Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels

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Altersschätzung von Skelettmaterial –
Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels
Ronny Bindl, Rainer Nitsche und Horst Bruchhaus
Zusammenfassung – Das Ziel der vorliegenden Studie ist die Untersuchung der Relationen zwischen der Obliteration der
Schädeldachnähte und den alterspezifischen Veränderungen am Postcranium am Skelettmaterial des Gräberfeldes Briesnitz (Dresden;
10. bis 13. Jahrhundert). Des Weiteren sollten unter Berücksichtigung der Obliteration Hinweise zum Sterbealter der einzelnen Skelettfunde
erarbeitet werden. Die Informationen zum Sterbealter spielen im vorliegenden Fall neben der Geschlechtsbestimmung und der Relation
der Knochen zueinander eine wichtige Rolle, da bei dem Gräberfeld die Gräber z. T. in stark gestörtem bzw. verwühltem Zustand vorliegen.
Anschließend kann mit Hilfe der gewonnenen Ergebnisse die Gräberfeldbereinigung abgeschlossen werden.
In die vorliegende Untersuchung gingen 234 Skelettindividuen des Altersbereiches Juvenil und älter ein. Die Beurteilung der Obliteration
der Nähte des Schädeldaches erfolgte nach BROCA (1861) und NEMESKÉRI et al. (1966) sowie nach dem Verfahren von MEINDL/LOVEJOY
(1985) an der Tabula interna sowie der Tabula externa. Die Obliterationsgrade der jeweiligen Nahtabschnitte bzw. vollständig erhaltener
Nähte wurden danach mit den Angaben zum Sterbealter, der für die Altersschätzung verwendeten Knochen, des postcranialen Skeletts
verglichen und in Kreuztabellen gegenübergestellt. Erwartungsgemäß sind die Ergebnisse an der Tabula interna bessere als an der Tabula
externa. An allen Abschnitten der Sutura sagittalis (T. interna) wurden deutlich signifikante Zusammenhänge zum Skelettalter ermittelt.
Die unter Auslassung der Abschnitte C3 und L3 berechneten Obliterationsgrade führten zu einer deutlich besseren Übereinstimmung
zwischen den altersspezifischen Veränderungen am Postcranium und dem Nahtverschluss. Mit dem Verfahren von MEINDL/LOVEJOY (1985)
konnte keine Verbesserung der Ergebnisse am vorliegenden Material erreicht werden. Außerdem hat sich gezeigt, dass sich das Verfahren
am historischen Skelettmaterial mit schlechtem Erhaltungszustand kaum anwenden lässt.
Schlüsselwörter – Altersschätzung, Cranium, Obliteration
Abstract – The aim of this study is the research of the relation between the obliteration and the age specific changes of the postcranial
skeleton based on the material of the graveyard of Briesnitz (Dresden; 10th – 13th century). Furthermore, the obliteration should be used
to estimate age at death of the single skeletons. In the present case the informations about age at death, sex estimation and the relation
of the bones to each other are very important because of the bad state of preservation and the confused situation of the burials. Following
this identification results the revision of the graveyard could be finished.
In the present study 234 skeletal individuals with juvenile age or older were implicated. The evaluation of the obliteration of the skullsutures occurred according to BROCA (1861) and NEMESKÉRI et al. (1966) as well as to the method of MEINDL/LOVEJOY (1985) on the Tabula
interna and the Tabula externa. The degree of obliteration at the sutures was compared with the estimated age of the postcranial skeleton.
This results were compared in cross tabulations.
It could be shown that, as expected, the results at the Tabula interna were better then the results of the Tabula externa. All parts of
the Sutura sagittalis (T. interna) showed significant high correlations with age. The degrees of obliteration, which were calculated without
the parts C3 and L3, lead to an explicit better correlation between age at death and the obliteration. The method of MEINDL/LOVEJOY (1985)
was not able to upgrade the results at the present material. Furthermore this method was hardly applicable to the historic material with a
bad state of preservation.
Keywords – age estimation, crania, obliteration
Das Sterbealter ist neben dem Geschlecht einer
der wichtigsten Parameter zur Individualanalyse
von Skelettfunden und somit ein wesentlicher Bestandteil der Rekonstruktion prähistorischer und
historischer Populationen.
Zur Ermittlung des Sterbealters von Skelettindividuen stehen eine Vielzahl von morphologischen, röntgenologischen sowie histologischen
und chemischen, für subadulte Individuen zusätzlich auch metrische Verfahren zur Auswahl.
