist jetzt das Aus.« – Das Kriegsende im Westen............................................311 4.3.5 »Das ist ein Verbrechen gewesen, junge Vierzehn-, Fünfzehnjährige in letzter Minute so zu verheizen!« – Der Volkssturm ..............................314 4.3.6 »Dieser Angriff war ein regelrechtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.« – Die Zerstörung von Dresden ..................................................316 4.3.7 »Man hatte ein Gefühl der Erleichterung, daß endlich diese Schießerei und Mörderei aufhörte.« – Das Kriegsende am 8. Mai 1945...........321 4.3.8 Fazit..........................................................................................................326 Die Verfolgung und Ermordung der Juden...............................................................329 4.4.1 »Das war dieser Tag, wo das mit der Judenverfolgung losging.« – Die ›Reichskristallnacht‹ 1938 .................................................................331 4.4.2 »Es waren Menschen wie wir!« – Der Stellenwert des Antisemitismus in der Gesellschaft des ›Dritten Reiches‹ ..........................................341 4.4.3 »Von den KZs natürlich, aber von den Gaskammern habe ich während des Krieges nicht gehört.« – Was wußten die Zeitzeugen von der Judenvernichtung?..............................................................................347 4.4.4 Fazit..........................................................................................................354 Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus ......................................................357 4.5.1 »Daran sieht man, daß es in allen Schichten in Deutschland immer Menschen gegeben hat, die mit Entsetzen sahen, was geschah.« – Das Elser-Attentat 1939............................................................................360 4.5.2 »Das Attentat hat der Welt gezeigt, daß es in diesem Volke Menschen gab, die bereit waren, ihr Leben einzusetzen, um dieses Regime zu beseitigen.« – Der 20. Juli 1944 ..............................................362 4.5.3 Exkurs: »Er war der einzig wirklich hundertprozentige Held.« – Claus Schenk Graf von Stauffenberg........................................................374 4.5.4 Fazit..........................................................................................................379 Ergebnisse ................................................................................................................382 Erfahrungen.........................................................................................................................390 5.1 Fronterfahrungen ......................................................................................................390 5.1.1 »Das war ja die Hölle, was man da mitgemacht hat!« – Kämpfe.............391 5.1.2 »Das höchste Gut, was man hatte, war, daß man sich auf seinen Nächsten verlassen konnte.« – Kameradschaft.........................................400 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 5.1.3 5.2 5.3 5.4 »Ich habe mir all die Jahre nur eines gewünscht: daß ich nach Hause komme.« – Heimweh ............................................................................406 5.1.4 »Das waren keine bösen Menschen, aber wir konnten doch nicht alle einfach davonlaufen.« – Fahnenflucht ...............................................410 5.1.5 »Da ist man halb am Sterben.« – Verwundung ........................................419 5.1.6 »Das Risiko einer Gefangenschaft war im Westen sehr viel geringer, während die im Osten nie wußten, ob sie überhaupt lebend wieder rauskamen.« – Kriegsgefangenschaft .......................................................423 5.1.7 »Das hat leider Gottes zum Kriegsalltag dazugehört.« – Sterben und Tod ...........................................................................................................429 5.1.8 Fazit..........................................................................................................438 Erfahrungen an der Heimatfront...............................................................................439 5.2.1 »Es stand praktisch kein Stein mehr auf dem anderen.« – Luftangriffe auf deutsche Städte...................................................................................440 5.2.2 »Im Grunde genommen wurde alles ermordet, was den Russen in die Hände kam.« – Der Einmarsch der Roten Armee ...............................444 5.2.3 Fazit..........................................................................................................454 Die Selbstwahrnehmung der Zeitzeugen ..................................................................455 5.3.1 »Jeder sagt, er habe nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun gehabt, aber bei mir stimmt’s wirklich!« – Das eigene Verhältnis zum Nationalsozialismus..................................................................................455 5.3.2 »Vom ersten Tag an wurden wir belogen, zwölf Jahre lang.« – Die Indoktrination durch Staat und Partei .......................................................459 5.3.3 »Ich konnte ja nichts dafür. Das wurde ja alles von oben bestimmt.« – Zum Schuldbewußtsein der Zeitzeugen .................................................463 5.3.4 Fazit..........................................................................................................468 Ergebnisse ................................................................................................................469 Schlußbetrachtung.......................................................................................................................472 Anhang ........................................................................................................................................483 Bibliographie................................................................................................................................487 Zeitzeugeninterviews.............................................................................................................487 Demoskopische Erhebungen .................................................................................................527 Zeitungen, Wochenschauberichte..........................................................................................528 Reden, Tagebücher, Memoiren, sonstige Quellen .................................................................528 Literatur.................................................................................................................................531 Personen- und Ortsregister.........................................................................................................574 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 1. Gedächtnis und Erinnerung 1.1 Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses Seit Jahrhunderten versuchen Philosophen und Schriftsteller, das Geheimnis des menschlichen Gedächtnisses zu ergründen, und seit mehr als hundert Jahren setzen sich Wissenschaftler mit den Problemen des Erinnerns und Vergessens auseinander. Lange Zeit waren nur langsame Fortschritte erkennbar, doch in den vergangenen 20 Jahren hat die Gedächtnisforschung erhebliche, teilweise gar revolutionäre Veränderungen erlebt.1 Vor diesem Paradigmenwechsel, der sich am Ende des 20. Jahrhunderts vollzog, herrschte noch die Ansicht vor, Erlebnisse und Ereignisse würden an einem lokalisierbaren Ort im Gehirn wie in einem Computer gespeichert und wären aus diesem Speicher jederzeit in unveränderter Form wieder abrufbar.2 Heute wissen wir, daß derartige Vorstellungen mit der Funktionsweise des Gedächtnisses, soweit sie bis heute entschlüsselt ist, nicht allzu viel gemein haben. Ein Gedächtnis als einen Speicher von Repräsentationen der Umwelt, die für verschiedene Gelegenheiten abgerufen werden können, gibt es als neurophysiologische Funktion nicht.3 Vielmehr stellt das Gedächtnis ein konstruktives Netzwerk dar, das mit verschiedenen Systemen des Einspeicherns, Aufbewahrens und Abrufens operiert, die ihrerseits wieder auf unterschiedliche Subsysteme zugreifen. Entgegen den früher angenommenen Speicherungskonzeptionen wird das wahrgenommene Geschehen nicht einfach abgebildet, sondern auf vielfältigen Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen gefiltert und interpretiert. Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen im Gehirn repräsentieren, sind auch nicht, wie lange Zeit angenommen, an bestimmten Stellen des Gehirns lokalisierbar, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche verteilt. Dies gilt insbesondere für persönliche Informationen, die in der Regel nicht nur eine neutrale Wissenseinheit darstellen, sondern meist emotional besetzt sind und ein ganzes Informationsgebilde, zum Beispiel die Episode der ersten Liebe oder des eigenen Abiturs, einschließen.4 Sich zu erinnern bedeutet, assoziative Muster zu aktivieren und neu zu bilden, wobei die Bestandteile des Erinnerten, wie etwa ihre zeitlichen, situativen und emotionalen Merkmale, in verschiedener Weise neu figuriert werden.5 Beim Abruf gespeicherter 1 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 21. Zur Genese der Gedächtnisforschung vgl. DRAAISMA, Die Metaphernmaschine. 2 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 711-712. 3 Vgl. MATURANA, Erkennen, S. 62. Der Befund, daß das Gedächtnis keineswegs wie eine Speichermaschine funktioniert, ist innerhalb der ernstzunehmenden Gedächtnisforschung mittlerweile völlig unbestritten. Vgl. exemplarisch KETTNER, Nachträglichkeit, S. 37-38. 4 Vgl. MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 238. 5 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 8, 21. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 28 Gedächtnis und Erinnerung Informationen wird im Gehirn mittels einer Vielzahl biochemischer und elektrophysiologischer Prozesse eine Reihe miteinander kommunizierender Hirnorgane aktiviert, von deren Funktion die neurowissenschaftliche Forschung bis vor wenigen Jahren noch nichts wußte.6 Es liegt auf der Hand, daß dieser Prozeß der Mustervervollständigung derart vielfältigen gedächtnisinternen wie -externen Einflüssen unterliegt, daß von einer exakten Erinnerung an eine Situation oder ein Geschehnis nur in seltensten Grenzfällen auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und wie gesagt konstruktive Arbeit, die die Erinnerung mit Bezug auf die jeweilige Gegenwart neu figuriert.7 Am Anfang dieses konstruktiven Erinnerungsprozesses steht jedoch nicht der Abruf einer Information aus dem Gedächtnis, sondern ihre Aufnahme, die bereits mit dem Wahrnehmungsprozeß einsetzt, durch den die in einer beliebigen Situation empfangenen Reize selektiert und modifiziert werden.8 Dies bedeutet, daß jedes Wahrnehmen zugleich ein Erinnerungsphänomen darstellt, das auf einer Vielzahl von Sinnesorganen beruht.9 Um einer Reizüberflutung vorzubeugen, bedarf es zuverlässiger Schutzmaßnahmen seitens des Gehirns, das noch vor jeglichem Bewußtwerden aus den unzähligen Eindrücken, die ihm fortwährend zufließen, eine Auswahl zwischen relevanten und irrelevanten Informationen treffen muß, die entsprechend ihrer Bedeutungszuweisung festgehalten, vergessen oder erst gar nicht aufgenommen werden.10 Als Gütekriterien für diesen stets unbewußt ablaufenden 6 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 123-124. Vgl. SCHMIDT, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S. 378, 380; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 20; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160; dens., Interview, S. 52. 8 Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 114-116; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 32. 9 Vgl. FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 69-70. 10 Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 569; PATZEL-MATTERN, Geschichte im Zeichen der Erinnerung, S. 258. Als Beleg für den hohen Selektivitätsgrad läßt sich die Wahrnehmung akustischer Reize anführen. Zwar ist unser Ohr dazu in der Lage, mechanische Schwingungen von etwa 20 bis 20.000 Hz als Töne wahrzunehmen. Im Bereich des Infraschalls (unter 20 Hz) sowie im Bereich des Ultraschalls (über 20.000 Hz) hören wir jedoch so gut wie nichts mehr, obwohl es eigentlich etwas wahrzunehmen gäbe. Vgl. hierzu HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 11-12. Gleiches gilt in Parallele auch für die Aufnahme visueller Reize, wie in besonders prägnanter Weise aus einem Versuch hervorgeht, bei dem Probanden eine Gruppe von Leuten beobachten sollten, die in einem Kreis standen und sich fortwährend einen Basketball zuwarfen. Die Aufgabe bestand darin, die Ballkontakte eines Beteiligten zu zählen. Wenn nun plötzlich jemand in einem Gorillakostüm durch den Kreis läuft, stehen bleibt und sich auf die Brust trommelt, dann müßte das den Probanden, so die Versuchshypothese, eigentlich auffallen. Das Ergebnis zeigte jedoch, daß die Hälfte der Teilnehmer den Mann im Gorillakostüm nicht bemerkt hatte. Dies läßt sich damit erklären, daß sich die Versuchspersonen in ihrer Wahrnehmung ganz auf die Bewegung des Balles konzentriert hatten und daher blind für alles waren, was mit den unbeobachteten Objekten geschehen war, weshalb sie eine plötzliche Veränderung der Situation nicht enkodierten. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 82-83. 7 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses 29 Selektionsprozeß werden lebenslang angesammelte Vorinformationen herangezogen, vor deren Hintergrund die eingegangenen Wahrnehmungsinhalte auf ihre Semantik hin überprüft und sinnhaft interpretiert werden.11 Da jeder Mensch über andere Wertvorstellungen und Einstellungen verfügt und auf eine individuell einzigartige Lebensgeschichte zurückblickt, ist es kaum verwunderlich, wenn zwei Menschen vollkommen verschiedene Erinnerungen an ein- und dasselbe Ereignis aufweisen.12 Nachdem die wahrgenommenen Inhalte die verschiedenen Selektionskanäle, auf die im Zusammenhang mit der zeitlichen Untergliederung des Gedächtnisses in Abschnitt 1.2 noch näher eingegangen wird, durchlaufen haben, werden sie in Form elektronischer Signale verarbeitet, das heißt, sie werden in Informationen zergliedert, die dem Gehirn als längst vertraut oder als völlig neu und ungewohnt erscheinen. Vertrautes wird von den zuständigen Neuronen als Vertrautes, eine Farbe vom Farbengedächtnis beziehungsweise den dafür zuständigen Neuronen als dieses Farbsignal, ein Ton vom Tongedächtnis als dieses Tonsignal und ein Geruch vom Geruchsgedächtnis als dieses Geruchssignal, etc. registriert.13 Diese inhaltliche Strukturierung der aufgenommenen Informationen ist von größter Bedeutung, denn sie ermöglicht erst ihre spätere Rekonstruktion. Wenn eine zu einem früheren Zeitpunkt aufgenommene und verarbeitete Information erinnert, das heißt aus dem Gedächtnis abgerufen werden soll, müssen ihre Einzelteile sinnvoll reproduziert und immer wieder neu zusammengesetzt werden. Auf neuronaler Ebene führt dies dazu, daß im Gehirn eine dauerhaft gebahnte, kognitive Struktur, in deren Form die betreffenden Informationen repräsentiert sind, aktiviert wird, deren Leistungen dem Bewußtsein14 zugänglich gemacht werden.15 Es liegt auf der Hand, daß derartige Rekonstruktionen nur in den seltensten Fällen ihrem ursprünglichen Input entsprechen, schließlich erfahren sie nicht nur durch den angesprochenen Verarbeitungsprozeß zahlreiche Veränderungen, sondern auch durch die inzwischen erfolgte Persönlichkeitsentwicklung der sich erinnernden Person sowie durch die herrschenden Bedingungen 11 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 109-110, 125, 140; SÜLLWOLD, Deutsche Normalbürger 1933-1945, S. 33; ZEDELMAIER, Selektion, S. 532-533. 12 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 89-91; SCHMIDT, Geleitwort, S. 8. 13 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 136. 14 Da Bewußtsein Gegenstand einer Reihe von Disziplinen ist, entzieht sich der Terminus bislang einer einheitlichen Definition. Das Spektrum an Definitionen reicht vom Komazustand zu Schlaf und Wachheit, dann weitergehend zu gerichteter Aufmerksamkeit, Reflexion des eigenen Selbst gegenüber seiner Umgebung bis hin zu pathologischen Gradierungen wie Doppelbewußtsein, das sich im psychiatrischen Bereich bei dissoziativen Störungen zeigt. Andere Definitionen unterschieden zwischen einem Kernbewußtsein und einem erweitertem Bewußtsein oder zwischen autonoetischen, noetischen und anoetischen Bewußtseinsgraden. Vgl. hierzu LOHMANN/HEUFT, Autobiographisches Gedächtnis und aktuelle Lebensperspektive im Alter, S. 189; PAUEN, Das Rätsel des Bewußtseins, S. 42-43; ROTH, Bewußtsein, S. 83. 15 Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 244; SCHMIDT, Gedächtnis – Erzählen – Identität, S. 381-384. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 30 Gedächtnis und Erinnerung zum Abrufzeitpunkt.16 Da die erinnerte Lebensgeschichte immer wieder neu figuriert werden muß, ist jede Vergegenwärtigungssituation einmalig, das heißt, jede Vergangenheitsversion verändert sich der jeweiligen Gegenwart entsprechend.17 Dies bedeutet, daß lebensgeschichtliche Erinnerungen nicht aus der Vergangenheit stammen, sondern die Vergangenheit resultiert aus der Erinnerung.18 Erinnerungen stellen folglich keine objektiven Abbilder einer vergangenen Wahrnehmung, geschweige denn einer vergangenen Realität dar, sondern sind vielmehr durch den gegenwärtigen Abrufkontext gefärbt.19 Freilich gilt dies für die vorliegenden Zeitzeugenerinnerungen in besonderem Maße, schließlich haben nach 1945 einschneidende politische, soziale und auch wirtschaftliche Erosionsprozesse stattgefunden, die die Sichtweise auf das ›Dritte Reich‹ stark verändert haben. Dort, wo vor dem Kriegsende noch bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem NS-Regime und seinen Repräsentanten gefordert war, besteht heute Einigkeit über den verbrecherischen Charakter der nationalsozialistischen Politik. Zu diesen gesellschaftspolitischen Umwälzungen kommt die aktuelle Lebenssituation des Zeitzeugen hinzu, die maßgeblichen Einfluß darauf hat, wie die eigene Biographie im Rückblick betrachtet und bewertet wird. Gegenwärtig wichtige Ereignisse wie zum Beispiel der Tod einer nahestehenden Person oder eine eigene Krankheit können die Erinnerung vorübergehend überlagern, so wie die gesamte psychische Konstitution der Gegenwart den Blick auf die Vergangenheit beeinflußt.20 Freilich handelt es sich hierbei um Einflüsse, über die die vorliegenden Interviews kaum Informationen bieten und die auch im Nachhinein nicht mehr rekonstruierbar sind, schließlich sind viele der befragten Zeitzeugen mittlerweile verstorben. Zudem ist es völlig ausgeschlossen, all jene Faktoren lückenlos zu ergründen, die die Erinnerungen eines jeden Befragten nach 1945 geprägt oder verändert haben. Mit dem Gegenwartsbezug von Erinnerungen hängt eine weitere Eigentümlichkeit zusammen, durch die die abgerufenen Informationen wesentlich beeinflußt werden. Prägende Erlebnisse und richtungsweisende Begebenheiten innerhalb eines Lebenslaufs werden immer wieder abgerufen, so daß die verschiedenen Erinnerungsprozesse sich über dem ursprünglichen Gegenstand ablagern, sich metaphorisch ge16 Vgl. HAAS, Philosophie der Erinnerung, S. 39; JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 44; KORFF, Bemerkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur, S. 164; MANN, Validitätsprobleme retrospektiver Interviews, S. 358; PLATT, Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung, S. 247; REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 96. 