Die Anwendung der einzelnen Methoden zur Altersschätzung richten sich dabei vor allem nach
der Erfahrung des Bearbeiters und den technischen Möglichkeiten des jeweiligen Institutes.
Im Hinblick auf eine verhältnismäßig schnelle
und damit auch kostenarme Bearbeitung spielen
morphologische Verfahren zur Altersschätzung
eine wichtige Rolle. Dabei fanden vor allem die
Veränderungen am Os coxae (Facies symphysialis, Facies auricularis und Acetabulum) sowie am
Cranium (Obliteration der Nähte des Schädeldaches, wenn möglich in Verbindung mit der Abrasion der Zähne) Eingang in zahlreiche Studien.
Die Ungenauigkeit der morphognostischen
inkl. röntgenologischen Methoden, bedingt durch
die große Variabilität der altersspezifischen
Veränderungen, wurde und wird dabei häufig
kritisiert. Weiterführende histologische Untersuchungen am Skelett - insbesondere die Wurzelzementannulation an den Zähnen - werden im
Gegensatz zu den morphologischen Methoden
als wesentlich genauer eingeschätzt, sind aber
mit einem höheren technischen und zeitlichen
Aufwand verbunden.
Die Voraussetzung für den Einsatz morphognostischer, röntgenologischer und histologischer
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 25-33
Bulletin de la Société Suisse25d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Ronny Bindl, Rainer Nitsche und Horst Bruchhaus
Verfahren sind dabei genaue Kenntnisse, der in
der Literatur beschriebenen Verfahren. Insbesondere im ersten Schritt sollte bei der Graduierung,
d.h. der Einteilung der altersspezifischen Veränderungen in Stadien, die praktische Erfahrung
die Basis für jegliche Anwendung sein. Grundsätzlich sollten im Vorfeld solcher Studien Skelettmaterial mit bekanntem Alter und Geschlecht
in genügend hoher Individuenanzahl untersucht
werden. Somit wird der subjektive Faktor bei der
Materialaufnahme aber vor allem auch bei der Interpretation der Ergebnisse durch die erhöhte Genauigkeit deutlich minimiert. Im zweiten Schritt
können die aus den Untersuchungen am rezenten
Material gewonnenen Erkenntnisse auf die Sterbealtersschätzung des (prä-)historischen Skelettmaterials angewendet werden.
Obliterationsgrad der Suturae craniales - geschätztes Alter
Nahtabschnitt
Tabula externa
Sutura coronalis
1 (R / L)
2 (R / L)
3 (R / L)
Sutura sagittalis
1
2
3
4
Sutura lambdoidea
1 (R / L)
2 (R / L)
3 (R / L)
Tabula interna
Sutura coronalis
1 (R / L)
2 (R / L)
3 (R / L)
Sutura sagittalis
1
2
3
4
Sutura lambdoidea
1 (R / L)
2 (R / L)
3 (R / L)
Die Untersuchungen zu den alterspezifischen
Veränderungen am Skelett sowie an den Zähnen
haben seit jeher einen hohen Stellenwert am Institut für Humangenetik und Anthropologie der
FSU Jena und sind Bestandteil zahlreicher Arbeiten (u. a. LISS 2001, FORSTER 2002, BIEDERMANN 2003,
GOTTSCHALD 2003, VOIGT 2006, SEEBER 2007, KAISER
2007, VOLKMANN 2007, NITSCHE in Vorb.).
Auch die Untersuchungen zur Obliteration
der Nähte des Schädeldaches insbesondere am
alters- und geschlechtsbekanntem Skelettmaterial
fand Eingang in zahlreiche Arbeiten (u. a. HILDEBRAND/WUTSCHKE 1987, VOIGT et al. 2006). Die Bedeutung der Nahtobliteration als ein wichtiges
Hilfsmittel zur Sterbealtersschätzung von Skelettmaterial wurde dabei grundsätzlich bestätigt. Auf
den Einsatz dieses Verfahrens kann insbesondere
bei der Bearbeitung von (prä-) historischem Skelettmaterial mit z. T. sehr schlecht erhaltenem, d.
h. unvollständigem und fragmentiertem Skelettmaterial zur Unterstützung der Altersschätzung
nicht verzichtet werden.
Aufbauend auf die Arbeiten an rezentem Material (vgl. Tab. 1a-c), mit dessen Hilfe der Einblick
in die Beurteilung der alterspezifischen Veränderungen erarbeitet wurde, ist nun das Ziel der vorliegenden Studie die Untersuchung der Relationen
zwischen der Obliteration der Schädeldachnähte
und den alterspezifischen Veränderungen am
Postcranium. Des Weiteren soll am Skelettmaterial des Gräberfeldes Briesnitz (Dresden; 10.
bis 13. Jahrhundert) unter Berücksichtigung der
Obliteration ein weiterer Beitrag zur Altersschätzung erarbeitet werden. Die Informationen zum
Sterbealter spielen eine besonders große Rolle, da
bei dem vorliegenden Gräberfeld die Gräber z.
T. in stark gestörtem bzw. verwühltem Zustand
aktuell
Obliterationsgrad
0
4
Perzentile
Perzentile
90% 50%
50%
75%
75%
90%
Alter (unter) *
Alter (über)*
40
42
35
55
58
45
74
73
59
66
66
59
48
59
50
40
56
37
42
35
29
36
56
46
38
51
69
61
57
64
57
55
54
57
43
43
40
43
37
37
34
36
39
36
46
51
51
59
68
61
71
62
67
62
52
47
38
39
32
28
27
39
36
34
52
49
46
55
55
56
44
43
42
36
35
38
29
26
25
26
36
35
35
32
51
55
52
56
54
56
54
55
43
45
46
43
36
36
35
37
33
30
41
43
40
52
55
52
63
59
53
61
46
42
46
39
37
40
* ( R / L ): Der jeweils ungünstigere Wert wurde verwendet.
Tab. 1a Altersverteilung nach den Obliterationsgraden der
einzelnen Nahtabschnitte der rezenten Sammelserie (VOIGT et al.
2006).
Altersklasse in Jahren
ES
Punkte
20-29 30-39 40-49 50-59 60-69
1
0 -
1,4
51,0
2
1,5 -
9,4
23,0
5,0
6,0
3
9,5 -
19,4
9,0
7,0
2,0
4
19,5 -
29,4
6,0
20,0
6,0
5
29,5 -
39,4
6,0
20,0
6
39,5 -
46,4
3,0
12,0
7
46 <
2,0
24,0
n
16,0
19,0
12,0
4,0
-
>70
n
-
-
11,0
-
-
-
11,0
2,0
3,0
-
6,0
4,0
-
6,0
4,0
21,0
15,0
3,0
6,0
7,0
18,0
35,0
34,0
7,0
12,0
43,0
44,0
60,0
81,0
22,0
20,0
21,0
17,0
7,0
ES - Entwicklungsstadien; n - Anzahl
Tab. 1b Prozentuale Verteilung der einzelnen Kalotten der
rezenten Sammelserie entsprechend des Obliterationsgrades
ihrer Schädelnähte innerhalb festgelegter Altersklassen über
definierte Entwicklungsstadien (VOIGT et al. 2006).
vorliegen, und daher alle Informationen im Hinblick auf die Individualanalyse, insbesondere die
Ergebnisse der Altersschätzung und Geschlechtsbestimmung notwendig sind, um die einzelnen
Skelettelemente sicher zuordnen zu können.
In die vorliegende Untersuchung gingen 234
Skelettindividuen des Gräberfeldes Briesnitz
26
Altersschätzung von Skelettmaterial – Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels
Altersklasse in Jahren
ES
Punkte
50-59
60-69
>70
Alter in
Jahren
Vmin Vmax
20-29
30-39
40-49
1
0 -
1,4
76,0
17,9
6,0
-
-
-
20
43
2
1,5 -
9,4
67,6
(16,2)
(16,2)
-
-
-
20
48
-
25
60
3
9,5 -
19,4
39,1
30,4
(10,1)
(10,1)
(10,1)
4
19,5 -
29,4
14,3
47,6
14,4
9,5
(7,1)
(7,1)
27
75
5
29,5 -
39,4
8,5
28,2
29,6
21,1
(6,3)
(7,1)
27
72
6
39,5 -
46,4
2,8
11,0
16,5
32,1
32,1
6,4
28
81
7
46 <
0,8
9,4
16,9
17,3
23,6
31,9
24
81
ES - Entwicklungsstadien; n - Anzahl
Tab. 1c Prozentuale Verteilung der einzelnen Kalotten der
rezenten Sammelserie entsprechend des Obliterationsgrades
ihrer Schädelnähte innerhalb festgelegter Entwicklungsstadien
über aufeinander folgende Altersklassen (VOIGT et al. 2006).