17 Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 27-28. 18 Vgl. JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 44. 19 Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 7; HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 55-56; KEPPLER, Soziale Formen, S. 137; ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 70; SCHRÖDER, Die Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs, S. 18; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160; dens., Interview, S. 52. 20 Vgl. BOMMES, Gelebte Geschichte, S. 86; GÖPFERT, Oral History, S. 106; ROSENTHAL, Die erzählte Lebensgeschichte als historisch-soziale Realität, S. 132; WELZER/MOLLER/ TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 202-203. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Zur Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses 31 sprochen wie erkaltende Lavaschichten über einen Vulkan legen, der nach jedem Ausbruch in einer veränderten Form zurückgelassen wird. Oft ist dann beim Eintreten eines weiteren Erinnerungsprozesses gar nicht mehr eindeutig zu unterscheiden, ob es sich dabei wirklich um eine Erinnerung an ein ursprüngliches Erlebnis oder um eine Erinnerung an das Ergebnis eines der zahlreichen zuvor bereits stattgefundenen Erinnerungsakte handelt. Wird ein Ereignis mehrfach abgerufen, lagern sich all seine unterschiedlichen Erinnerungen in mehreren Schichten über dem tatsächlichen Geschehen ab. Je dicker diese Ablagerung wird, um so mehr verschwindet die ursprüngliche Erfahrung fast bis zur Unkenntlichkeit.21 Folglich haben wir es nur in Ausnahmefällen mit Erinnerungen an ein tatsächliches Erlebnis zu tun. In der Regel handelt es sich um Erinnerungen an Erinnerungen, das heißt an zu einem früheren Zeitpunkt abgerufene Informationen.22 Die geschilderte rekonstruktive Funktionsweise, der Gegenwartsbezug sowie der Umstand, daß es sich bei Gedächtnisinhalten meist um Erinnerungen an Erinnerungen handelt, trifft freilich auf alle Bereiche des Gedächtnisses zu, die innerhalb der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung diskutiert werden. Letztere sieht eine Unterteilung des Gedächtnisses nach der Zeit und nach dem Inhalt vor, wobei sich die zeitliche Unterteilung auf die gängige Differenzierung in Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis bezieht, die im folgenden Abschnitt erläutert wird, während sich das Gedächtnis in inhaltlicher Hinsicht in ein semantisches, ein episodisches, ein prozedurales und in ein Priming-Gedächtnis aufspalten läßt, die es im einzelnen in Abschnitt 1.3 darzustellen gilt. 1.2 Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß Als erste Speicherinstanz umfaßt das sensorische oder auch Ultrakurzzeitgedächtnis sämtliche Gedächtnisphänomene im Zeitbereich von wenigen Millisekunden bis zu einigen Sekunden.23 Um das Kurz- und das Langzeitgedächtnis vor einer Informationsüberflutung zu schützen, selektiert und manipuliert es die eintreffenden Sinnes- 21 Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 96. Äquivalent zur Metapher mit dem Vulkan wird der Erinnerungsprozeß häufig auch mit dem Kindergeburtstagsspiel ›Stille Post‹ verglichen, bei dem eine Geschichte von Person zu Person weitergegeben wird und mit jeder Erzählung Umdeutungen und kreative Neukonstruktionen erfährt. Von der ursprünglich ins Ohr geflüsterten Geschichte bleibt am Ende kaum etwas übrig. Statt dessen werden unklare Leerstellen kreativ ausgefüllt, so daß häufig eine ganz neue, zum Teil aber trotzdem plausible Episode entsteht. Vgl. JENSEN, Geschichte machen, S. 21; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 158-159. 22 Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 195, 204. 23 Vgl. ERDFELDER, Kurzzeitgedächtnis, S. 337-339; HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 17; KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 521; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 30-33. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 32 Gedächtnis und Erinnerung reize und trifft innerhalb weniger Sekunden eine Entscheidung darüber – und zwar unbewußt –, welche Informationen an das Kurz- und das Langzeitgedächtnis weitergeleitet werden und welche nicht.24 Hinsichtlicht seiner Kapazität erscheint das sensorische Gedächtnis nahezu unbegrenzt, zumindest aber deutlich größer als das Kurzzeitgedächtnis.25 Diejenigen Informationen, denen vom sensorischen Gedächtnis hinreichend Aufmerksamkeit geschenkt wurde, werden in das Kurzzeitgedächtnis überführt und dort durch verschiedene Kontrollprozesse weiterverarbeitet. Das Kurzzeitgedächtnis fungiert somit als Bindeglied zwischen den Speichern des sensorischen Gedächtnisses und dem Langzeitgedächtnis, in dem Informationen langfristig abgelegt werden. Seine Speicherlatenz ist anders als die des sensorischen Gedächtnisses durch ungestörtes Memorieren prinzipiell beliebig dehnbar, bewegt sich im allgemeinen aber im Bereich von einigen Sekunden bis zu wenigen Minuten. Im Gegensatz zur nahezu unbegrenzten Speicherkapazität des sensorischen Gedächtnisses ist die Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses auf 7 ± 2 Informationseinheiten (chunks) begrenzt, unabhängig davon, ob die betreffende Information eine Ziffer, ein Wort, einen ganzen Satz, eine Melodie, ein Bild oder ein Gesicht etc. darstellt.26 Dasjenige Gedächtnissystem, auf das Zeitzeugen zugreifen, wenn sie sich an die Zeit des Nationalsozialismus zurückerinnern, ist das Langzeitgedächtnis, dessen Funktionen zeitlich weit über die des Kurzzeitgedächtnisses hinausgehen.27 Während das sensorische wie das Kurzzeitgedächtnis Informationen nur für wenige Sekunden oder Minuten bereithalten können, werden Inhalte, die einmal im Langzeitgedächtnis abgelagert worden sind, unter Umständen ein Leben lang bewahrt. In den Langzeitspeicher gelangen freilich nur solche Informationen, die zuvor im Kurzzeitgedächtnis präsent gehalten worden sind und denen eine wichtige Bedeutung für 24 Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 569-570. In der Frage der Kapazität des sensorischen Gedächtnisses gehen die Meinungen in der Gedächtnisforschung auseinander. KAERNBACH (Sensorisches Gedächtnis, S. 538-540) bezweifelt die Unbegrenztheit der Speicherkapazität, ohne sie jedoch näher bestimmen zu können, während KNOPF (Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 521) von einem Speicher von bis zu 1.000 Bit ausgeht. 26 Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 48; ERDFELDER, Kurzzeitgedächtnis, S. 337-339; HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 18; KAERNBACH, Sensorisches Gedächtnis, S. 521-522, 538-540; MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 220; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 22-23. 27 Die Gedächtnisforschung konnte bisher keine eindeutigen Befunde darüber erzielen, ob das Langzeitgedächtnis sequentiell auf dem Kurzzeitgedächtnis aufbaut und ob darüber hinaus noch ein intermediäres Gedächtnis existiert, das im Bereich von Stunden liegt. Neurowissenschaftler vermuten, daß das menschliche Nervensystem über parallele Wege zur Informationsverarbeitung verfügt, was bedeuten würde, daß sich Kurz- und Langzeitgedächtnis im Bereich der ersten Minuten und Stunden nach dem Wahrnehmungsprozeß überlappen. Vgl. hierzu MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 220-221; dens., Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85. 25 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Das Gedächtnis als zeitabhängiger Prozeß 33 ihre Übertragung in das Langzeitgedächtnis beigemessen wurde.28 Im Gegensatz zum Kurzzeitgedächtnis gilt die Kapazität des Langzeitgedächtnisses als unbegrenzt, wobei nicht primär Worte kodiert werden, sondern Inhalte und ihre Bedeutungen. Verbales Material wird semantisch, das heißt abstrakt, visuelles über Vorstellungsbilder und akustisches über auditive Muster kodiert.29 1.3 Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt Neben der zeitlichen Unterteilung hat seit Ende der siebziger Jahre eine inhaltliche Auffächerung des Langzeitgedächtnisses zunehmend Eingang in die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung gefunden.30 Gegenwärtig werden hier vier unterschiedliche Gedächtnissysteme postuliert, die untereinander interdependent und jeweils noch weiter differenzierbar sind: erstens das Gedächtnis für allgemeines Wissen ohne Bezug zu autobiographischen Episoden, das als semantisches Gedächtnis oder auch als Wissenssystem bezeichnet wird; zweitens das Gedächtnis für Informationen und Ereignisse mit einem direkten Bezug zu bestimmten Episoden des eigenen Lebens, das sogenannte episodische Gedächtnis; drittens ein nicht notwendig verbalisierbares Gedächtnis für prozedurales Wissen verschiedenster Art, das sogenannte prozedurale Gedächtnis; viertens ein Gedächtnis zur Wiedererkennung von bereits unbewußt wahrgenommenen Reizen, das sogenannte Priminggedächtnis.31 28 Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 50; HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 20; KAERNBACH, Sensorisches Gedächtnis, S. 538540, S. 522; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 23. 29 Während eintreffende Sinnesinformationen das sensorische wie das Kurzzeitgedächtnis durchlaufen, um schließlich in das Langzeitgedächtnis zu gelangen, ist parallel ein vierter Gedächtnistypus aktiv, der von verschiedenen Disziplinen der Gedächtnisforschung als ›Arbeitsgedächtnis‹ bezeichnet wird, dessen Wirkungsweise für den Abruf von Langzeitinformationen jedoch als unbedeutend einzustufen ist. Vgl. hierzu BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 61; ERDFELDER, Arbeitsgedächtnis, S. 46-48; FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 97; GISBERT, Das autobiographische Gedächtnis, S. 26-36; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 153; SCHACTER, Aussetzer, S. 49; dens., Wir sind Erinnerung, S. 468; WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169-186. 30 Vgl. ERDFELDER, Langzeitgedächtnis, S. 341; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 18-21; WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169. 31 Bei den vier genannten Gedächtnissystemen handelt es sich um die in der Gedächtnisforschung am deutlichsten nachweisbaren Varianten des Langzeitgedächtnisses. Darüber hinaus existieren noch weitere Gedächtnissysteme, die jedoch nicht von allen Forschern nachvollzogen werden, unter anderem das perzeptuelle Gedächtnis, bei dem es um das Erkennen von Reizen aufgrund von Familiaritäts- oder allgemeinen Bekanntheitsgesichtspunkten geht, das Gedächtnis für eigene Pläne und Vorhaben (prospektives Gedächtnis), das Gedächtnis für den Wortlaut beziehungsweise die Wortfolge von Berichten (phonemisches Gedächtnis), das Gedächtnis für Gerüche (olfaktorisches Gedächtnis) sowie das Gedächtnis für die Quelle oder Kontextmerkmale einer Information © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 34 Gedächtnis und Erinnerung All diese genannten Systeme haben verschiedene Funktionsweisen, die für die vorliegende Untersuchung eine unterschiedliche Relevanz besitzen. Von geringerer Bedeutung sind zum einen das Priming-Gedächtnis32, das sich auf unbewußt wahrgenommene Information bezieht, die zu einem späteren Abrufzeitpunkt verhaltenswirksam werden33, zum anderen das prozedurale Gedächtnis34, das Fähigkeiten wie das Sprechen einer Sprache oder das Einhalten grammatikalischer Regeln sowie motorische Fertigkeiten wie Laufen, Fahrradfahren, Schwimmen oder Tennisspielen beinhaltet. Beide Systeme sind Bestandteil des sogenannten non-deklarativen oder auch impliziten Gedächtnissystems35, das über eine hochgradig automatisierte Arbeitsweise verfügt, das heißt, daß die einzelnen Subsysteme aktiviert werden, ohne daß sich der Betroffene dessen bewußt wäre.36 Obwohl die Inhalte des impliziten Gedächtnissystems im Gegensatz zu semantischen oder episodischen Informationen ausgesprochen resistent gegen Verzerrungen und Verluste sind37 – (Quellengedächtnis). Vgl. hierzu MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 188 sowie FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 96. 32 Zum Priming-Gedächtnis vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 84; MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 222; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24-30. 33 Das beste Beispiel für solch eine unbewußte Informationsaufnahme ist das Experiment des französischen Nervenarztes Eduard Claparéde mit einer Patientin, die keinerlei Fähigkeit mehr besaß, neue Erinnerungen zu bilden und beispielsweise ihren Arzt schon dann nicht mehr wiedererkannte, wenn dieser zwischenzeitlich nur für ein paar Minuten das Zimmer verlassen hatte. Claparéde war auf die Idee gekommen, ihr zur Begrüßung nicht wie üblich die bloße Hand hinzustrekken, sondern eine, in der eine Heftzwecke verborgen war, an der sich die Patientin beim Händedruck auch kräftig stechen sollte. Zwar konnte sie sich auch bei Claparédes nächstem Besuch in keiner Weise daran erinnern, wer dieser Herr war und was er von ihr wollte, aber sie weigerte sich fortan, seine Hand zu schütteln, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Wie diese Episode belegt, hatte sich bei der besagten Patientin unbewußt eine Information eingeschlichen, die ebenso unbewußt wieder von ihr abgerufen wurde. Zwar konnte sie sich nicht an die Ausgangssituation erinnern, doch unbewußt hatte sie gelernt, daß es ihr weh tun könnte, wenn sie Claparédes Hand schüttelte. Vgl. hierzu DRAAISMA, Die Metaphernmaschine, S. 200-201; LEDOUX, Das Netz der Gefühle, S. 194; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 60-61. 34 Zum prozeduralen Gedächtnis vgl. KÖLBL, Prozedurales Gedächtnis, S. 463-464; MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 222; TULVING, memory systems, S. 394. 35 Zum impliziten Gedächtnis vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 211, 263-264. 36 Ein häufig zitiertes Beispiel für die automatische Arbeitsweise dieses Systems ist das Autofahren. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was wir zuerst tun müssen, wenn wir während der Fahrt vom zweiten in den dritten Gang schalten wollen, antworten die meisten Autofahrer fälschlicherweise mit »Kupplung drücken«. Tatsächlich muß zuerst der rechte Fuß vom Gaspedal genommen werden. Vgl. hierzu MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 81. 37 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24-30. Daß implizite Gedächtnisinhalte wesentlich resistenter gegen Verzerrungen und Schädigungen sind, belegt Schacter am Beispiel eines Patienten, dem nahezu vollständig die Fähigkeit abhanden gekommen war, sich an etwas zu erinnern, der aber nach wie vor ein glänzender Golfspieler war und mit einer bemerkenswerten Selbstverständlichkeit nicht nur über die Technik und das Körperwissen, sondern auch über die © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt 35 »Fahrradfahren verlernt man nicht!« –, sind sie für die vorliegende Untersuchung weder inhaltlich von Interesse, noch läßt sich ihre Anwendung – vom unbewußten Einsatz der Sprache abgesehen – in den Interviewgesprächen nachweisen. Einen aus Sicht der Fragestellung wesentlichen größeren Stellenwert besitzen dagegen jene Inhalte, die dem episodischen wie dem semantischen Gedächtnis zugeordnet werden. Dabei handelt es sich vor allem um allgemeines Wissen (semantisch) sowie um Informationen über die eigene Biographie (episodisch), die sowohl für die Rekonstruktion der Lebensgeschichte der Zeitzeugen, als auch für die retrospektive Interpretation der historischen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 von allergrößter Bedeutung sind. Das semantische Gedächtnis, das von der Forschung neuerdings auch als ›Weltwissen‹ oder ›Wissenssystem‹ bezeichnet wird, bezieht sich dabei auf jenen Teil des Langzeitgedächtnisses, der kontextunabhängiges und damit rein gegenwartsbezogenes Wissen über wertneutrale Fakten wie etwa eine mathematische Formel bewahrt.38 Es enthält unter anderem die Bedeutung von Wörtern und sprachlichen Symbolen, linguistische Regeln sowie unser allgemeines Wissen über die Fakten in der Welt, zum Beispiel daß die Hauptstadt Italiens Rom heißt oder Fledermäuse Säugetiere sind.39 Gemeinsam mit dem episodischen Gedächtnis bildet es das deklarative Gedächtnissystem, worunter man jenen Teil des Langzeitgedächtnisses versteht, der dem Individuum bewußt über die Sprache zugänglich ist.40 Im Unterschied zu dem auf zeitlich-räumliche Einordnung beruhenden episodischen Gedächtnis werden die Inhalte des semantischen Gedächtnisses jedoch ohne einen räumlich-zeitlichen Bezug gespeichert.41 Semantisches Wissen zeichnet sich durch ein hohes Maß an Strukturiertheit und Organisiertheit aus, vor allem aber dadurch, daß es im Gegensatz zu episodischen Inhalten unabhängig von spezifischen Lernerfahrungen und -kontexten lange Zeit erhalten bleibt, unter Umständen das ganze Leben lang.42 zugehörigen Fachausdrücke verfügte – jeweils während des aktuellen Spiels, danach nicht mehr. Vgl. hierzu SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 221-225. 38 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 82; MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 34. 