(Dresden, Sachsen) des Altersbereichs Juvenil
und älter ein. Aufgrund der schwierigen Fundsituation konnten mit der notwendigen Sicherheit
zum aktuellen Stand lediglich zu 138 Individuen
Angaben zum Sterbealter des postcranialen Skeletts getroffen werden. Die Sterbealtersschätzung
am Postcranium erfolgte nach den Verfahren am
Os coxae nach MCKERN/STEWART 1957, OWINGS
1981 und OWINGS-WEBB/SUCHEY 1985 an der Crista iliaca, nach TODD 1923, MCKERN/STEWART 1957,
NEMESKÉRI et al. 1960, GILBERT/MCKERN 1973, SUCHEY 1979, BROOKS/SUCHEY 1990 und BRUCHHAUS et
al. 2003 an der Facies symphysialis sowie nach
LOVEJOY et al. 1985 und BUCKBERRY/CHAMBERLAIN
2002 an der Facies auricularis und nach SZILVÁSSY
1977 und OWINGS 1981 an den sternalen Gelenkfläche der Claviculae. Die Individuen wurden in
die anthropologischen Altersgruppen JuvenilAdult (J/A), Spätadult-Matur (SA/M) und Spätmatur-Senil (SM/S) eingeteilt. Dabei wurden die
Gruppen so gewählt, dass sich die Randbereiche
aufgrund der Streuung der morphologischen
Merkmale deutlich überlappen, die zentralen Bereiche der Altersgruppen sich aber deutlich unterscheiden.
Die Aufnahme der Obliteration der Nähte des
Schädeldaches erfolgte nach dem allgemein verwendeten Schema nach BROCA (1861) und nach
der Stadieneinteilung nach NEMESKÉRI et al. (1966)
von 0 (Naht vollständig offen) bis 4 (Naht vollständig verstrichen) an der Tabula interna sowie
der Tabula externa. Aus den Stadien der Obliteration der untersuchten Nahtabschnitte wurden
die Mittelwerte (Obliterationskoeffizienten) für
verschiedene Nähte gebildet (vgl. Abb. 1; Tab. 2).
Des Weiteren wurde die Obliteration nach dem
Verfahren von MEINDL/LOVEJOY (1985) aufgenommen und ausgewertet. Bei diesem Verfahren erfolgt die Einteilung in vier Stadien (0: Naht
vollständig offen bis 3: Naht vollständig verstrichen). Die Obliteration wird an 16 ein cm großen
Abb. 1 Übersicht über die Nähte des Schädeldaches nach BROCA
(1867; verändert).
Arealen am Schädel aufgenommen (vgl. Abb. 2.).
Obwohl die Methode nur eine Aufnahme an der
Tabula externa verlangt, wurde in Bezug auf eine
vollständige Materialaufnahme auch die Veränderungen an der Tabula interna aufgenommen.
Die Auswertung der Obliteration nach MEINDL/
LOVEJOY (1985) erfolgt durch die Bildung von
S. coronalis ( C )
links
C3
C2
rechts
C1
C2
C3
MW C1+2+3
MW C1+2+3
MW links C1+2 rechts
C1+2
MW links C1+2+3 rechts C1+2+3
S. saggitalis ( S )
S1
S2
S3
S4
MW S1+2+3+4
S. lambdoidea ( L )
links
L3
L2
rechts
L1
MW L1+2
MW L1+2+3
L1
L2
Tabula externa
Tabula interna (ohne C3+L3)
C1
MW C1+2
Tabula externa (ohne C3+L3)
Tabula interna
MW C1+2
L3
MW L1+2
MW L1+2+3
MW links L1+2 rechts L1+2
MW links L1+2+3 rechts L1+2+3
MW Tabula interna (ohne C3+L3) + Tabula externa (ohne C3+L3)
MW Tabula interna + Tabula externa
S - Sutura
MW - Mittelwert
Tab. 2 Übersicht über die im Rahmen der vorliegenden Arbeit
untersuchten und ausgewerteten Nahtabschnitte.