39 Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 58. 40 Vgl. KÖLBL, Deklaratives Gedächtnis, S. 115; TULVING, memory systems, S. 389-390; dens., Episodic and semantic memory, S. 383; WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 171. 41 Vgl. SCHERMER, Semantisches Gedächtnis, S. 533-534. 42 Vgl. FLOREY, Die Zeit und das Denken, S. 96; KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 519. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 36 Gedächtnis und Erinnerung Abbildung 1: Die vier Systeme des Langzeitgedächtnisses Gedächtnis deklaratives Gedächtnissystem (bewußt) implizites, non-deklaratives Gedächtnissystem (unbewußt) Wissens- Episodisches Prozedurales system Gedächtnis Gedächtnis Priming Mein erstes Treffen mit Gerd H2O = Wasser 2 2 a +b =c 2 Mein Abschlußball Rom = Hauptstadt von Italien Quelle: MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 189. Im Unterschied zum semantischen Gedächtnis, das in seiner basalen Form und Funktion auch bei Tieren anzutreffen ist, ist das episodische Gedächtnis ausschließlich menschlicher Natur, weil es ein Bewußtsein über die Vergangenheit voraussetzt.43 Mit dem Merkmal des Vergangenheitsbewußtseins, das das episodische Gedächtnis sowohl auf Verhaltens- als auch auf Hirnebene zur komplexesten Form des Gedächtnisses macht,44 hängen zwei weitere Eigenschaften zusammen: Episodische Gedächtnisinhalte sind zum einen kontextgebunden, das heißt, daß die Informationen über Zeit und Ort des zu erinnernden Ereignisses verfügbar sind, zum 43 Vgl. KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 519; NELSON, Erzählung und Selbst, S. 248. 44 Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 33. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt 37 anderen sind sie auf die eigene Person bezogen.45 Beim Abruf von Informationen wie der Name der Hauptstadt Italiens fehlt dieser persönliche Bezug. Es handelt sich hierbei um semantisches Wissen. Versucht man jedoch, sich zu erinnern, wann und wo man gelernt hat, daß Rom die Hauptstadt Italiens ist, wird das episodische Gedächtnis beansprucht.46 Episodische Inhalte beziehen sich folglich auf konkrete Erlebnisse oder Ereignisse, die im Gegensatz zu semantischen Gedächtnisinhalten nicht wertneutral sind, sondern eine affektive Konnotation aufweisen und von dem Phänomen begleitet sind, daß wir uns dessen bewußt sind, daß wir uns erinnern.47 Diese Dimension wird von den Neurowissenschaften als ›autonoetisch‹ beziehungsweise als ›erfahrungsbewußt‹ bezeichnet. Noetisches Erinnern hingegen umfaßt persönliches Wissen, das jedoch weder ein Wiedererleben noch eine »mentale Zeitreise«48 in die Vergangenheit erlaubt. Diese Differenz zwischen Wissen (noetisch) und Erinnern (autonoetisch) macht den zentralen Unterschied zwischen dem semantischen und dem episodischen Gedächtnis aus.49 Jener Teil des episodischen Gedächtnisses, der sich auf Erlebnisse der eigenen Person bezieht, wird von den Neurowissenschaften als autobiographisches Gedächtnis bezeichnet.50 Hervorstechende Merkmale des autobiographischen Gedächtnisses 45 Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 82-83; MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 223-224; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 24. 46 Vgl. PARKIN, Gedächtnis, S. 37-56; SCHACTER, Aussetzer, S. 49; TULVING, Episodic and semantic memory, S. 381-403; VATERRODT-PLÜNNECKE, Episodisches Gedächtnis, S 142-143. 47 Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 36. 48 Tulving zitiert nach MARKOWITSCH, Autobiographisches Gedächtnis aus neurowissenschaftlicher Sicht, S. 188. 49 Vgl. MARKOWITSCH, Bewußte und unbewußte Formen des Erinnerns, S. 223-224; NELSON, Erzählung und Selbst, S. 248; TULVING, Das episodische Gedächtnis, S. 50-54-58. 50 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 82; GISBERT, Das autobiographische Gedächtnis, S. 26-29; WEBER, Autobiographisches Gedächtnis, S. 67-68. In der Gedächtnisforschung ist die inhaltliche Zuordnung des autobiographischen Gedächtnisses überaus umstritten. Auf der einen Seite stehen Neurowissenschaftler wie MARKOWITSCH (Autobiographisches Gedächtnis aus neurowissenschaftlicher Sicht, S. 188 sowie ders., Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 35.), die davon ausgehen, daß das autobiographische Gedächtnis Bestandteil des episodischen ist. Auf der anderen Seite vertritt der Sozialpsychologe Harald WELZER (Das kommunikative Gedächtnis, S. 144 sowie Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 182-184) die These, daß das autobiographische Gedächtnis keineswegs als Spezialfall des episodischen Gedächtnisses anzusehen ist, sondern als ein übergeordnetes System, das sich im Wechselspiel von episodischen, semantischen, prozeduralen und Priming-Gedächtnisfunktionen herausbildet und erhält. Dem-zufolge kommt dem autobiographischen Gedächtnis die Aufgabe zu, die in den unterschiedlichen Gedächtnissystemen bearbeiteten Gedächtnisfunktionen zu synthetisieren und beständig auf das Selbst zurückzubeziehen. Da Welzers These in der Gedächtnisforschung weit weniger Zustimmung findet als die herkömmliche Definition der Neurowissenschaften und sich zudem mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, ein veraltetes Gedächtnisverständnis zugrunde zu legen – so die Auffassung von Markowitsch und Tulving –, schließt sich die vorliegende Darstellung dem traditionellen Befund an, © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 38 Gedächtnis und Erinnerung sind seine Selbstbezogenheit – es geht nicht um Dinge, die irgendwo irgendwann irgendwem geschehen sind, sondern um Ereignisse, die in irgendeiner Weise mit mir zu tun haben.51 Autobiographische Inhalte sind demnach nicht nur in gewußter, sondern auch in affektiver Form repräsentiert und abrufbar. Im ersten Fall handelt es sich um ich-bezogene Informationen, zum Beispiel das eigene Geburtsdatum, das wir nur aufgrund von Berichten anderer kennen. Neben diesem gewußten Selbstbezug existiert die Form des emotionalen Erlebens selbstbezogener Erinnerungen. Der Erinnerungsprozeß ist hier von einem Gefühl des Bereits-gehabt-Habens und des Wiedererkennens begleitet. Wir verspüren eine Vertrautheit zu dem erinnerten Geschehen und sind fest davon überzeugt, daß sich das Erinnerte genauso zugetragen Abbildung 2: Eigenschaften des semantischen, episodischen und autobiographischen Gedächtnisses Eigenschaft Gedächtnisart semantisches episodisches Gedächtnis Selbstbezug gering und selten Gedächtnis gering Gedächtnis hoch Gefühl des Sich-Erin- selten vorhanden persönliche Interpretation selten selten häufig vorhanden Veridikalität sozialer Konsens hoch unterschiedlich nerns Dauerhaftigkeit kontextspezifische sens- orische und perzeptuelle bedeutsam Jahre normalerweise, aber autobiographisches nicht immer vorhanden immer vorhanden nie vorhanden immer vorhanden Tage Jahre möglich, aber selten häufig vorhanden häufig vorhanden immer vorhanden Attribute Imagery Quelle: GRANZOW, Das autobiographische Gedächtnis, S. 20. hat, wie es von uns erinnert wird. Dieses Gefühl des Wiedererlebens und die Überzeugung, daß es sich um eine wahrheitsgemäße Erinnerung an ein Ereignis aus der eigenen Vergangenheit handelt, wird als ›Imagery‹ bezeichnet und ist bei autobiographisch-episodischen Informationen wesentlich stärker ausgeprägt als bei semantischen.52 wonach das autobiographische Gedächtnis dem episodischen zuzuordnen ist. Allerdings darf an dieser Stelle der Hinweis nicht fehlen, daß die Grenzen zwischen den einzelnen Subsystemen des Langzeitgedächtnisses fließend sind und eine eindeutige Abgrenzung kaum möglich ist. 51 Vgl. WELZER, Was ist das autobiographische Gedächtnis, S. 169. 52 Vgl. GRANZOW, Das autobiographische Gedächtnis, S. 20; JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 45; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 11-13; NELSON, Über Erinnerungen reden, S. 78-92. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Unterteilung des Gedächtnisses nach dem Inhalt 39 Wie aus den bisherigen Erörterungen ersichtlich wird, sind die Grenzen zwischen dem semantischen und dem episodisch-autobiographischen Gedächtnis keineswegs immer eindeutig bestimmbar, zumal beide Systeme deklarativer Natur sind und eng miteinander zusammenhängen.53 Episodisch-autobiographischen Ursprungs sind Zeitzeugenberichte vor allem dann, wenn sich die Befragten auf die bereits erwähnte mentale Zeitreise begeben und eine Episode aus ihrer Vergangenheit schildern, beispielsweise wie sie als Angehörige der 6. Armee während ihrer Zeit in Stalingrad einen »Wahnsinnshunger«54 erleiden mußten: »Sie kamen auf die ausgefallensten Ideen. Da wurde gescharrt, ob irgendwo noch ein Grasbüschel zu … zu ergattern war, oder sie haben … ich war zum Beispiel Nichtraucher, ich hab zum Beispiel auf Zigarren gekaut, nicht, die ich nie in meinem Leben geraucht hätte oder überhaupt in den Mund genommen hätte, um nur … nur um das Hungergefühl zu töten.«55 Als semantisch sind dagegen all jene Aussagen einzustufen, in denen Fakten dargelegt werden, die den Betroffenen zum Zeitpunkt des Erlebens nicht bekannt gewesen sein können und erst im Nachhinein erworben wurden, beispielsweise die Angabe, daß »in den letzten neun Monaten nach dem 20. Juli [1944] mehr Menschen, Soldaten und Zivilisten umgekommen sind als in den fünf Jahren zuvor.«56 Gleiches gilt auch für solche Passagen, in denen die historischen Geschehnisse aus der heutigen Situation heraus moralisch oder in sonstiger Hinsicht bewertet werden, beispielsweise die Beurteilung des Untergangs der 6. Armee in Stalingrad als »größte[n] Fehler einer militärischen Führung« oder als »größte Schweinerei des Jahrhunderts«57. 1.4 Die Veridikalität von Erinnerungen Wenn das Gedächtnis nun nicht, wie lange Zeit angenommen, wie ein Speicher funktioniert, aus dem Informationen eins zu eins abgerufen werden, sondern vielmehr ein konstruktiv arbeitendes Netzwerk darstellt, müssen seine Leistungen als unzuverlässig und an vielen Stellen als fehlerhaft erachtet werden.58 Trotz dieser nicht zu bestreitenden Anfälligkeit für Verzerrungen und Verfälschungen läßt uns unser subjektives Bewußtsein keine andere Wahl, als unsere Erinnerungen grundsätzlich für wahr zu halten, denn erst sie bilden das Fundament für all unsere Erfah- 53 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 25. Int. 01067, S. 14. 55 Int. 00057, S. 29. 56 Int. 01183, S. 28. 57 Int. 01298, S. 19. 58 Vgl. SCHACTER, Memory Distortion, S. 103 54 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 40 Gedächtnis und Erinnerung rungen, Beziehungen und vor allem für das Bild unserer eigenen Identität.59 Objektiv betrachtet ist in den meisten Fällen die Veridikalität einer Erinnerung nur äußerst schwer überprüfbar, da häufig keine vergleichbaren Informationen und Quellen über persönliche Lebensereignisse existieren.60 Dies gilt in besonderem Maße für die vorliegenden Interviewberichte, deren Wahrheitsgehalt aufgrund fehlender Vergleichsmöglichkeiten meist nur schwer überprüfbar ist, vor allem, wenn die Befragten über ihre damaligen Ansichten und Einstellungen berichten und etwa behaupten, dem Nationalsozialismus von Anfang an skeptisch gegenübergestanden oder schon frühzeitig erkannt zu haben, daß der Krieg für Deutschland verloren gehen würde. Dennoch lassen sich verschiedene Verformungskräfte und -prozesse benennen, die auf unsere Erinnerungen einwirken. An erster Stelle steht dabei das, was allgemein hin als Vergessen bezeichnet wird, also jener Prozeß, der bewirkt, daß bereits einmal im Gedächtnis abgelegte Informationen scheinbar wieder verloren gehen. Eine Steigerung erfährt das Vergessen in den unterschiedlichen Mechanismen der Verdrängung, die insbesondere nach traumatischen Ereignissen wirksam werden. Darüber hinaus existiert ein drittes Phänomen, das in der Forschung als False-Memory-Syndrom bezeichnet wird und verschiedene Formen der Verzerrung und Verfälschung von Gedächtnisinhalten abseits von Vergessen und Verdrängen beinhaltet. Für alle drei genannten Verformungskräfte gelten unterschiedliche Bedingungsfaktoren, welche die Veridikalität einer Erinnerung maßgeblich beeinträchtigen, zum Beispiel der Zeitabstand zwischen einem Ereignis und seiner Erinnerung, der Kontext, in dem sich ein Gedächtnisabruf vollzieht, oder das Alter der sich erinnernden Person. 1.4.1 Erinnern und Vergessen Die Kapazität des menschlichen Gedächtnisses erscheint begrenzt, zumindest aber sind alle Informationen, die von unserem Gehirn jemals aufgenommen und verarbeitet worden sind, nicht zum selben Zeitpunkt in gleichem Maße verfügbar. Solch eine totale Erinnerung wäre für unser Gehirn nicht zu bewältigen. Der Mensch könnte von all den Eindrücken, die er wahrnimmt, nicht sonderlich viel behalten, wenn er nicht gleichzeitig anderes wieder vergäße.61 Vergessen ist ein konstruktiver Prozeß, der zum einen in ›negativer‹ Hinsicht die aufgenommenen Sinneseindrücke verformt und gewichtet und aus ihrer Fülle dasjenige aussortiert, wessen es nicht zu bedürfen meint. Zum anderen kommt dem Vergessen aber auch eine entlastende Funktion zu, die darin besteht, das Gedächtnis von einschnürenden und beklemmenden Erinnerungen zu befreien und ihm dadurch zu neuer geistiger Vitalität zu ver- 59 Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen, S. 103-104, 109. Vgl. WEBER, Autobiographisches Gedächtnis, S. 69. 61 Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 325-326. 60 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 41 helfen.62 Vor diesem Hintergrund ist es völlig unzutreffend, Erinnern und Vergessen, wie allgemein hin angenommen wird, als Gegensatz zu betrachten, denn beide bilden eine zusammenhängende Funktion zur Bewältigung einer beinahe unendlichen Fülle an Informationen. Freilich lassen sich für die Auswahl der Sinneseindrücke und Inhalte keine festen Regeln aufstellen, zumal sie sowohl bewußt, begründet und gezielt, aber auch instinktiv und unbewußt erfolgen kann. Davon unabhängig sind es jedoch nicht nur unwichtige Informationen, die dem Vergessen anheimfallen, sondern ungewollt auch solche, die sich im Verlauf des Lebens als bedeutsam herausstellen.63 Mit der Unterscheidung zwischen der Selektion eintreffender Sinneseindrücke auf der einen und dem Entfernen bereits im Gedächtnis kodierter und abgelegter Erinnerungen auf der anderen Seite ist bereits angedeutet worden, daß dem Vergessensprozeß zwei verschiedene Funktionen zugeordnet werden. Im ersten Fall werden eintreffende Informationen erst gar nicht Bestandteil des Langzeitgedächtnisses, da sie bereits im Vorfeld dem Selektionsprozeß zum Opfer fallen. Ob bei solch einer Definition wirklich von Vergessen gesprochen werden kann, erscheint äußerst fragwürdig, da es sich hierbei um keine Form des Nicht-Erinnerns handelt, sondern um eine Auswahl, die vielmehr dem Wahrnehmungsprozeß, genauer gesagt den Selektionsmechanismen des sensorischen beziehungsweise des Kurzzeitgedächtnisses geschuldet ist. Weitaus zutreffender gestaltet sich hingegen die zweite Funktion, die Vergessen als Versagen des Abrufs von Informationen betrachtet, die sich bereits im Langzeitgedächtnis befinden.64 Der entscheidende Unterschied zur erstgenannten Definition besteht darin, daß das zu Vergessende hier zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal verfügbar gewesen ist und nicht erst kodiert und im Gedächtnis repräsentiert werden muß.65 Wenn eine bereits gespeicherte Information in einem bestimmten Moment nicht abrufbar ist und als vergessen erscheint, bedeutet das aber nicht zwangsläufig, daß sie nicht mehr vorhanden sein muß. Oftmals können andere Kontextbedingungen scheinbar Vergessenes doch noch ans Tageslicht befördern. Einen Beweis, daß etwas endgültig vergessen worden ist, gibt es daher nicht. Ob und wie weit solch scheinbar vergessene Informationen später abrufbar sind, ist von einer Vielzahl meist unbestimmbarer Faktoren abhängig, beispielsweise vom Zeitabstand zwischen einem Ereignis und seinem Abruf. Der sogenannten Vergessenskurve läßt sich entnehmen, daß in der ersten Stunde nach der Wahrnehmung einer Information der größte Erinnerungsverlust eintritt. Die Geschwindigkeit des Vergessens verlangsamt sich mit zunehmender Zeit. Parallel dazu laufen im Gedächtnis verschiedene Konstruktionsprozesse ab, die zu einer Veränderung des ursprüng62 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 113-114. Vgl. POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 37-41; RICOEUR, Das Rätsel der Vergangenheit, S. 131-132. 64 Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 78; vgl. WERBER, Vergessen / Erinnern, S. 84. 65 Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 108. 63 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 42 Gedächtnis und Erinnerung lichen Erlebnisses auf der Basis von vorhandenem Wissen und von Erfahrungen führen.66 Im Ergebnis bleibt festzustellen, daß Erinnern und Vergessen miteinander korrespondieren. Als erinnert kann eine Information dann gelten, wenn sie gedanklich wieder oder weiterhin zu Verfügung steht, als vergessen, wenn gedanklich nicht mehr auf sie zugegriffen werden kann.67 Daß insbesondere Zeitzeugen des Nationalsozialismus, die über Erlebnisse berichten, die mehr als 50 Jahre zurückliegen, anfällig für das Vergessen von Informationen sind, liegt auf der Hand. Bei welchen Erinnerungsinhalten dies mehr oder minder der Fall ist und welche Faktoren dies bedingen, ist in Abschnitt 1.4.4 noch näher zu erörtern. 1.4.2 Erinnern und Verdrängen Die Erinnerungen mancher Menschen sind in einer Art und Weise unzugänglich, die weit über das Maß des Vergessens hinausgeht.68 Speziell Opfer traumatischer Erfahrungen, zum Beispiel Personen, die vergewaltigt oder entführt worden sind, die also unbeschreibliche Schrecken durchlebt haben, sind oftmals dermaßen gekennzeichnet, daß sie diese gravierenden Erlebnisse verdrängt haben. Verdrängung wird in der klassischen psychoanalytischen Theorie als Schutzmechanismus aufgefaßt, der dafür sorgt, daß jene Ereignisse aus dem Gedächtnis ausgeschlossen werden, die als zu furchterregend, zu demütigend oder zu beschämend empfunden werden, als daß ihre Erinnerung psychisch bewältigbar wäre.69 Als traumatisch werden Erinnerungen im psychologischen Sinne dann bezeichnet, wenn sie angesichts ihrer extrem emotionalen Intensität die Lebensgeschichte beziehungsweise das subjektive Zeitbewußtsein eines Menschen nachhaltig stören und daher nicht hinreichend verarbeitet werden können. Dies bedeutet, daß das traumatische Ereignis als derart schwerwiegend empfunden wird, daß es zunächst verdrängt werden muß und solange latent bleibt, bis es durch einen späteren Anlaß wieder hervortritt.70 Verdrängte Informationen sind folglich keineswegs für immer verloren, sondern lediglich für einen bestimmten Zeitraum nicht verfügbar.71 Etwas anders geartet sind extrem negative und belastende Lebensereignisse besonderen Ausmaßes, die einen Gedächtnisverlust hervorrufen können, der als ›psychogene Amnesie‹ bezeichnet wird. Ein solcher Gedächtnisverlust kann auf ein spe- 66 Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 623-624. Vgl. BRUCK/FENNER, Erinnern und Vergessen im Forschungsprozeß, S. 108. 