27
aktuell
Ronny Bindl, Rainer Nitsche und Horst Bruchhaus
Nahtabschnitt
Tabula interna Tabula externa
0,156
0,802
0,246
0,849
0,141
0,844
0,187
0,523
0,054
0,842
0,214
0,731
0,097
0,669
0,070
0,484
0,078
0,158
0,445
0,127
S. coronalis
0,177
0,222
0,274
0,270
0,136
0,189
0,054
0,554
0,150
0,111
0,261
0,234
0,088
0,563
Gesamt
0,619
0,131
0,354
Gesamt ohne C3
0,049
1
0,091
0,537
2
0,010
0,472
3
0,003
0,128
S. sagittalis
4
0,011
0,047
0,013
0,478
Gesamt
0,014
links
0,046
0,156
rechts
0,067
0,423
1
MW
0,026
0,163
MW+li+re*
0,008
0,163
links
0,064
0,283
rechts
0,017
0,160
2
MW
0,004
0,292
MW+li+re*
0,016
0,076
links
0,090
0,234
rechts
0,208
0,528
L. lamdoidea
3
MW
0,046
0,542
MW+li+re*
0,426
0,231
links
0,216
1,000
links L1+L2
0,021
0,094
rechts
0,200
0,374
rechts L1+L2
0,012
0,192
0,220
0,314
Gesamt
0,034
0,011
0,217
Gesamt ohne L3
0,020
0,044
0,591
Gesamt ohne C3+L3
0,257
0,407
Gesamt
1,000
links
rechts
3
MW
MW+li+re*
links
rechts
2
MW
MW+li+re*
links
rechts
1
MW
MW+li+re*
links
links C1+C2
rechts
rechts C1+C2
Abb. 2 Übersicht über die Nähte des Schädeldaches nach
MEINDL/LOVEJOY (1985).
Punktsummen einerseits für die Nahtabschnitte des Schädeldachsystems und andererseits für
die Nahtabschnitte des vorderen Nahtkomplexes
(vgl. Tab. 3).
Die Obliterationsgrade der jeweiligen Nahtabschnitte bzw. Nähte wurden danach mit den Altersgruppen vom postcranialen Skelett verglichen
und in Kreuztabellen gegenübergestellt. Die statistischen Zusammenhänge wurden mit Hilfe des
Chi-Quadrat-Tests geprüft und die Grenze des
Signifikanzniveaus bei p≤0,1 festgelegt.
Aufgrund der verhältnismäßig wenigen Individuen zu denen postcraniale Angaben zum Sterbealter vorliegen wurden die Obliterationsgrade
in drei Gruppen zusammengefasst (0; 1-2; 3-4).
Die Zusammenfassung der Stadien nach MEINDL/
LOVEJOY (1985) erfolgte in die Gruppen 0, 1-2 und 3
und die Zusammenfassung der Punktsummen
für das Schädeldachsystem in 0-7, 8-14 und 15-21
Schädeldachsystem
* (Zusammenfassung der Mittelwerte der zusammengehörigen linken und
rechten sowie der einzeln vorliegenden linken und einzelnen rechten
Nahtabschnitte)
Vorderer Nahtkomplex
(1)
Sutura lambdoidea (Mitte)
(6)
Sutura coronalis (Mitte)
(2)
Lambda
(7)
Pterion
(3)
Obelion
(8)
Sutura sphenofrontalis
(4)
Sutura sagittalis (anterior)
(9)
Sutura sphenotemporalis inferior
(5)
Bregma
(6)
Sutura coronalis (Mitte)
(7)
Pterion
Tab. 4 Vergleich der anthropologischen Altersgruppen
mit den jeweiligen Nähten und Nahtabschnitten
– Signifikanzwerte (p) der Kreuztabellen.
sowie für den vorderen Nahtkomplex in die
Gruppen 0-5, 6-10 und 11-15.
(10) Sutura sphenotemporalis superior
Die Ergebnisse der Signifikanztests für das Verfahren nach NEMESKÉRI et al. (1966) wurden in
Tabelle 4 zusammengefasst. Dabei zeigen sich
erwartungsgemäß an der Tabula interna bessere
Ergebnisse als an der Tabula externa. An der Ta-
Tab. 3 Nahtabschnitte nach MEINDL/LOVEJOY (1985).
aktuell
28
Altersschätzung von Skelettmaterial – Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels
Tabula interna S. coronalis (C3)
(li/re+li+re)
0
J/A
SA/M
SM/S
S
1-2
3-4
S
4
0
2
6
(9,52)
(0,00)
(4,76)
(14,29)
3
12
4
(9,52)
3
(7,14)
11
(7,14) (28,57)
3
11
(7,14) (26,19)
6
25
19
(45,24)
17
(40,48)
42
Tab. 9
Vergleich der
Altersgruppen
mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
saggitalis 1.