68 Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen?, S. 104. 69 Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 7; VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 625. 70 Vgl. NOLTE, Das Trauma des Genozids, S. 88. 71 Vgl. ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 85; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 75-78. 67 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 43 zielles Ereignis begrenzt sein oder sich auf die gesamte Persönlichkeit beziehen.72 Bestes Beispiel für solch eine belastende Erfahrung sind Ereignisse wie Krieg oder Völkermord, die bei vielen Überlebenden zu traumatischen Reaktionen und Verdrängungsprozessen führen können. Oftmals sehen die Opfer in der Vermeidung der Erinnerung des Erlebten die einzige Möglichkeit, der überwältigenden Pein der Ereignisse zu entfliehen, denn jeder Gedanke an das Geschehene würde eine zu große psychische Belastung für sie darstellen.73 Andere hingegen stehen unter einem derart starken Einfluß des Erlebten, daß sie auch nach Jahren oder Jahrzehnten regelrecht in der Vergangenheit stecken bleiben.74 In solchen Fällen sprechen Psychologen von ›Hypermnesie‹ – einer Krankheit, bei der Menschen von einem fast schon überscharfen und mit starkem Affekt geladenen Erinnerungsvermögen heimgesucht werden, das oftmals tiefgreifende seelische Erschütterungen nach sich zieht.75 Angesichts der Auswirkungen, die die geschilderten Verdrängungsmechanismen auf das Gedächtnis ausüben können, stellt sich die Frage nach der Zuverlässigkeit der Erinnerungen traumatisierter Menschen. Einige Forscher sind zu der Auffassung gelangt, daß Erinnerungen an traumatische Ereignisse äußerst detailliert und möglicherweise sogar für immer erhalten bleiben und sich daher grundsätzlich von Erinnerungen an herkömmliche Erlebnisse unterscheiden. Ihrer Argumentation zufolge wird bei psychischen Traumata der innerste Kern einer Erfahrung dauerhaft und oft erstaunlich genau bewahrt. Gedächtnistäuschungen betreffen hier, wenn sie denn auftreten, fast immer nur bestimmte Einzelheiten.76 Andere Forscher stellen hinge- 72 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 136; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 40-41. 73 Vgl. BAUMBACH, Die Verfolgung Hamburger Juden, S. 14-15; ROTH, Trauma, Repräsentation und historisches Bewußtsein, S. 170-171. 74 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 276-277. 75 Vgl. MANN, Validitätsprobleme retrospektiver Interviews, S. 364. 76 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 331-337. Einen Beleg für die Zuverlässigkeit traumatischer Erinnerungen scheint die Studie von Willem WAGENAAR und Jop GROENEWEG (The memory of concentration camp survivors, S. 77-87) zu liefern. Die beiden Psychologen machten die Erinnerungen von Insassen des Lagers Erika, eines holländischen Gefängnisses, das während der deutschen Besetzung 1942/43 in ein Konzentrationslager umgewandelt worden war, zum Gegenstand einer Studie. Nachdem das Lager aufgelöst worden war, hatte die holländische Polizei viele der Überlebenden befragt, die ihre Erinnerungen an die Mißhandlungen, Folterungen und Morde schilderten. Vierzig Jahre später befragten Wagenaar und Groeneweg einige der Überlebenden erneut und verglichen ihre Aussagen mit denen, die sie nach ihrer Befreiung gegenüber der holländischen Polizei gemacht hatten, mit dem Ergebnis, daß sich ihre Erinnerungen im allgemeinen mit ihren früheren Aussagen als weitgehend identisch erwiesen. Die meisten Insassen machten übereinstimmende Angaben über die Foltermethoden und die schreckliche Behandlung der jüdischen Häftlinge. Alle erinnerten sich an zentrale Merkmale des Lagers und an wichtige Geschehnisse. Doch bei einzelnen Ereignissen und Fakten kamen Vergessen und Gedächtnistäuschungen ins Spiel, speziell bei der Frage des Einlieferungsdatums. Auf der Basis solcher Ergebnisse scheint vieles dafür zu sprechen, daß Erinnerungen an psychische Traumata tatsächlich sehr häufig zuverlässiger sind als Erinnerungen an herkömmliche Erlebnisse. In methodischer Hinsicht © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 44 Gedächtnis und Erinnerung gen den Faktor Streß in den Vordergrund, der bei den Betroffenen infolge traumatisierender Ereignisse ausgelöst wird und die Genauigkeit ihrer Wahrnehmung und daraus resultierend auch ihrer Erinnerungen beeinträchtigt. Situationen, die als streßhaft oder traumatisch erlebt werden, können auf Hirnebene Kaskaden von Streßhormonen freisetzen, die den normalen Informationsfluß und damit den Zugang zu bereits abgelegten Informationen beziehungsweise die Aufnahme neuer Informationen blockieren.77 In einer Untersuchung mit 23 entführten und 16 Stunden festgehaltenen Schulkindern, die vier bis fünf Jahre nach dem Ereignis befragt wurden, wurde eine überraschend hohe Quote von falschen Erinnerungen festgestellt, die auf eine verzerrte oder extrem eingeschränkte Wahrnehmung während der Ereignisse selbst zurückzuführen ist.78 In eine ähnliche Richtung weisen auch Studien mit Kriegsveteranen, die in Mann-Gegen-Mann-Kämpfe verwickelt gewesen waren und nachfolgend über kognitive Störungen, insbesondere Gedächtnisschwund klagten. Die Betroffenen wiesen auffallende Schrumpfungen im Bereich des Hippocampus auf – jener Struktur, die für die Informationsübertragung in das Langzeitgedächtnis verantwortlich ist.79 Diese und andere Studien belegen, daß unsere Umwelt und insbesondere der Grad der Streßhaftigkeit, unter dem Informationen aufgenommen beziehungsweise abgerufen werden, unsere Gedächtnisleistung signifikant beeinflussen. In Anbetracht der genannten Befunde sind berechtigte Zweifel angebracht gegenüber der Annahme, Erinnerungen an traumatische Ereignisse seien präziser oder gar authentischer als in gewöhnlichen Fällen. Auch wenn durchaus einzelne Aspekte zuverlässig rekonstruierbar sind, unterliegen sie insgesamt denselben auf- weist die Studie Wagenaar und Groeneweg jedoch erhebliche Mängel auf. Mit ihrem Untersuchungsansatz konnten die beiden Psychologen lediglich belegen, daß die Erinnerungen der Insassen ein hohes Maß an Reliabilität aufwiesen, da sie über vierzig Jahre hinweg stabil geblieben waren. Daß sie gleichzeitig aber auch valide waren, das heißt den tatsächlichen Ereignissen innerhalb des Lagers entsprochen haben, ist damit keineswegs erwiesen, schließlich ist es durchaus vorstellbar, daß die Angaben, die die Insassen drei Jahre nach ihrer Befreiung gegenüber der holländischen Polizei gemacht hatten, bereits Verzerrungen und Verfälschungen unterworfen waren. 77 Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 46. 78 Vgl. hierzu ausführlich TERR, Unchained memories. 79 Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 44. Im 20. Jahrhundert wurden die negativen Folgen traumatischer Erfahrungen für das Gedächtnis und andere psychische Funktionen erstmals während des Ersten Weltkriegs erkannt. Die Ärzte begannen Fälle des sogenannten Granatenschocks zu behandeln – Soldaten, die auf den Schlachtfeldern Europas lebensgefährliche Situationen durchlebt hatten, waren durch ständig wiederkehrende Alpträume und intrusive Erinnerungen an ihre Begegnungen mit dem Tod wie gelähmt. Mit dem Zweiten Weltkrieg kam es zu einer weiteren Zunahme solcher Fälle, doch dieses psychische Leiden, das wir heute posttraumatische Belastungsstörung nennen, wurde von der medizinischen Zunft offiziell erst nach dem Ende des Vietnamkrieges anerkannt. Krankenhäuser und andere Institutionen wurden überflutet mit Fällen, in denen intrusive Kriegserinnerungen und stetig wiederkehrende, von Schlachtenbildern gespeiste Alpträume die Fähigkeit der Opfer beeinträchtigten, ihr Leben in der Heimat fortzusetzen und sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 275. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 45 bewahrungsspezifischen Einschränkungen wie Erinnerungen an weniger belastende Ereignisse.80 Mit Blick auf das vorliegende Zeitzeugensample stellt sich nun die Frage, inwiefern die vom ZDF befragten Personen als traumatisiert einzustufen sind – eine Frage, die von einem Nicht-Psychologen, der der Historiker nun mal ist, nur schwer beantwortet werden kann. Freilich enthalten die vorliegenden Erzählungen zahlreiche Aussagen, in denen die befragten Zeitzeugen bestimmte Erlebnisse als »traumatisch«81 erachten, beispielsweise Gefechtssituationen, die Vertreibung aus der Heimat, die Zeit der Kriegsgefangenschaft oder das Erleben des Holocaust:82 »Zunächst möcht’ ich einmal sagen, daß ich mit großer Beklemmung mit diesem Thema [dem Holocaust, Anm. des Autors] vor die Kamera trete hier. Die Dinge, über die ich sprechen werde, liegen sechzig Jahre zurück, aber das Trauma ist geblieben. Das zunächst. Ich bin sechsmal mit der geheimen Staatspolizei, Gestapo, unfreiwillig natürlich, zusammengekommen in Anführung. 1933, 1935, 1939, 1941 und zweimal 1944. 1933, ziemlich am Anfang im Mai oder Juni klingelte es morgens um sechs an der Tür. […]«83 Obwohl sich solche Passagen, in denen Zeitzeugen bestimmte Erlebnisse als traumatisch einstufen, häufiger beobachten lassen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, daß hier auch wirklich ein akutes Trauma im medizinischen Sinne vorliegt, zumal sich die Befragten trotz einer solchen Selbstdiagnose dazu in der Lage sehen, über Themen, die sie als belastend empfinden, vor der Fernsehkamera Auskunft zu geben. Ob in solchen Fällen, wie von dem Zeitzeugen behauptet wird, wirklich ein Trauma vorliegt, oder ob es sich um ein ›ehemaliges‹, mittlerweile überwundenes Trauma handelt, also um eine Erfahrung, die lange Zeit verdrängt wurde, inzwischen aber wieder zugänglich ist – »Ich habe viele Jahre, man kann sagen Jahrzehnte, unter einem Trauma des DRKEinsatzes Zerstörung Dresden und der Militäreinsätze zu leiden, hatte Schwierigkeiten, darüber zu sprechen. Vor einigen Jahren hätte ich dieses Interview heute nicht führen können«84. 80 Vgl. LEDOUX, Das Netz der Gefühle, S. 263; SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 349351; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 35. 81 Int. 01255, S. 28. 82 Vgl. Int. 00014, S. 22; Int. 00030, S. 9-10; Int. 01058, S. 3; Int. 01074, S. 15; Int. 01095, S. 30; Int. 01100, S. 5-6; Int. 01111, 2003, S. 4-5; Int. 01139, S. 27; Int. 01262, S. 30; Int. 01291, S. 10, 26; Int. 01316, S. 8; Int. 01360, S. 15; Int. 01378, S. 2; Int. 02103, S. 3; Int. 02128, S. 3; Int. 02177, S. 6; Int. 02459, S. 30-31; Int. 03032, S. 21; Int. 03144, S. 8; Int. 03215, S. 7; Int. 03310, S. 8; Int. 03380, S. 18; Int. 03398, S. 26. 83 Int. 02087, S. 1. 84 Int. 03502, S. 5. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 46 Gedächtnis und Erinnerung –, läßt sich aus Sicht des Historikers nicht endgültig beantworten. Eine solche Diagnose wäre selbst für einen Arzt oder Psychiater auf der Basis eines Zeitzeugeninterviews kaum möglich, da solche Interviews unter gänzlich anderen Voraussetzungen geführt werden als therapeutische Gespräche.85 Ein Hauptunterschied liegt in dem nicht-therapeutischen Zweck, dem Erinnerungsinterviews dienen. Hinzu kommt, daß die Initiative zum Gespräch nicht im Leidensdruck der Befragten ihren Ausgangspunkt findet, sondern vom Forschenden beziehungsweise im vorliegenden Fall von den Redakteuren des ZDF ausgeht, durch deren Fragestellung und Interessen das einzelne Interview letztlich bestimmt wird. Ein weiterer Unterschied zur Therapie besteht in dem fehlenden Veränderungswunsch des Befragten. Zeitzeugen sind keine Klienten oder Patienten, die sich aufgrund psychischer Probleme um fachkundige Hilfe bemühen.86 Es liegt auf der Hand, daß derartige Interviews folglich auch keine therapeutisch heilende Wirkung erzielen können, sie ermöglichen es unter Umständen aber, daß der Befragte die Möglichkeit, seine eigene Geschichte einer ihm zuvor unbekannten Person erzählen zu können, als Entlastung empfindet.87 1.4.3 Erinnern und Verfälschen: Das False-Memory-Syndrom Neben den geschilderten Vergessensprozessen und Verdrängungsmechanismen, denen verschiedene Gedächtnisinhalte anheimfallen können, existiert ein weiteres Phänomen, das einen originalgetreuen Abruf aus dem Gedächtnis erschwert: das ›False-Memory-Syndrom‹. False memory bezeichnet den Unterschied zwischen real gemachten Erfahrungen auf der einen und ihrer veränderten Erinnerung auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu den beiden erstgenannten Phänomenen sind die Differenzen von Input und Output einer Informationen hier jedoch nicht auf zwischenzeitliche Prozesse der Verdrängung, der Selektion oder des Informationsverlusts zurückzuführen, sondern liegen in den verschiedensten Formen der Verfälschung oder Verzerrung begründet.88 Eines der in der Gedächtnisforschung sehr häufig zitiertes Beispiele für solch eine Verzerrung sind die Aussagen des Zeugen John Dean89 im Zusammenhang mit dem Watergate-Skandal, die trotz ihrer detaillierten und mit exakten Zeit- und Ortsangaben versehenen Erinnerungen sich 85 Vgl. JUREIT, Flucht und Ergreifung, S. 229-230. Vgl. JUREIT, Erinnerungsmuster, S. 53. 87 Vgl. BAUMBACH, Die Verfolgung Hamburger Juden, S. 14-15. 88 Vgl. ECHTERHOFF, false memory, S. 165-166. 89 John Dean (geb. 1938) war der Rechtsberater von Richard Nixon und gehörte zum innersten Kreis des US-Präsidenten. Dean war eine der Schlüsselfiguren im sogenannten Watergate-Skandal. Anfangs dem Präsidenten loyal ergeben und eine der Personen, die die Vertuschung der Affäre vorantrieb, wechselte er am Ende die Fronten und wurde Hauptbelastungszeuge der Anklage, nachdem Nixon versucht hatte, ihn zum Sündenbock der Affäre zu stempeln. Zum Watergate-Skandal vgl. Stanley L. KUTLER, The Wars of Watergate. 86 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 47 allesamt als falsch erwiesen, nachdem sie mit den später veröffentlichten Tonbandmitschnitten der entsprechenden Gespräche verglichen worden waren. Interessanterweise waren Deans allgemeine Schlußfolgerungen und Situationsinterpretationen trotz der faktischen Fehlerinnerung bestimmter Details inhaltlich weitgehend korrekt, was belegt, daß Erinnerungszeugnisse trotz ihrer Anfälligkeit für Verzerrungen und Verfälschungen nicht völlig an den ursprünglich gemachten Erlebnissen vorbeigehen.90 In welcher Form und Intensität false memories letztlich auftreten, ist von Fall zu Fall verschieden und von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig. Am häufigsten anzutreffen sind Verzerrungen, bei denen episodisch-autobiographische Inhalte durch äußere Einflüsse wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen oder andere externe Informationsquellen unbewußt angereichert und verändert werden.91 Speziell beim Thema Nationalsozialismus üben öffentliche Formen des Erinnerns und Vergessens sowie damit verbundene gesellschaftliche Be- und Entlastungsstrategien, wenn auch unbewußt, einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Zeitzeugen aus.92 Gleichzeitig werden ihre Erinnerungen durch Erzählungen anderer Menschen angereichert, die zur selben Zeit ähnliche Erfahrungen gemacht haben, beispielsweise Veteranen, die während des Krieges im selben Frontabschnitt gekämpft haben.93 In extremen Fällen kommt es zu sogenannten Konfabulationen, einer künstlichen Ausweitung des eigenen Erinnerungsrepertoires durch Inhalte, die ausschließlich von außen, etwa durch den Selektions- und Umwandlungsfilter einer anderen erzählenden Person hindurch unbewußt hinzugefügt werden.94 Solch eine Integration von Fremderzählungen in die eigene Erinnerung ist selbst dann möglich, wenn der Betroffene das Erzählte selbst gar nicht erlebt hat.95 Bestes Beispiel sind die Aussagen von Zeitzeugen, die bei den Luftangriffen auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 vor Ort gewesen sind und von Tieffliegern berichten, die Jagd auf Menschen gemacht hätten – ein Mythos, der durch die Ergebnisse der historischen Forschung unlängst widerlegt werden konnte (vgl. Abschnitt 4.3.6). Gedächtnisforscher sprechen in solchen Fällen, bei denen man etwas zu erinnern meint, das einem in Wahrheit nie widerfahren ist, von kryptomnesischen Erinnerungen.96 Vor allem Kriegserinnerungen erzeugen bei manchen Veteranen so etwas wie einen ›Ich-war- 90 Die Episode von John Dean wird in zahlreichen Untersuchungen geschildert, so etwa bei FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 22-25, bei KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 53, bei MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 267-268, bei SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 185-186, oder bei WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 34-35. 91 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 94. 92 Vgl. WELZER/MONTAU/PLAß, »Was wir für böse Menschen sind«, S. 34. 93 Vgl. SCHRÖDER, Die Vergegenwärtigung des Zweiten Weltkriegs, S. 18. 94 Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 99. 95 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 91-92; SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 205-214; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 162. 96 Vgl. WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 162. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 48 Gedächtnis und Erinnerung dabei-Mythos‹. Hier verschmelzen Einbildung und Erinnerung auch bei denjenigen, die nie in Kampfhandlungen verwickelt waren. Dabei helfen Bilder, die sich ihnen durch Film und Fernsehen eingeprägt haben. Im autobiographischen Gedächtnis fließen dann Selbsterlebtes und später Erfahrenes ununterscheidbar zusammen.97 Eng verbunden mit solchen Erinnerungsverzerrungen sind Veränderungen, die durch später gewonnene Erkenntnisse und Faktenwissen zustande kommen. Sobald Menschen den Ausgang eines Ereignisses kennen, bekommen sie den Eindruck, als hätten sie schon immer gewußt, was geschehen würde.98 Gleiches gilt auch für Meinungen und Einstellungen zu politischen und sozialen Fragen, die im Laufe von Jahren und Jahrzehnten gewissen Veränderungen unterworfen sind. Rückblickend meinen viele zu glauben, ihre früheren Auffassungen hätten sich kaum von den gegenwärtigen unterschieden. Dieses Phänomen läßt sich damit erklären, daß Erinnerungen aufgrund ihres konstruktiven Charakters keine Konstante in der Zeit darstellen, sondern genauso wie Meinungen, Einstellungen und Anschauungen fortwährend verschiedensten Wandlungsprozessen unterworfen sind, weshalb es schwer fällt beziehungsweise unmöglich wird, zwischen einer ursprünglichen Information und später gewonnenen Einflüssen zu unterscheiden.99 Ganz besonders gilt dies für Sachinformationen über historische Vorgänge, die zum Zeitpunkt des Ereignisses beziehungsweise zum Zeitpunkt einer früheren Erinnerung an dieses Ereignis noch gar nicht bekannt gewesen sein konnten und das Geschehen im Nachhinein in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen.100 Bestes Beispiel hierfür wäre der Tag von Hitlers ›Machtergreifung‹ am 30. Januar 1933 oder der Kriegsausbruch am 1. September 1939. Was heute über diese Ereignisse und ihre Folgen allgemein bekannt ist, beispielsweise die Schrecken des Krieges, der Zerstörung und Vernichtung, ist für die meisten Zeitzeugen zum damaligen Zeitpunkt in dieser Dimension nicht absehbar gewesen, was jedoch nicht bedeutet, daß sie sich dieser Abweichung heute bewußt sein müssen.101 Vor diesem Hintergrund mag es kaum verwundern, wenn exakt dieselbe Begebenheit Jahre oder Jahrzehnte später in einem völlig anderen Licht erscheint als zum Zeitpunkt des Erlebens oder als zu einem früheren Erinnerungszeitpunkt.102 In verschiedenen psychologischen Untersuchungen ist festgestellt worden, daß derartige Verzerrungen auch dann auftreten, wenn man die Probanden ausdrücklich anweist, bei ihren Erinnerungen den tatsächlichen Ausgang eines Ereignisses außer Acht zu lassen. Derartige Befunde lassen den Schluß zu, daß das Wissen um ein zurückliegendes Ereignis augenblicklich mit anderem allgemeinen Wissen in das semantische Gedächtnis integriert wird. Das menschliche Ge- 97 Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 78-79. Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 232. 99 Vgl. REINHARDT, »Kollektive Erinnerung«, S. 95; Schacter, Aussetzer, S. 222-223. 100 Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 106. 101 Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 5. 102 Vgl. BERTAUX/BERTAUX-WIAME, Autobiographische Erinnerung, S. 112; LEHMANN, Erzählstruktur und Lebenslauf, S. 28. 98 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 49 dächtnis scheint unter einem Zwang zu stehen, die Vergangenheit so zu rekonstruieren, daß sie sich unserem gegenwärtigen Wissen angleicht.103 Eine weitere Form der Erinnerungsverzerrung besteht darin, daß das menschliche Gedächtnis die eigene Person mit einem »tröstlichen Lichtschein positiver Illusionen«104 umgibt. Menschen sind meist motiviert, eine hohe Meinung von sich zu haben und hegen daher nicht selten schmeichelhafte Vorstellungen von ihren Fähigkeiten und Leistungen, was zu ›positiven‹ Illusionen führen kann. Die bestimmende Rolle des Selbst bei Enkodierung und Gedächtnisabruf sowie die ausgeprägte Neigung des Menschen, in einem positiven Glanz erscheinen zu wollen, sind ein fruchtbarer Boden für Erinnerungsverzerrungen. Vergangene Erlebnisse werden in ein Licht getaucht, welches das Selbst von seiner besten Seite zeigt. Bestes Beispiel sind Zeitzeugenberichte, in denen die Befragten geradezu beschwören, niemals mit dem Nationalsozialismus sympathisiert zu haben, obwohl sie faktisch der Goebbelsschen Propaganda in vielen Bereichen aufgesessen und Hitler bereitwillig gefolgt sind. Dasselbe Motiv liegt auch dann zugrunde, wenn das frühere Selbst im Wert herabgesetzt wird, denn dieser Mechanismus folgt einzig und allein dem Ziel, das gegenwärtige Selbst in einem besseren Licht erscheinen zu lassen und die eigene positive Entwicklung herauszustreichen.105 In eine andere Richtung weisen alle jene Erinnerungsverzerrungen, bei denen Stereotype zum Tragen kommen. Bei Stereotypen handelt es sich um generalisierende Beschreibungen früherer Erfahrungen, die wir verwenden, um Menschen und Gegenstände in Kategorien einzuteilen. Ein Beispiel wäre die unter vielen Zeitzeugen weitverbreitete Vorstellung, Russen seien »primitive Menschen, die schmutzig waren, die keine Kultur hatten, die oft im Ofen schliefen«106. Für viele Sozialpsychologen stellen derartige Stereotype »Energiesparvorrichtungen«107 dar, die das Verständnis der sozialen Welt vereinfachen. Es erfordert erhebliche kognitive Mühen, jeden Menschen, den wir kennenlernen, als besonderes Individuum wahrzunehmen. Daher machen wir uns die Sache häufig einfacher und greifen auf stereotype Verallgemeinerungen zurück, die sich aus verschiedenen Quellen speisen: aus Gesprächen mit anderen Menschen, aus den Medien – in diesem Falle aus der NS-Propaganda –, und aus persönlichen Erfahrungen. Zwar kann der Rückgriff auf solche Vorurteile unser kognitives Leben entlasten, unter Umständen aber auch zu unerwünschten Ergebnissen führen, etwa wenn Stereotype in bestimmten Fällen von der Wirklichkeit abweichen und folglich zu falschen Urteilen und ungerechtfertigtem Verhalten führen. Neuere Studien zeigen, daß stereotype Verzerrungen automatisch und völlig 103 Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 262-266. SCHACTER, Aussetzer, S. 243. 105 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 238-243. 106 Int. 03175, S. 14. 107 SCHACTER, Aussetzer, S. 244. 104 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 50 Gedächtnis und Erinnerung unbewußt geschehen.108 Gleichwohl üben sie nicht nur auf unser Denken und Verhalten einen nicht zu unterschätzenden Einfluß aus. Darüber hinaus verändern sie auch unsere Erinnerung, insbesondere dann, wenn Menschen ausgeprägte Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe verbinden wie zum Beispiel folgender Zeitzeuge, der im Zusammenhang mit den fingierten polnischen Übergriffen auf den Sender Gleiwitz behauptet, diese hätten tatsächlich stattgefunden. Auf die Frage, woher er das denn wisse, entgegnet er: »Ich weiß es nicht. Ich war nicht dabei. Ich kann es mir einfach vorstellen […]. Ich meine, genauso wie es in der Tschechei die Tschechen gegen die Sudetendeutschen, so hat es auch in Polen Übergriffe gegeben. Und Sie glauben gar nicht, was Minderheiten in dieser Hinsicht so alles anstellen. Da sind die Menschen plötzlich zu Tieren geworden.«109 Wie an diesem Beispiel sehr deutlich wird, können solche Tendenzen einen Teufelskreis erzeugen, der dazu führt, daß ein Vorurteil den bevorzugten Abruf kongruenter Vorfälle bewirkt, was wiederum die stereotype Verzerrung verstärkt.110 Nimmt man die dargestellte Wirkungsweise des False-Memory-Mechanismus und die Verformungskräfte des Vergessens und Verdrängens zusammen, so erscheint es als überaus wahrscheinlich, daß die zu untersuchenden Zeitzeugenerinnerungen durch spätere Einflüsse überlagert, gefärbt und verändert worden sind. Die Suggestibilität gegenüber derartigen Einflüssen und mithin die Wahrscheinlichkeit der Veränderung einer Erinnerung ist jedoch individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die in ihren Erinnerungen gegenüber solchen Einflüssen praktisch immun sind, während andere ihnen weitgehend unterliegen. Der Grad der Suggestibilität hängt von verschiedenen individuellen Parametern ab, deren Einfluß auf die Veridikalität von Erinnerungen es im folgenden zu analysieren gilt.111 1.4.4 Bedingungsfaktoren für die Veridikalität von Erinnerungen Losgelöst von den bisher dargestellten Vergessens-, Verdrängungs- und Verfälschungsmechanismen ist jede Erinnerung verschiedensten Bedingungen unterworfen, die einen bedeutenden Einfluß auf ihre Akkuratheit ausüben. Zum einen handelt 108 Erste Anhaltspunkte hierfür liefern Experimente, bei denen Stereotype aktiviert worden sind, indem man verschiedenen Versuchspersonen Wörter so rasch darbot, daß die bewußte Wahrnehmung sie nicht registrieren konnte. Nach diesem unterschwelligem Priming durch Wörter, die einen Stereotyp von ›Schwarzen‹ aktivieren sollten, zeigten weiße amerikanische Studenten eine größere Neigung, eine fiktive männliche Person von unspezifischer ethnischer Zugehörigkeit als feindselig einzustufen. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 245. 109 Int. 01596, S. 16. 110 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 244-248. 111 Vgl. SÜLLWOLD, Zeitzeugen, S. 5. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 51 es sich dabei um Faktoren, die dem Erinnerungsgegenstand zu eigen sind wie die subjektive Bedeutsamkeit eines Ereignisses für die sich erinnernde Person, sein emotionaler Gehalt sowie sein Interferenzgrad, also das Maß an Ähnlichkeit zu anderen Ereignissen, zum anderen um die Rahmenbedingungen des Informationsabrufs, die sich aus dem Erinnerungskontext, aus der temporalen Distanz zu dem betreffenden Ereignis sowie aus dem Alter des sich Erinnernden zusammensetzen. 1. Der Einfluß der subjektiven Bedeutsamkeit eines Erlebnisses Allgemein hin ist davon auszugehen, daß Erinnerungen mit der Zeit verblassen, insbesondere dann, wenn sie selten oder nie aus dem Gedächtnis abgerufen werden. Auf Hirnebene führt dies dazu, daß die neuronalen Verbindungen, in deren Form die entsprechenden Informationen repräsentiert sind, im Falle ihrer Nichtinanspruchnahme offenbar schwächer werden und sich schließlich auflösen.112 Diejenigen Ereignisse und Erlebnisse, die hingegen sehr häufig abgerufen werden, sind wesentlich präziser memorierbar. Je öfter ein- und dieselbe Information benötigt wird, desto exakter gestaltet sich ihre Erinnerung, allerdings mit der Einschränkung, daß es sich hierbei um Erinnerungen an Erinnerungen und keineswegs um einen originalgetreuen Abruf handelt.113 Es liegt auf der Hand, daß Ereignisse, die von großer persönlicher Relevanz sind, öfter aus dem Gedächtnis abgerufen und kommuniziert werden als alltägliche Begebenheiten und routinisierte Vorgänge oder als Erfahrungen anderer Menschen, deren Leid oder Glück uns weitaus weniger berührt als das eigene.114 Insbesondere das letztgenannte Phänomen ist in den vorliegenden Interviews überaus häufig zu beobachten, beispielsweise wenn Frontsoldaten ausführlich über den Schmerz ihres schwersten Verwundungserlebnisses berichten, während sie die Verletzung eines Kameraden nur am Rande thematisieren (vgl. Abschnitt 5.1.5), oder in plastischer Weise jene Verbrechen schildern, die von der Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung verübt worden sind, die von deutscher Seite an russischen Zivilisten begangenen Greueltaten hingegen marginalisieren (vgl. Abschnitt 4.3.3 und 5.2.2). Ein von verschiedenen Gedächtnisforschern in diesem Zusammenhang beschriebenes Phänomen stellen sogenannte ›Blitzlicht-Erinnerungen‹ (flashbulb memories) dar. Hierbei handelt es sich um Erinnerungen an außergewöhnliche Ereignisse, die einen herausragenden Bedeutungsgehalt besitzen. Ausgehend vom Attentat auf John F. Kennedy im Jahre 1963 waren die Psychologen Roger Brown und James Kulick 112 Vgl. ASSMANN, Wie wahr sind Erinnerungen?, S. 108; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 160. 113 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 146. 114 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 101; MANN, Validitätsprobleme retrospektiver Interviews, S. 356. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 52 Gedächtnis und Erinnerung die ersten, die von Blitzlicht-Erinnerungen sprachen. Sie nahmen an, daß ein neues und schockierendes Ereignis einen speziellen Mechanismus im Gehirn auslöst, den sie als Schnappschuß bezeichneten. Analog zum grellen Schein des Blitzlichts bei einem Photo bewirkt dieser Schnappschuß, daß alles festgehalten oder ›eingefroren‹ wird, was in jenem Augenblick vor sich geht, in dem wir von einem schockierenden Ereignis erfahren:115 »They have a ›primary‹, ›live‹ quality that is almost perceptual. Indeed, it is very like a photograph.«116 Zentrale Merkmale solcher Blitzlicht-Erinnerungen sind zum einen ein hoher Grad an subjektiver Gewißheit, daß die abgerufenen Informationen den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen, zum anderen die Folgenschwere des betreffenden Ereignisses, die dafür ausschlaggebend ist, ob der besagte Schnappschußmechanismus ausgelöst wird oder nicht. Im Zusammenhang mit dem Kennedy-Attentat konnten alle Probanden bis auf einen sich exakt an die Umstände der Kenntnisnahme des Mordanschlags erinnern. Im Falle der Ermordung Robert Kennedys dagegen war dies nur bei der Hälfte der Befragten der Fall, was damit zu erklären ist, daß das Attentat von 1969 keinen so tiefen Schock in der Gesellschaft ausgelöst hat wie das auf seinen Bruder.117 Die Folgenschwere eines Ereignisses kann in ihrer Bedeutung folglich kaum überschätzt werden, zumal die Befürworter der Flashbulb-memory-Theorie davon ausgehen, daß Blitzlicht-Erinnerungen weitaus resistenter gegen Verzerrungen und Verfälschung sind als herkömmliche Erinnerungsformen. Ihrer Argumentation zufolge sind Blitzlicht-Informationen, die mit vielen lebendigen und bildhaften Details repräsentiert und mit anderen Erinnerungen verknüpft sind, präziser memorierbar, weil sie auf vielen verschiedenen Wegen rekonstruiert werden können.118 Kritiker hingegen erblicken gerade in der visuellen Prägnanz eine Gefahr für Verzerrungen, schließlich sind speziell Bilder anfällig für Veränderungen, da sie besonders häufig abgerufen werden und mit jedem Abruf eine Veränderung erfahren können. Hinzu kommt, daß de facto nicht das bedeutsame Ereignis als solches erinnert wird, sondern in erster Linie die mit ihm zusammenhängenden Emotionen. Untermauert werden diese Zweifel durch verschiedene Untersuchungen, die hervorgebracht haben, daß eine bemerkenswert geringe Korrelation zwischen der Akkuratheit einer Erinnerung und der 115 Neurologisch betrachtet handelt es sich bei diesen Blitzen um eine massive Zunahme der Kortexaktivität, die möglicherweise von einer plötzlichen Hormonfreisetzung ausgelöst wird. Die Hormone erhöhen die Menge der zu Verfügung stehenden Glucose, die den Zellen als Brennstoff dient. Vgl. hierzu KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 117. 116 Brown/Kulik zitiert nach GREENBERG, President Bush’s false »flashbulb memory« of 9/11/01, S. 365. 117 Vgl. hierzu SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 318. Blitzlicht-Erinnerungen sind von der Gedächtnisforschung auch bei anderen bedeutenden Ereignissen des 20. Jahrhunderts diagnostiziert worden, etwa bei der Explosion des Luftschiffes Hindenburg 1937, dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der Mondlandung 1969, dem Mordanschlag auf Ronald Reagan 1981, dem Rücktritt der britischen Premierministerin Margaret Thatcher 1990 oder dem Golfkrieg 1991. 118 Vgl. POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 73-75; REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 30. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 53 Überzeugung besteht, sich an jede Einzelheit präzise erinnern zu können.119 So haben etwa die Psychologen Ulrich Neisser und Nicole Harsch festgestellt, daß Studenten, die 24 Stunden nach dem Challenger-Unglück interviewt worden waren, zweieinhalb Jahre später ziemlich abweichende Erinnerungen an das Ereignis und die Umstände seiner Kenntnisnahme aufwiesen, indessen aber der festen Überzeugung waren, ihre falschen Erinnerungen seien absolut zutreffend.120 Dies hat wesentlich damit zu tun, daß eine ausgeprägte emotionale Bedeutsamkeit die Überzeugung nährt, unsere Erinnerungen seien in besonderer Weise zutreffend, dabei ist dieser Glaube einzig und allein darauf zurückzuführen, daß es sich um Ereignisse handelt, über die wir schon sehr häufig gesprochen haben.121 Diese Diskrepanz ist in besonderem Maße auch bei Zeitzeugen anzutreffen, die nicht selten felsenfest behaupten, daß das von ihnen Berichtete sich genau so zugetragen habe: »Ich hab die Erinnerung noch von diesen langen Schlangen, von diesen Leuten, die da ausgezogen wurden, nackend, und dann in die … in die Schlucht getrieben wurden. Diese Bilder habe ich heute noch vor Augen.«122 Die subjektiv empfundene Wahrhaftigkeit solcher Erinnerungen rührt daher, daß es sich hierbei um wieder und wieder erinnerte und erzählte Episoden handelt, die zudem in einen Kanon kurrenter Geschichten eingebettet werden, die den gleichen sozial abgestützten Erzählmustern folgen. Dieser Umstand bestärkt die subjektive Überzeugung, über wirkliche Erlebnisse und Geschehnisse zu sprechen.123 Folglich haben wir es selbst bei Blitzlicht-Erinnerungen nicht mit Erinnerungen an Erlebtes zu tun, sondern primär mit Erinnerungen an Erinnerungen.124 Obwohl damit erwiesen ist, daß selbst höchst folgenreiche Blitzlicht-Ereignisse nicht ganz unempfänglich für die Wirkung der Zeit sind und ebenso wie herkömmliche Erinnerungen gewisse Veränderungen und Verzerrungen erfahren können, werden sie, wie der Vergleich zwischen den beiden Kennedy-Attentaten belegt, dennoch dauerhafter und präziser behalten als Erinnerungen an weniger spektakuläre Ereignisse.125 119 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 40. Vgl. NEISSER/HARSCH, Phantom flashbulbs, S. 9. Als weiterer Beleg für die Ungenauigkeit von Blitzlicht-Erinnerungen ist die Untersuchung von Sven-Åke CHRISTIANSON (Flashbulb memories, S. 435-443) im Zusammenhang mit der Ermordung des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme 1986 anzuführen. 121 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 319-326. 122 Int. 01121, S. 18. 123 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 185; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 161; dens., Das kommunikative Gedächtnis, S. 39-42; dens., Interview, S. 59. 124 Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 195. 125 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 319-326. 120 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Gedächtnis und Erinnerung 54 2. Der Einfluß von Emotionen In eine ähnliche Richtung wie die Bedeutsamkeit eines Ereignisses weist seine emotionale Konnotation. Sowohl Alltagserfahrungen als auch Laborstudien belegen, daß emotional besetzte Ereignisse besser im Gedächtnis bewahrt werden als solche, bei denen Emotionen keine Rolle spielen. Schon bei der Entstehung einer Erinnerung, wenn Aufmerksamkeit und Elaboration darüber entscheiden, ob wir ein Erlebnis behalten oder vergessen, findet eine emotionale Aufladung der wahrgenommenen Informationen statt.126 Wie im Zusammenhang mit der Erinnerungsfähigkeit traumatischer Ereignisse bereits angedeutet wurde, beeinträchtigen extrem emotionale Zustände jedoch unsere Wahrnehmung, das heißt, unsere Erinnerungen sind durch Gemütszustände wie Freude, Liebe, Freundschaft oder Stolz beziehungsweise Angst, Streß, Feindschaft oder Haß gefärbt.127 Die unüberschaubare Vielfalt möglicher Emotionen bringt uns manchmal in Situationen, in denen das Gefühl so überwältigend ist und alles so schnell passiert, daß das Gedächtnis wie betäubt ist. Wir erinnern uns beispielsweise an den Tag, an dem ein geliebter Mitmensch gestorben ist, aber nicht sonderlich gut an die vorangegangenen oder darauffolgenden Tage. Wenn wir uns präziser an gute und schlechte Augenblicke unseres Lebens erinnern können als an neutrale, stellt sich die Frage, welche Erinnerungen eher der Realität entsprechen: diejenigen an besonders glückliche Ereignisse, die wir uns immer wieder gerne ins Bewußtsein rufen, oder diejenigen an grauenhafte und schreckliche Begebenheiten, die wir am liebsten für immer vergessen würden. Psychologen haben lange über diese Frage gestritten. Wenngleich dazu bislang nur wenige seriöse Befunde vorliegen, so haben die Experimente, die von dem Psychologen Kevin Ochsner durchgeführt worden sind, sich bisher als richtungweisend erwiesen. Ochsner führte verschiedenen Studenten eine Reihe Dias vor, von denen einige überaus angenehm anzuschauen waren, da sie unter anderem Bilder von attraktiven Frauen und Männern zeigten, andere hingegen waren unangenehm, wie etwa solche, auf denen verstümmelte Körper zu sehen waren. Neben diesem gefühlsbesetzten Material zeigte Ochsner seinen Probanden auch neutrale Dias unter anderem mit Bildern von Haushaltsgeräten. Im Ergebnis erinnerten die Studenten weit mehr emotional konnotierte als neutrale Dias, was den erstgenannten Befund untermauert. Erstaunlich ist jedoch, daß sowohl die Bilder mit angenehmen als auch diejenigen mit unangenehmen Inhalten von den Probanden gleichermaßen zutreffend erinnert wurden.128 Dies läßt den Schluß zu, daß, wie bereits weiter oben festgestellt worden ist, die Genauigkeit des Gedächtnisses in direkter Beziehung zur emotionalen Erregung steht und zwar – und das ist der entscheidende Punkt – unab- 126 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 258-259. Vgl. HOBI, Kurze Einführung in die Grundlagen der Gedächtnispsychologie, S. 15; TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 320. 128 Vgl. OCHSNER, affective events, S. 242-261. 127 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 55 hängig davon, ob sie positiver oder negativer Natur ist. Einen Einfluß hat die Art der Emotion lediglich dann, wenn sie dem Abrufkontext, dessen Wirkungsweise unter Punkt fünf behandelt wird, entspricht, das heißt, daß negative Erfahrungen in einer negativen Stimmung beziehungsweise positive Erfahrungen in einer glücklichen Stimmung einfacher und genauer erinnert werden können.129 3. Der Einfluß von Interferenzen In engem Zusammenhang mit der subjektiven und emotionalen Bedeutsamkeit eines Ereignisses steht der Einfluß von Interferenzen. Hierbei geht es um den Ähnlichkeitsgrad wahrgenommener Ereignisse und ihre Memorierbarkeit. Je größer die Interferenz der aufgenommenen Informationen, desto schwieriger wird es für das Gedächtnis, ihre Inhalte voneinander zu unterscheiden.130 Besonders betroffen sind serielle Ereignisse, die als Teil einer Sequenz von Ähnlichkeiten mit wenig dramatischen Übergängen auftreten und infolgedessen als zusammengeschmolzene Episoden gespeichert werden.131 Häufig handelt es sich dabei um alltägliche und routinisierte Abläufe, innerhalb derer wir bestimmte Situationen immer wieder erleben, weshalb es äußerst schwer fällt, sich an einzelne Passagen zu erinnern. Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang auch von einer ›Amnesie des automatischen Verhaltens‹. Wie Erzählungen von Zivilisten über Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg belegen, verdichten sich solch routinisierte Abläufe zu einem Gesamtbild. So können die sich Tag und Nacht wiederholenden Situationen in den Kellern und Bunkern nur noch bei herausragenden Angriffen präzise wiedergegeben werden, während die Alltagserinnerung im wesentlichen auf die Angst, die durch den Lärm der feindlichen Flugzeuge, durch den Fliegeralarm oder durch die einschlagenden Bomben verursacht wurde, reduziert wird (vgl. Abschnitt 5.2.1): »Die Angst, das Geräusch – oder wenn ’ne Bombe … Du hörtest ja ’ne Bombe, die pfiff ja, wenn die … wenn die nur … Man hat gesagt: ,Wenn Du die pfeifen hörst, die Bombe, dann trifft sie dich nicht!‘, nich’. So sagte man bei uns, nich’. Das ist wie ’ne Granate. Da baute sich ’ne Angst auf.«132 Ähnliche Ergebnisse haben auch vergleichende Analysen von Lebensgeschichten verschiedener Veteranen des Ersten und Zweiten Weltkrieges hervorgebracht. Während die Befragten über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg stundenlang erzählen 129 Vgl. PASUPATHI, Emotion regulation during social remembering, S. 151-163; SCHACTER, Aussetzer, S. 262; dens. Wir sind Erinnerung, S. 338; SCHAEFER/PHILIPPOT, Selective effects of emotion, S. 148-150. 130 Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624. 131 Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 30. 132 Int. 02378, S. 7. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Gedächtnis und Erinnerung 56 können, umschreiben sie ihre Erfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges, die oft Monate oder Jahre andauerten, meist nur in knappen Metaphern. Solche Erzählblockaden resultieren unter anderem aus der Schwierigkeit, die Erinnerung an das diffuse und chaotische Erleben des Schützenfeuers oder an den Alltag in den Schützengräben in eine sequentielle Ordnung zu bringen. Angesichts der Tatsache, daß ein Schützengraben aussah wie der andere, ist es wenig erstaunlich, daß das Leben an der Front im Gedächtnis auf ein Bild oder eine knappe Evaluation zusammengeschrumpft ist und es den Veteranen kaum gelingt, einzelne Episoden daraus zu rekonstruieren.133 Entscheidend für das Überleben einer Erinnerungsspur ist neben dem herausragenden Charakter eines Ereignisses im Kontrast zum sonstigen Alltag seine Strukturiertheit.134 Klar strukturierte Informationen sind besonders leicht und präzise abrufbar, weil sie als organisierte Einheiten aufgenommen und im Gedächtnis abgelegt werden können. Die Erinnerung ungestalteter Informationen fällt hingegen ungleich schwerer.135 Versucht man, sich beispielsweise die Zahlenreihe 1, 6, 4, 8, 1, 8, 1, 5, 1, 8, 7, 1, 1, 9, 4, 5 einzuprägen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder abzurufen, gelingt dies in der Regel nicht, zumindest solange einem die Zahlen als völlig sinnlos erscheinen. Werden die Zahlen jedoch in Vierergruppen zusammengefaßt, entstehen plötzlich sinnvolle Einheiten – in diesem Falle historisch bedeutsame Jahreszahlen –, die eine ökonomischere Organisation in Form von Mustern ermöglichen, mit denen das Gedächtnis leichter arbeiten kann.136 Wenn sich Zeitzeugen alltägliche Abläufe, Handlungen und Ereignisse in Erinnerungen rufen, gestalten sich diese in der Regel in Form von allgemeinen und metaphorischen Bildern, die jedoch als äußerst zuverlässig erachtet werden können. Im Falle von Erinnerung an spezielle Sequenzen im Rahmen eines routinisierten Ablaufs ist das Gedächtnis aufgrund der Ähnlichkeiten und der Unstrukturiertheit einzelner Passagen hingegen überfordert.137 4. Der Einfluß des Abrufkontextes Wie im Zusammenhang mit dem Vergessensphänomen bereits angedeutet wurde, kann eine Information, die zu einem früheren Zeitpunkt einmal im Gedächtnis abgelegt worden ist, keineswegs endgültig als vergessen angesehen werden.138 Vielmehr scheitert der Abruf von Gedächtnisinhalten häufig daran, daß die dazu passen133 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 78-79. Zu den Wandlungsprozessen in den Erzählungen dies., »…wenn alles in Scherben fällt…«, S. 382-400. 134 Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 320. 135 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 76. 136 Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 112-113. 137 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 76-77. 138 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 57-58. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 57 den Abrufkontexte und -reize fehlen.139 Angesichts solcher Überlegungen hat die Gedächtnisforschung Untersuchungen angestellt, die zweifelsfrei belegen, daß wir uns besonders präzise an Inhalte erinnern können, wenn Abruf- und Einspeicherungssituation weitgehend kongruent sind – ein Umstand, der von verschiedenen Forschern als ›State-dependent-retrieval-Phänomen‹ bezeichnet wird.140 »Der Geruch, der Geschmack, das Geräusch, das Gefühl und das sichtbare Umfeld, kurz alle Sinne, in Lust oder Schmerz«, die während des Wahrnehmungsprozesses auf uns einströmen, werden beim Abruf »wieder wach und bedürfen keiner Gedächtnisarbeit, um wahr zu sein und wahr zu bleiben.«141 Wenn wir etwa Alkohol trinken oder andere Drogen konsumieren, erinnern wir uns nüchtern schlecht an das, was in den entsprechenden Zuständen passiert ist. Experimentell ist aber nachgewiesen worden, daß die Erinnerung präziser wird, je mehr wir uns wieder dem entsprechenden Zustand annähern, das heißt, uns wieder denselben Pegel antrinken. Dieses Phänomen des zustandsabhängigen Abrufs bezieht sich jedoch nicht nur auf unsere eigene körperliche wie emotionale Verfassung, sondern in besonderem Maße auch auf die jeweilige Umgebung, in der eine Informationsaufnahme beziehungsweise ihr späterer Abruf erfolgt. Bei einem Experiment haben sich Taucher drei Meter unter Wasser begeben, um dort eine Liste mit verschiedenen Wörtern auswendig zu lernen. Die eingeprägten Worte konnten von den Probanden anschließend besser erinnert werden, wenn sie sich dabei erneut unter Wasser befanden als wenn sie einfach nur am Strand saßen. Eine zweite Gruppe von Tauchern, die sich die gleiche Liste eingeprägt hatte, dabei allerdings am Strand saß, erinnerte sich hingegen an Land besser als unter Wasser.142 Informationen können folglich exakter abgerufen werden, wenn der ursprüngliche Kontext wiederhergestellt wird.143 Angesichts dieses Befundes mag es kaum verwundern, wenn etwa auf Veteranentreffen eine größere Reichhaltigkeit an ereignisspezifischen Erinnerungen vorzufinden ist als im Rahmen anderer Settings, in denen lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden. Gleichwohl ist es für jedes Forschungsprojekt schon aus Logistik- und aus Kostengründen schwer möglich, den Befragten ein entsprechendes Erinnerungsumfeld zu bieten. Hinzu kommen moralische und ethische Bedenken, schließlich wäre es einem Holocaust-Überlebenden kaum zuzumuten, für eine Befragung an den Ort des Geschehens, etwa nach Auschwitz-Birkenau, zurückzukehren. Unter Zuhilfenahme von Abrufreizen, die mit einem Teil eines vergangenen Erlebnisses korrespondieren, ist es jedoch im Rahmen von Zeitzeugeninterviews immerhin möglich, bei den Befragten gewisse Assoziationen zu wecken, die eine Erinnerung 139 Vgl. VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624-625. Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 40. 141 Kosseleck zitiert nach WELZER, Interview, S. 56. 142 Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 57. 143 Vgl. BREDENKAMP, Lernen, Erinnern, Vergessen, S. 79; BRÜGGEMEIER, Traue keinem über sechzig, S. 61. 140 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Gedächtnis und Erinnerung 58 weiterer Teile der gesuchten Information bewirken.144 Solche Stimuli können Photos, Schriftstücke oder auch nur das Gespräch als solches sein, die einzelne Elemente einer abgelagerten Einheit wieder hervorholen und zur Erinnerung weiterer Elemente anregen – eine Erkenntnis, die sich die Redakteure des ZDF insofern zunutze machen, als daß sie im Vorfeld einer Zeitzeugenbefragung ihre Interviewpartner zum Durchblättern ihrer Photoalben und Dokumente animieren. Obwohl ein günstiger Abrufkontext sowie entsprechende Abrufreize die Erinnerung von Informationen und Ereignissen erleichtern, ist jedoch auch hier keineswegs von einer originalgetreuen Abbildung auszugehen. Zwar könnte man Zeitzeugen wahrscheinlich dazu bringen, längst vergessen geglaubte Erlebnisse zu erinnern, wenn man ihnen spezifische Abrufreize darböte. Daß den Befragten jedes kleinste Detail wieder einfällt, das sie ursprünglich wahrgenommen haben, ist allerdings nahezu ausgeschlossen.145 5. Der Einfluß der temporalen Distanz zwischen Erlebnis und Erinnerung Die seit der Aufnahme einer Information vergangene Zeit gilt als entscheidender Faktor für den Umfang des Vergessens beziehungsweise der Verzerrung. Falls ein Gedächtnisinhalt nicht durch wiederholte Reproduktionen gefestigt wird, zerfällt die Stärke seiner Spur mit zunehmender temporaler Distanz.146 Hinzu kommt ein weiterer Faktor, der darin besteht, daß neue Informationen in unserem Gedächtnis kodiert und abgelegt werden, die unsere Fähigkeit, sich an frühere Ereignisse zu erinnern, beeinträchtigen. Wie der sogenannten Vergessenskurve zu entnehmen ist, bewahrt das Gedächtnis zu relativ frühen Zeitpunkten nach der Informationsaufnahme – Minuten oder Stunden später – ein recht vollständiges Ereignisprotokoll, das es uns ermöglicht, die entsprechenden Inhalte mit annehmbarer, wenn nicht sogar vollkommener Genauigkeit zu reproduzieren. Je mehr Zeit allerdings vergeht, desto stärker verblassen Einzelheiten und desto zahlreicher werden die Interferenzmöglichkeiten. Später gemachte Erfahrungen führen dazu, daß Gedächtnisinhalte überschrieben werden und weiter verblassen. Als Erinnerung wird somit nur das Wesentliche bewahrt, während Einzelheiten nur noch durch Schlußfolgerungen oder bloße Vermutungen rekonstruiert werden können.147 144 Vgl. ROSENTHAL, Erlebte und erzählte Lebensgeschichte, S. 72-75; WELZER, Interview, S. 58. 145 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 105-106, 128-129, 173-187. Vgl. MARKOWITSCH, Das Gedächtnis des Menschen, S. 242; VATERRODT-PLÜNNECKE, Vergessen, S. 624. 147 Vgl. SCHACTER, Aussetzer, S. 31. 146 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 6. 59 Der Einfluß des Alters Ähnlich bedeutend wie die temporale Distanz zwischen der Aufnahme von Informationen und ihrem Abruf ist der Einfluß des Alters auf die Leistungsfähigkeit unseres Gedächtnisses. Im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand gilt es dabei vor allem die folgenden beiden Aspekte zu betrachten: Zum einen geht es um die Frage, ab welchem Alter wir überhaupt in der Lage sind, autobiographische Informationen in einer Weise aufzunehmen, daß sie auch noch Jahre später zu Verfügung stehen. Zum anderen ist der Blick auf das Maß der Beeinträchtigung unserer kognitiven Fähigkeiten, insbesondere der Erinnerungsfähigkeit infolge von Alterserscheinungen zu richten, schließlich liegt das Durchschnittsalter der befragten Zeitzeugen zum Interviewzeitpunkt bei 78 Jahren. In den ersten Jahren nach unserer Geburt sind unsere Erinnerungen im allgemeinen äußerst anfällig für die Verwechslungen der Umstände von Geschehnissen und ihrer Quelle. Dies hängt wesentlich damit zusammen, daß die kindliche Entwicklung zunächst mit einem ausgeprägten Nachahmungslernen beginnt, das speziell in der Aneignung prozedural-motorischer Fähigkeiten besteht. Dieser Phase schließt sich unmittelbar der Erwerb exponentiell anwachsenden Wissens an, das speziell mit einem ausgeprägten Vokalerwerb einhergeht. Auf dieser breiten Wissensbasis beginnt sich dann im späten Vorschulalter das autobiographische Gedächtnis auszubilden. Erst jetzt weisen unsere Erinnerungen einen Zeit-, einen Raum- und einen Selbstbezug auf.148 Eine wesentliche Voraussetzung hierfür besteht im Erwerb einer repräsentationalen Sprache, die es einem Kind erlaubt, sich auch jenseits seiner unmittelbaren Gegenwart zu imaginieren, als jemand, dem etwa letzte Woche im Kindergarten ein Mißgeschick passiert ist.149 Diese Stufe, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auseinanderfallen und wir in die Lage versetzt werden, auf mentale Zeitreisen zu gehen, wird in der Regel zwischen dem vierten und fünften Lebensjahr erreicht.150 All jene autobiographischen Informationen, die vor Abschluß dieses Entwicklungsstadiums auf uns einströmen, fallen der sogenannten ›infantilen Amnesie‹ anheim, das heißt, sie können nicht verarbeitet und abgelegt werden, da 148 Zur Ausbildung der verschiedenen inhaltlichen Gedächtnissysteme in den ersten Lebensmonaten vgl. speziell MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 136-165. 149 Nähere Informationen zu den hirninternen Prozessen, die bei der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses bei Säuglingen und Kleinkindern ablaufen, bietet Silke MATURA, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses auf Hirnebene, S. 202-212. 150 Vgl. MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 14, 21; WELZER, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, S. 164. Andere Autoren gehen davon aus, daß sich das autobiographische Gedächtnis zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr ausbildet. Vgl. hierzu etwa MATURA, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses auf Hirnebene, S. 202. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 60 Gedächtnis und Erinnerung das hierfür zuständige autobiographische Gedächtnis noch nicht hinreichend ausgebildet ist.151 Gestützt wird dieser Befund durch zahlreiche Experimente, bei denen Kindern in Gesprächen Erlebnisse suggeriert wurden, an die sie sich später detailliert erinnern zu können glaubten, obwohl sie faktisch niemals stattgefunden hatten.152 Einer der spektakulärsten Fälle ist in diesem Zusammenhang der des Schweizer Psychologen Jean Piaget, der mit der lebhaften Erinnerung aufgewachsen war, daß er im Alter von zwei Jahren beinahe entführt worden wäre. In seiner Erinnerung sah er einen Mann, der ihn bedrohte, sein Kindermädchen, das ihn tapfer verteidigte, und ihr Gesicht, das in dem sich daraus ergebenden Handgemenge zerkratzt wurde. Während seiner gesamten Kindheit und Jugend blieb diese Erinnerung lebendig. Erst als er 15 Jahre alt war, schrieb das Kindermädchen seinen Eltern, daß sie sich die ganze Geschichte nur ausgedacht hatte. Die Klarheit, mit der Piaget das Ereignis in seiner Erinnerung gesehen hatte, und die persönliche Überzeugung, daß diese Erinnerung der Wahrheit entsprach, waren kein Beweis, daß das Ereignis tatsächlich stattgefunden hatte. Was Piaget erinnerte, war nur eine Fiktion, die ihm über Jahre hinweg als real geschildert und folglich in seine autobiographische Erinnerung integriert wurde. Daß Kinder im Alter von zwei Jahren noch über kein autobiographisches Erinnerungsvermögen verfügen, war Piaget damals noch nicht bekannt.153 Für die vorliegende Untersuchung ist das Phänomen der infantilen Amnesie insofern von Bedeutung, als es hier um die Erinnerungen solcher Personen geht, die die Zeit des Nationalsozialismus als Augenzeugen bewußt miterlebt haben. Da Kinder vor dem Erreichen des vierten oder fünften Lebensjahrs über kein hinreichend ausgebildetes autobiographisches Erinnerungsvermögen verfügen, können letztlich nur solche Personen als Zeitzeugen angesehen werden, die vor 1941 geboren worden sind und zumindest in Bezug auf die letzten Kriegswochen ein autobiographisches Bewußtsein besitzen.154 Personen, die erst 1941 oder später geboren wurden, haben aus diesem Grund keine Berücksichtigung gefunden. Neben dem Phänomen der infantilen Amnesie existiert mit dem Alterungsprozeß ein weiterer mit dem Lebensalter zusammenhängender Bedingungsfaktor, der das Erinnerungsvermögen von Zeitzeugen nachhaltig beeinträchtigt.155 Zunächst ist ganz 151 Vgl. MARKOWITSCH, Die Erinnerung von Zeitzeugen, S. 39; NELSON, Erzählung und Selbst, S. 245-246; POHL, Das autobiographische Gedächtnis, S. 108-117; RUBIN, The distribution of early childhood memories, S. 265-269. 152 Vgl. HARPAZ-ROTEM/HIRST, The earliest memory, S. 51-62; HELL, Gedächtnistäuschungen, S. 274; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 26-27; WANG, Infantile amnesia reconsidered, S. 65-80. 153 Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 51; SIEGEL, Entwicklungspsychologische, interpersonelle und neurobiologische Dimensionen des Gedächtnisses, S. 37-40. 154 Vgl. SCHRÖDER, Zeitzeugen, S. 196-197. 155 Die vorliegend Befunde beziehen sich ausschließlich auf den Einfluß des Alters auf das episodisch-autobiographische Erinnerungsvermögen, das für die vorliegende Untersuchung von vorrangigem Interesse ist. Ausführlich Auskunft über die Auswirkungen des Älterwerdens auf die © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die Veridikalität von Erinnerungen 61 allgemein davon auszugehen, daß die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses mit zunehmendem Alter allmählich nachläßt. Wie die sich über Jahrzehnte mit dieser Frage beschäftigende neurowissenschaftliche Forschung nachgewiesen hat, schrumpft die Hirnmasse ab dem 60. Lebensjahr um fünf bis zehn Prozent pro Jahrzehnt. Die Durchblutung wie auch die Sauerstoffaufnahme des Gehirns nehmen kontinuierlich ab, was dazu führt, daß es immer schwerer fällt, sich insbesondere an jüngste Geschehnisse zu erinnern, da diese nicht mehr in das Langzeitgedächtnis überführt werden.156 Dieser Befund ist jedoch dahingehend einzuschränken, daß die Zuverlässigkeit des Gedächtnisses sich auch im Alter erheblich von Individuum zu Individuum unterscheidet.157 So ist es wenig erstaunlich, wenn ältere Menschen bei Gedächtnisexperimenten genauso gut oder gar besser abschneiden als jüngere Erwachsene.158 Verschiedene Gedächtnisforscher gehen davon aus, daß nicht allein das Alter, sondern auch das Bildungsniveau einen bedeutenden Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Gedächtnisses ausübt.159 Gleichwohl haben neuere Forschungsarbeiten gezeigt, daß sich mit zunehmendem Alter die Häufigkeit von BlitzlichtErinnerungen deutlich verringert. Dies hängt wesentlich damit zusammen, daß ältere Menschen große Mühe haben, sich an die Quelle ihrer Informationen zu erinnern. Da Blitzlicht-Erinnerungen definitionsgemäß vorwiegend Einzelheiten ihrer Quelle, also die Umstände der Kenntnisnahme umfassen, ist dieser Befund wenig erstaunlich.160 Ein wesentlicher Unterschied in der Erinnerungsfähigkeit älterer und jüngerer Menschen besteht darin, daß im Alter jene Ereignisse, die nur kurze Zeit zurückliegen, weniger intensiv erinnert werden als dies bei jungen Menschen der Fall ist. Bei autobiographischen Erinnerungen an länger zurückliegende Ereignisse, wie solche an das ›Dritte Reich‹ und den Zweiten Weltkrieg, ist dies hingegen umgekehrt. Insbesondere bei den ausgewählten Zeitzeugen ist dieses Phänomen zu beobachten, zumal es sich hierbei nicht selten um in ihrer subjektiven Bedeutung herausragende Ereignisse handelt: »Ich kann Ihnen nicht sagen, was vor zwei Jahren – wir schreiben das Jahr 2002 – […] geschehen ist oder vor drei Jahren, aber ich kann Ihnen sagen, was im März anderen Gedächtnissysteme geben MARKOWITSCH und WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 241-258. 156 Vgl. GÖPFERT, Oral History, S. 84. 157 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 457-464. 158 In einer Untersuchung mit über 70-Jährigen konnten immerhin 20 Prozent genauso viele Wörter in einer vorgelegten Liste korrekt wiedergeben wie Collegestudenten. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 38-39. 159 Bei Versuchspersonen zwischen 65 und 85 Jahren mit geringer formaler Bildung, die aufgefordert wurden, sich eine Wortliste einzuprägen, trat der Informationsverlust wesentlich früher ein als bei Personen mit einem höheren Bildungsgrad. Vgl. hierzu SCHACTER, Aussetzer, S. 38-39. 160 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 474-475. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 62 Gedächtnis und Erinnerung 1935, im September 1938 oder im Dezember 1942 geschehen ist. Das hat sich eingebrannt in mir.«161 Bestätigung finden solche Aussagen in zahlreichen Experimenten mit älteren Menschen, die im Vergleich zu Personen, die sich im mittleren Abschnitt ihres Lebens befinden, unverhältnismäßig häufig von Erlebnissen aus den Jahren ihrer Adoleszenz und des jungen Erwachsenenalters berichten.162 Der Umstand, daß die Erinnerung an die zweite und dritte, in machen Fällen sogar an die erste Dekade unseres Lebens nicht nur auffallend häufig, sondern gleichzeitig auch zuverlässiger als die an andere Lebensabschnitte ausfällt, stellt eine Ausnahme von der Regel dar, daß Erinnerungen im Laufe der Zeit immer schwerer zugänglich werden. Die Gedächtnisforschung spricht in diesem Zusammenhang deshalb auch von einem »Erinnerungshöcker«163 (reminiscence bump) oder vom Ribot’schem Gesetz, benannt nach einem französischen Nervenarzt des 19. Jahrhunderts, der dieses Phänomen erstmals beschrieb.164 Mit zunehmendem Alter erlangen die Erlebnisse der späten Jugend und des frühen Erwachsenenalters, die den Kern unserer gerade sich formierenden erwachsenen Lebensgeschichte bilden, offenbar eine besondere Bedeutung. In den späten Lebensjahrzehnten verspüren viele Menschen den Drang, sich häufiger und intensiver mit ihrer Autobiographie auseinanderzusetzen, als sie es früher getan haben.165 Solche sinnstiftenden Bilanzierungs- und Reminiszenzprozesse schärfen speziell bei älteren Zeitzeugen das Bewußtsein, daß sie die letzten Überlebenden einer bestimmten historischen Epoche sind, im vorliegenden Fall sogar einer Schlüsselperiode der deutschen Geschichte.166 1.5 Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses Den bisherigen Ausführungen lagen schwerpunktmäßig Ergebnisse der neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Gedächtnisforschung zugrunde, deren epistemologische Perspektive sowohl wissenschaftshistorisch als auch methodologisch und instrumentell eine rein individualistische ist. Da das Gehirn und mit ihm das Gedächtnis aber ein Organ darstellt, dessen Struktur sich erst in der Auseinandersetzung mit seiner physischen und sozialen Umwelt organisiert und entwickelt, haben wir es bei der Gehirn- und Gedächtnisentwicklung keineswegs mit einem autonom ablaufenden biologischen Vorgang zu tun, sondern mit einem soziokul- 161 Int. 02087, S. 6. Vgl. KOTRE, Der Strom der Erinnerung, S. 209-212. 163 KNOPF, Gedächtnisentwicklung im Verlauf der Lebensspanne, S. 531. 164 Vgl. BERNTSEN/RUBIN, Emotionally Charged Autobiographical Memories; MARKOWITSCH, Dem Gedächtnis auf der Spur, S. 85. 165 Vgl. SCHACTER, Wir sind Erinnerung, S. 468, 479, 482-485. 166 Vgl. REIMER, Autobiografisches Erinnern, S. 31. 162 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses 63 turellen Interaktionsprozeß unterschiedlicher Individuen. Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungsabhängigkeit können weder das Gehirn noch das Gedächtnis oder gar das Bewußtsein als etwas konstitutiv Individuelles aufgefaßt werden.167 Aus diesem Verständnis heraus ist auf der Grundlage der mittlerweile klassischen phänomenologischen Untersuchungen des französischen Soziologen Maurice Halbwachs in den vergangenen drei Jahrzehnten eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Arbeiten entstanden, die sich mit verschiedenen Formen kollektiver Erinnerung befassen.168 Halbwachs’ Vorstellung zufolge stellt das kollektive Gedächtnis den Gesamtbestand aller Erinnerungen dar, die »die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann.«169 Das kollektive Gedächtnis nimmt Erfahrungen, die der Einzelne in seinem Leben gemacht hat, auf und bewahrt sie über den Tod hinaus.170 Zu seinen wichtigsten Eigenschaften gehören erstens die Einbindung jeder individuellen Erinnerung, zweitens seine Gruppenbezogenheit, drittens seine rekonstruktive Funktionsweise sowie viertens die Diskrepanz zwischen Gedächtnis und Geschichte.171 Grundlage des ›mémoire collective‹ ist die These von der Einbindung jeder individuellen Erinnerung in ein kollektives Gedächtnis, derzufolge kein Gedächtnis existiert, das nicht sozial ist. Selbst die noch so privateste Erinnerung des Einzelnen bildet sich erst in der Interaktion mit anderen heraus. Halbwachs geht vollkommen ab von der körperlichen, das heißt neuronalen und hirnphysiologischen Basis des Gedächtnisses und stellt statt dessen die sozialen Bezugsrahmen, sogenannte »cadres sociaux«172 heraus, ohne die sich kein individuelles Gedächtnis konstituieren und erhalten kann: »Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.«173 Ein in völliger Einsamkeit aufwachsendes Individuum wäre niemals dazu in der Lage, ein Gedächtnis auszubilden, da dieses dem Menschen erst im Prozeß seiner Sozialisation zuwächst. Augenfälligstes Beispiel hierfür ist der Erwerb der Sprache, 167 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 20; ERLL, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 14-18; dies., Medium des kollektiven Gedächtnisses, S. 7-9, 16-17; KETTNER, Nachträglichkeit, S. 62; MARKOWITSCH/WELZER, Das autobiographische Gedächtnis, S. 22; WELZER, Die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses, S. 165-166. 168 Vgl. etwa die zahlreichen Studien von Harald Welzer, die im Rahmen dieser Untersuchung herangezogen werden. 169 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390. 170 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 84. 171 Vgl. ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 117-118. 172 So der Titel jener Studie, in der Halbwachs seine langjährigen Forschungen zusammenführt: Les Cadres sociaux de la mémoire. 173 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 121. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 64 Gedächtnis und Erinnerung die wir nicht von innen heraus entwickeln, sondern im Austausch mit anderen Menschen.174 Erinnerungen sind demzufolge immer kollektiv, denn ohne einen sozialen Hintergrund wären sie erst gar nicht existent.175 Diese Verschränktheit von individuellem und kollektivem Gedächtnis führt dazu, daß sich persönliche Erinnerungen kaum mehr von den Erzählungen und Erfahrungen anderer trennen lassen. Halbwachs geht in seiner Auffassung gar so weit, das Kollektiv als Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung einzusetzen und Begriffe wie ›Gruppengedächtnis‹ und ›Gedächtnis der Nation‹ zu prägen. Diesen Schritt scheint er jedoch zu gehen, ohne wirklich seine Voraussetzungen zu prüfen, denn wenn ein Kollektiv das Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung darstellte, würde das bedeuten, daß es dieselben Funktionen des Bewahrens, der Organisation und des Abrufens erfüllen könnte, die dem individuellen Gedächtnis zueigen sind.176 Zwar beruht das kollektive Gedächtnis auf einer »Gesamtheit von Menschen«177, Subjekt von Gedächtnis und Erinnerung bleibt letztlich aber immer der einzelne Mensch, denn nur er ist mit den nötigen Sinnesorganen ausgestattet, die ihn dazu befähigen, Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu behalten und zu reproduzieren.178 Kollektive wie Institutionen, Körperschaften oder Nationen dagegen verfügen über kein Gedächtnis im neurowissenschaftlichen Sinne, da ihnen die nötigen neuronalen und hirnphysiologischen Grundlagen fehlen. Gleichwohl befindet sich jedes Individuum in einer Abhängigkeit zu jenen Rahmen, die seine Erinnerung organisieren.179 Jedes individuelle Gedächtnis stellt nach Halbwachs einen »Ausblickspunkt«180 auf das kollektive Gedächtnis dar. »Dieser Ausblickspunkt wechselt je nach Stelle, die wir darin einnehmen.«181 Der Begriff des kollektiven Gedächtnisses darf somit keineswegs als reine Metapher oder als künstliches Konstrukt abgetan werden, denn es zielt auf Phänomene, die empirisch faßbar sind und sich deutlich von den Bedingungen des individuellen Erinnerns abheben. Auch wenn Institutionen und Körperschaften wie Staaten, Nationen, Firmen oder die Kirche über kein neuronales Verarbeitungsnetz verfügen, bilden sie dennoch äquivalente Strukturen aus, wofür sie sich memorialer Zeichen, Texte, Symbole, Bilder, Riten, Praktiken, Orte und Denkmäler bedienen, durch die sie sich ihre eigene Identität schaffen. Mittels dieser Identität prägt das 174 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 20-37. Vgl. PLATT, Gedächtnis, Erinnerung, Verarbeitung, S. 247. 176 Vgl. RICOEUR, Das Rätsel der Vergangenheit, S. 78-79; WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 157; WELZER/MONTAU/PLAß, »Was wir für böse Menschen sind«, S. 32-33. 177 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31. 178 Vgl. FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 134. 179 Vgl. ASSMANN, Erinnern, um dazuzugehören, S. 59; ASSMANN, Erinnerungsräume, S. 132; JEGGLE, Auf der Suche nach der Erinnerung, S. 96-101; WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 21-23. 180 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31. 181 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 31. 175 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses 65 Kollektiv die Gedächtnisse seiner Mitglieder, deren Erinnerungen folglich immer individuell und kollektiv zugleich sind.182 Eng verbunden mit der Einbindung der Erinnerungen seiner Mitglieder ist die Eigenschaft der Gruppenbezogenheit des kollektiven Gedächtnisses. Jedes kollektive Gedächtnis umfaßt zahlreiche soziale Gruppen unterschiedlicher Größenordnung in lokalisierbaren Räumen, etwa in einem Stadtteil, einem Land oder in einem Raum gleicher Religion sowie in ihrer jeweiligen kollektiv gelebten Zeit.183 Grundlage solcher Erinnerungsgemeinschaften sind immer ihre Träger, also die ihr zugehörigen Menschen, die durch ihre Teilhabe ihre Gruppenzugehörigkeit bezeugen. Innerhalb des Kollektivs blickt jedes Mitglied von einer anderen sozialen und temporalen Position auf das, was es für die Vergangenheit seiner Erinnerungsgemeinschaft hält, weshalb es zwingend eine individuelle Version eben dieser Vergangenheit entwikkelt. Da das Gedächtnis einer Gesellschaft aber an seine Träger gebunden ist, erstreckt sich ihre Vergangenheit nur so weit, wie das Gedächtnis derjenigen Gruppen reicht, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt.184 Frühere Ereignisse und Gestalten fallen dem Vergessen anheim, wenn diejenigen Gruppen allmählich aussterben, die diese Vergangenheit bewahren. Das kollektive Gedächtnis ist folglich nicht nur an Raum und Zeit gebunden, sondern auch »identitätskonkret«185, das heißt, daß es sich ausschließlich auf den Standpunkt einer lebendigen und real existierenden Gesellschaft bezieht und nicht über die Grenzen dieser Gemeinschaft hinaus erweitert werden kann.186 So wird ein bestimmtes Ereignis wie das Kriegsende 1945 von verschiedenen Kollektiven in unterschiedlicher Weise interpretiert, weshalb ein Deutscher seine eigene Lebensgeschichte aus dieser Periode anders wahrnimmt als ein Amerikaner, ein Russe oder ein Franzose. Umgekehrt können die Mitglieder eines Kollektivs gleichzeitig verschiedenen Gemeinschaften angehören und zwar sowohl solchen mit einer gleichen, als auch solchen mit einer sich widerstreitenden Denkweise und Ideologie, weshalb ihre Erinnerungen sehr verschiedene Kombinationen aufweisen können.187 Mit der Gruppenbezogenheit hängt ein weiteres Merkmal des kollektiven Gedächtnisses zusammen: seine Rekonstruktivität. Damit ist gemeint, daß von der Vergangenheit nur dasjenige bewahrt wird, »was die Gesellschaft in jeder Epoche mit ihren gegenwärtigen Bezugsrahmen rekonstruieren kann«188. Da das Gedächtnis wie bereits erwähnt keinen Speicher, sondern ein konstruktiv arbeitendes Netzwerk darstellt, kann die Vergangenheit als solche nicht unverändert bewahrt werden, 182 Vgl. WELZER, Das gemeinsame Verfertigen, S. 167. Vgl. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 103; KETTNER, Nachträglichkeit, S. 62; WISCHERMANN, Geschichte als Wissen, S. 62. 184 Vgl. WELZER/MOLLER/TSCHUGGNALL, Opa war kein Nazi, S. 196-197. 185 ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 39. 186 Vgl. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 68-71. 187 Vgl. TELLENBACH, Erinnern und Vergessen, S. 319. 188 HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 390. 183 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 66 Gedächtnis und Erinnerung sondern muß von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart her immer wieder reorganisiert werden.189 Gleiches gilt auch für neu aufzunehmende Informationen, die später ebenfalls immer nur in Form von Rekonstruktionen abgerufen werden können.190 Das kollektive Gedächtnis operiert folglich in beide Richtungen: zurück und nach vorne. Es rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.191 Wie den bisher geschilderten Eigenschaften des Raum- und Zeitbezugs sowie der Identitätskonkretheit zu entnehmen war, ist das kollektive Gedächtnis auf Kontinuität und Wiedererkennbarkeit angelegt. Diesem Gedächtnis, das »bewohnt«192, das heißt von verschiedenen lebenden Gruppen in Anspruch genommen und von ihnen getragen wird, steht die Geschichte gegenüber, die keinerlei Bezug zu einer Gruppenidentität aufweist.193 Während das kollektive Gedächtnis die Gruppe von innen betrachtet und bestrebt ist, tiefgreifende Veränderungen auszublenden, um seinen Mitgliedern ein kohärentes Vergangenheitsbild zu vermitteln, läßt die Geschichte nur dasjenige als historisches Faktum gelten, was als Prozeß oder Ereignis eine Veränderung anzeigt. Das vorrangige Ziel des Gruppengedächtnisses besteht darin, die Einzigartigkeit der eigenen Vergangenheit in Abgrenzung zu anderen Kollektiven zu betonen, wohingegen die Geschichte »ihre Fakten in einem vollkommen homogenen historischen Raum, in dem nichts einzigartig, sondern alles mit allem vergleichbar, jede Einzelgeschichte an die andere anschließbar und vor allem alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam ist«194, reorganisiert. Denn es gibt zwar viele Kollektivgedächtnisse, aber nur eine Historie, die ohne jeglichen Bezug zu einem bestimmten Kollektiv oder einer bestimmten Identität die Vergangenheit in einem »identitätsabstrakten Tableau«195 rekonstruiert, in dem alles, wie Ranke sagt, »gleich unmittelbar zu Gott«196 ist. Die Geschichtsschreibung agiert idealerweise völlig unabhängig von jedem Gruppenurteil, weshalb die Geschichte für Halbwachs auch kein Gedächtnis darstellt, weil es kein universelles, sondern immer nur ein kollektives, das heißt gruppenspezifisches und identitätskonkretes Gedächtnis gibt.197 Das kollektive Gedächtnis ist aber nicht 189 Vgl. ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118. Vgl. HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, S. 385. 191 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 40-42. 192 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 103. 193 Vgl. ASSMANN, Erinnerungsräume, S. 131; dies., Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, S. 174; ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118. 194 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 74. 195 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, S. 74. 196 Ranke zitiert nach ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 43. 197 Vgl. ASSMANN, Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis, S. 174; ASSMANN/ASSMANN, Das Gestern im Heute, S. 118. 190 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses 67 nur gegen die Geschichte abgegrenzt, sondern auch gegen jene organisierten und objektiven Formen der Erinnerung, die Halbwachs unter dem Begriff ›Tradition‹ zusammenfaßt. Tradition stellt für ihn keine Form, sondern eine Verformung der Erinnerung dar. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Übergänge zwischen ›mémoire‹ und ›tradition‹ derart fließend sein können, daß eine allzu scharfe begriffliche Unterscheidung wenig sinnvoll erscheint. Vor dem Hintergrund dieser Problematik hat der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann die Unterteilung des kollektiven Gedächtnisses in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis vorgenommen, die innerhalb der Gedächtnisforschung auf große Zustimmung gestoßen und von anderen Forschern wie dem Sozialpsychologen Harald Welzer weiter ausdifferenziert worden ist.198 Unter dem Begriff des kommunikativen Gedächtnisses werden jene Spielarten des kollektiven Gedächtnisses subsummiert, die ausschließlich auf Alltagskommunikation beruhen. Aus dieser Art von Kommunikation baut sich im einzelnen ein Gedächtnis auf, das – wie Halbwachs gezeigt hat – sowohl sozial vermittelt als auch gruppenbezogen sowie durch ein hohes Maß an Unspezialisiertheit, Rollenreziprozität, thematische Variabilität und Unorganisiertheit gekennzeichnet ist.199 Es umfaßt jene Erinnerungen, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen, das heißt, es ist an die Existenz seiner lebendigen Träger und Kommunikatoren von Erfahrungen gebunden, weshalb seine Inhalte nur begrenzt haltbar sind. Das kommunikative Gedächtnis entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer gesagt mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis. Dieser allein durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete Erinnerungsraum umfaßt drei bis vier Generationen, also etwa 80 bis 100 Jahre. Die Römer prägten dafür den Begriff des ›saeculum‹ und verstanden darunter jene Grenze, bis zu der auch der letzte überlebende Angehörige einer Generation und Träger ihrer spezifischen Erinnerung verstorben ist.200 Dieser Zeithorizont entspricht einer immer im gleichen Abstand zur Gegenwart mitwandernden Trennlinie (floating gap), die aufgrund der fortwährenden Veränderung ihrer temporalen Position eine dauerhafte Fixierung der kommunikativen Inhalte unmöglich macht.201 Jenseits dieser Linie befindet sich die »graue Vorzeit«202 (dark ages) – eine Zeit, die nur noch durch die kulturellen Symbolisierungen der Nachwelt zugänglich ist, da ihre lebendigen Träger bereits verstorben sind.203 Das kommunikative Gedächtnis ist demzufolge mit einem Generationengedächtnis oder einem sozialen Kurzzeitgedächtnis gleichzusetzen, das sich auf die selbsterlebte Vergangenheit einer spezi- 198 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 45. Vgl. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 10-11; BERING, Kulturelles Gedächtnis, S. 330; KORFF, Bemerkungen zur öffentlichen Erinnerungskultur, S. 168-169. 200 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48-64. 201 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 14; dens., Das soziale Gedächtnis, S. 13. 202 VANSINA, Oral Tradition as History, S. 23. 203 Vgl. NIETHAMMER, Diesseits des »Floating Gap«, S. 25-27. 199 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 68 Gedächtnis und Erinnerung fischen Alterskohorte bezieht.204 Derzeit, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, verläuft das floating gap entlang der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, das heißt etwa zwischen den Jahren 1890 und 1910. Für die dieser Studie zugrundeliegenden Zeitzeugen, für die das ›Dritte Reich‹ und der Zweite Weltkrieg noch Gegenstand persönlicher Erfahrung gewesen sind, bedeutet dies, daß ihre lebendigen Erinnerungen schon bald nur noch über die Medien zugänglich sein werden. Dem auf Alttagskommunikation beruhenden kommunikativen ist das kulturelle Gedächtnis als Organ der außeralltäglichen Erinnerung gegenübergestellt, das alles Wissen beinhaltet, »das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.«205 Dies bedeutet, daß sich das kulturelle Gedächtnis auf diejenigen Fixpunkte in der Vergangenheit bezieht, die aus jenem durch das floating gap abgetrennten Raum der grauen Vorzeit über den Tod ihrer Träger hinaus bewahrt bleiben.206 Der mittlerweile klassisch gewordenen Definition Jan Assmanns zufolge handelt es sich dabei um »den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchstexten, -bildern und -riten […], in deren Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.«207 Im Gegensatz zu den Inhalten des kommunikativen Gedächtnisses basiert das kulturelle Gedächtnis nicht auf alltäglicher Kommunikation, sondern auf schicksalhaften Ereignissen der Vergangenheit, deren Erinnerung durch kulturelle Formung wachgehalten wird.208 Freilich vermag sich diese Vergangenheit auch in ihm nicht als solche zu erhalten, sondern gerinnt vielmehr zu Symbolen, an die sich die Erinnerung heftet.209 Diese Medien des kulturellen Gedächtnisses umfassen Artefakte wie Texte, Bilder und Skulpturen neben räumlichen Kompositionen wie Denkmäler, Architektur und Landschaften sowie zeitliche Ordnungen wie Feste, Brauchtum und Rituale.210 Da das kulturelle Gedächtnis auf keine lebendigen Kommunikatoren als Träger angewiesen ist, ist es in seiner Reichweite nahezu unbegrenzt, das heißt, seine Fixpunkte sind absolut und unabhängig von der fortschreitenden Gegenwart. 204 Vgl. ASSMANN, Teil I, S. 36-41, Keppler, Soziale Formen, S. 142. ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 9. 206 Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 52; FRIED, Der Schleier der Erinnerung, S. 85. 207 ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 12-15. 208 Vgl. FRIED, Erinnerung und Vergessen, S. 563-564; WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 14; dens., Das soziale Gedächtnis, S. 13. 209 Vgl. WELZER, Erinnern und Weitergeben, S. 156. 210 Vgl. ASSMANN, Teil I, S. 49-50; dies., Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses, S. 45-48, 59. 205 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses 69 Zu seinen zentralen Eigenschaften gehören: erstens seine Identitätskonkretheit beziehungsweise Gruppenbezogenheit, das heißt, daß das kulturelle Gedächtnis immer auf das Identitätskonzept bestimmter Kollektive – Völker, Staaten, Kommunen, Familien, Parteien, etc. – bezogen ist; zweitens seine Rekonstruktivität, das heißt, daß vom kulturellen Gedächtnis nur diejenigen Teile der Vergangenheit bewahrt werden, die dem Identitätsbedürfnis des Kollektivs entsprechen und sich auf die aktuelle gegenwärtige Situation beziehen lassen; drittens seine Geformtheit, das heißt, daß sich das kulturelle Gedächtnis auf Medien wie Schriften, Bilder oder Riten bezieht, in deren Form seine Inhalte repräsentiert und dadurch tradierbar werden; viertens seine Organisiertheit, womit eine institutionelle Absicherung von Kommunikation gemeint ist, das heißt, die Erinnerungen werden nicht dem Belieben des Einzelnen überlassen, sondern in einen Rahmen von Meinungen eingebettet, die von Institutionen gebildet und geprägt werden.211 Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß das kulturelle Gedächtnis den konzeptionell ausgefeiltesten Ansatz zur Erklärung der Rolle der Vergangenheit im Leben von Völkern und Nationen darstellt. Sein Konzept hat sich bislang vor allem für solche Gedächtniswelten als geeignet erwiesen, die für eine bestimmte historische Zeitspanne und für eine bestimmte kulturelle Gemeinschaft, etwa für ein bestimmtes Volk, Verbindlichkeit besaßen.212 Mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, insbesondere auf die Frage, ob sich aus den vorliegenden Zeitzeugeninterviews so etwas wie eine kollektive Erinnerung herausdestillieren läßt, ist festzustellen, daß die Begriffe des kommunikativen und kollektiven Gedächtnisses konzeptionell zu weit führen und daher in der folgenden Analyse keine Anwendung finden. In der vorliegenden Untersuchung geht es nicht um die Frage nach dem Zustandekommen einer Erinnerung, also ihren Einflußfaktoren, und auch nicht um die Rekonstruktion des kollektiven Gedächtnisses insgesamt beziehungsweise eines seiner Spielarten. Es geht vielmehr darum, anhand der in den Interviews dargelegten Erinnerungen zu untersuchen, ob sich die Vergangenheitskonstruktion der Zeitzeugen derart individuell gestaltet, daß von einer Atomisierung der Erinnerung ausgegangen werden muß, oder ob die von ihnen dargelegte Erinnerungsstruktur ein derart homogenes Muster besitzt, so daß von einer kollektiven Erinnerung an den Nationalsozialismus gesprochen werden kann. Als Gradmesser für diesen Untersuchungsschwerpunkt dient zum einen die Struktur der Erzählung, die es auf inhaltliche Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen hin zu untersuchen gilt, zum anderen die in Kapitel eins bereits erwähnten Topoi, in denen sich die Existenz einer kollektiven Erinnerung in besonderer konkreter Weise manifestiert. 211 ASSMANN, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, S. 13; dens., Das kulturelle Gedächtnis, S. 53, 59; BERING, Kulturelles Gedächtnis, S. 329-332. 212 Vgl. WISCHERMANN, Geschichte als Wissen, S. 65-67. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de 70 1.6 Gedächtnis und Erinnerung Konsequenzen für die Untersuchung Im vorangegangenen Abschnitt standen die sozialen Aspekte des Gedächtnisses im Mittelpunkt, insbesondere seine kommunikative Verfertigung und seine montagehafte Gestalt, in der Erinnerungen an Selbsterlebtes, Erinnerungen an Geschehenes und Mitgeteiltes sowie Erinnerungen an Erinnerungen ununterscheidbar zusammenfließen.213 Nun gilt es, aus diesen Befunden die notwendigen Schlußfolgerungen für die zu untersuchenden Zeitzeugenerinnerungen an den Nationalsozialismus zu ziehen. Die erste Konsequenz, die bereits durch die Formulierung der Fragestellung ausgesprochen wurde, besteht darin, daß die vorliegende Untersuchung nicht den Anspruch erhebt, neue Erkenntnisse über den historischen Hergang der Jahre 1933 bis 1945 hervorbringen zu wollen. Auch wenn unser Gedächtnis nicht selten eine gute und präzise Arbeit leistet, können vor dem Hintergrund seiner konstruktiven Funktionsweise seine Leistungen keineswegs als verläßlich eingestuft werden – zu viele Faktoren modifizieren und verzerren unsere Erinnerungen.214 Da Zeitzeugeninterviews, die über 50 oder 60 Jahre nach den betreffenden Ereignissen angefertigt worden sind, im Vergleich zu anderen Quellengattungen, deren Entstehungszeitpunkt zumindest in der Zeitgeschichte in der Regel zeitlich wesentlich näher am betreffenden Geschehen liegt, besonders anfällig für Verzerrungen und Verfälschungen sind, wäre es aus quellenkritischer Sicht unverantwortlich, hier von originalgetreuen Berichten auszugehen. Folglich geht es in der vorliegenden Untersuchung auch nicht um eine möglichst lückenlose Rekonstruktion historischer Sachverhalte, sondern um die Frage, wie die am damaligen Geschehen teilhabenden Zeitzeugen sich an die Zeit des Nationalsozialismus zurückerinnern, genauer gesagt, wie sie ihre Vergangenheit heute rekonstruieren und deuten. Mit der Fragestellung eng verbunden ist auch eine zweite Schlußfolgerung: Wie in Abschnitt 1.3 gezeigt werden konnte, setzt sich das Langzeitgedächtnis, um dessen Inhalte – nicht um die des Kurz- oder Ultrakurzzeitgedächtnisses – es in der vorliegenden Analyse geht, aus verschiedenen Subsystemen zusammen, die aus Sicht des Untersuchungsgegenstandes von unterschiedlicher Relevanz sind. Während implizite Gedächtnisinhalte, beispielsweise motorische Fähigkeiten (prozedurales Gedächtnis), oder das Wiedererkennen unbewußt aufgenommener Reize (Priming) wenig Aufschluß über die Zeitzeugenerinnerung an den Nationalsozialismus bieten, ist dies bei Informationen mit semantischem oder episodisch-autobiographischem Charakter um so mehr der Fall. Episodisch-autobiographische Informationen sind aus Sicht der Fragestellung insofern von Interesse, als daß sie Auskunft darüber geben, wie Zeitzeugen ihre eigene, selbsterlebte Vergangenheit heute rekonstruieren. Bei semantischen Inhalten handelt es sich dagegen um meist nachträglich erworbenes Wissen, das zwar auf keiner eigenen relevanten Erfahrung beruht, je- 213 214 Vgl. WELZER, Das kommunikative Gedächtnis, S. 207. Vgl. ZÄNKER, Unsere Erinnerungen, S. 74-77. © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de Konsequenzen für die Untersuchung 71 doch Aufschluß über die retrospektive Interpretation der historischen Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 und die Beurteilung der damals in politischer wie militärischer Hinsicht handelnden Personen bietet. Freilich ist es dabei nicht immer möglich, eindeutig zwischen semantischen oder episodisch-autobiographischen Inhalten zu unterscheiden, was mit dem deklarativen Charakter beider Gedächtnissysteme zusammenhängt. Wenn Zeitzeugen beispielsweise über ihre eigenen Reaktionen und Empfindungen anläßlich historisch einschneidender Ereignisse wie dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 berichten, so fließen hier selbsterlebte Erfahrung (episodisch) mit nachträglich erworbenem Wissen (semantisch) zusammen – in diesem Falle mit der Erkenntnis, daß dieser Krieg für Deutschland mit einer Niederlage enden sollte. Daß eine solche semantische Information nicht spurlos an den episodischen Erinnerungen eines Zeitzeugen vorübergeht, sondern vielmehr seine Überzeugung nährt: »Wie der Krieg ausbrach, waren wir überzeugt: ›Also dieser Krieg endete im Inferno, ganz sicher!‹«215, liegt angesichts der skizzierten Wirkungsweise des False-Memory-Mechanismus auf der Hand. Angesichts dieser Anfälligkeit des menschlichen Gedächtnisses für Verzerrungen und Verfälschungen muß die dritte Konsequenz dahingehend lauten, daß die in den Interviews dargestellten Ansichten und Erinnerungen mit den Ergebnissen der historischen Forschung zu konfrontieren sind, schließlich wäre es aus wissenschaftlicher Sicht in höchstem Maße unseriös, eine verzerrte Darstellung wie die erwähnte Dresdner Tieffliegerlegende unkommentiert stehen zu lassen. Wie der Fall Dresden verdeutlicht, ist es unverzichtbar, an die Aussagen der Zeitzeugen den Maßstab der Fachwissenschaft anzulegen. Dabei geht es nicht darum, den Nachweis zu erbringen, daß sich letztere nach über 50 oder 60 Jahren irren können – dies wäre angesichts der konstruktiven Funktionsweise des Gedächtnis keine neue Erkenntnis –, sondern vielmehr um die Frage, welche historischen Sujets von den Befragten in unreflektierter oder verzerrter Weise dargestellt werden und welche nicht und welche Erklärungsansätze sich hierfür aus den Erkenntnissen der Gedächtnisforschung ableiten lassen. Bei Aussagen wie: »Hitler […] hat viel Unglück gebracht«216, oder: »Der Frankreichkrieg […] dauerte ja nur sehr kurz«217, wäre ein solcher Abgleich allerdings wenig ertragreich, schließlich handelt es sich hier um solch banale und unbestreitbare Thesen, die keinerlei Überprüfung benötigen. Eine Konfrontation der Zeitzeugenerinnerung mit der Fachwissenschaft erscheint vielmehr dann sinnvoll, wenn die Vergangenheitskonstruktion der Befragten wie im Falle der Dresdner Tieffliegerangriffe in deutlichem Widerspruch zu den Ergebnissen der historischen Forschung steht. 215 Int. 01270, S. 3. Int. 01004, S. 8. 217 Int. 01345, S. 4. 216 © be.bra wissenschaft verlag www.bebra-wissenschaft.de