S
0
1-2
3-4
S
6
0
2
8
(4,44)
(17,78)
12
19
(13,33) (0,00)
5
2
(11,11) (4,44) (26,67)
4
1
13
(8,89) (2,22) (28,89)
15
3
27
(42,22)
18
(40,00)
S
0
1-2
3-4
5
0
2
(11,90) (0,00) (4,76)
6
2
10
(14,29) (4,76) (23,81)
4
2
11
(9,52) (4,76) (26,19)
15
4
0
1
(13,33) (0,00) (3,33)
3
1
9
S
5
(16,67)
13
(10,00) (3,33) (30,00) (43,33)
3
0
9
12
(10,00) (0,00) (30,00) (40,00)
10
1
19
30
(33,33) (3,33) (63,33) (100,00)
SM/S
0
1-2
3-4
S
6
1
1
8
(2,44)
(19,51)
9
17
(14,63) (2,44)
5
3
(12,20) (7,32) (21,95) (41,46)
3
(7,32)
14
3
10
16
(7,32) (24,39) (39,02)
7
20
41
(34,15) (17,07) (48,78) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
Tab. 10
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura
saggitalis 2.
4
23
S
7
Cranium - Obliterationsgrade
Tabula interna S. sagittalis (S2)
J/A
(16,67)
Altersgruppen
Altersgruppen
SM/S
SA/M
(33,33) (6,67) (60,00) (100,00)
Tabula interna S. coronalis (C)1
(li/re+li+re)
SA/M
J/A
S
Cranium - Obliterationsgrade
J/A
3-4
Tabula interna S. sagittalis (S1)
45
(...)-Angaben in Prozent
Tab. 7
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
coronalis 1
(Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten
sowie der
einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
SM/S
1-2
Cranium - Obliterationsgrade
Altersgruppen
Altersgruppen
SM/S
SA/M
0
(...)-Angaben in Prozent
Tabula interna S. coronalis (C2)
(li/re+li+re)
SA/M
J/A
(26,19) (14,29) (59,52) (100,00)
Cranium - Obliterationsgrade
J/A
Tabula interna S. coronalis
(C1+C2)
S
(...)-Angaben in Prozent
Tab. 6
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura
coronalis 2
(Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten
sowie der
einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
Cranium - Obliterationsgrade
Altersgruppen
Tab. 8
Vergleich der
Altersgruppen
mit den Obliterationsgraden
der Sutura
coronalis 1
und 2
(Mittelwert der
paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
Cranium - Obliterationsgrade
Altersgruppen
Tab. 5
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
coronalis 3
(Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten
sowie der
einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
18
(42,86)
17
(40,48)
42
SA/M
SM/S
S
(35,71) (9,52) (54,76) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
0
1-2
7
0
(16,67) (0,00)
5
3
3-4
S
1
8
(2,38)
(19,05)
9
17
(11,90) (7,14) (21,43) (40,48)
3
2
12
17
(7,14) (4,76) (28,57) (40,48)
15
5
22
42
(35,71) (11,90) (52,38) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
bula interna der Sutura coronalis zeigt sich kein
homogenes Verteilungsmuster (vgl. Tab. 5-8).
Dies betrifft zum einen etwaige Seitenunterschiede und zum andern die zusammenfassenden
Berechnungen mit bzw. ohne den Nahtabschnitt
C3, der meist in Bezug auf die Verstreichung der
Nähte eine höhere biologische Variabilität zeigt.
29
aktuell
Ronny Bindl, Rainer Nitsche und Horst Bruchhaus
Tabula interna S. sagittalis (S3)
Altersgruppen
J/A
SA/M
SM/S
S
0
1-2
3-4
S
7
1
1
9
(16,67) (2,38) (2,38)
3
5
8
(21,43)
Tab. 11
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura
saggitalis 3.
Cranium - Obliterationsgrade
Tabula interna S. lambdoidea
(L1) (li/re+li+re)
J/A
Altersgruppen
Cranium - Obliterationsgrade
16
(7,14) (11,90) (19,05) (38,10)
2
3
12
17
(4,76) (7,14) (28,57) (40,48)
12
9
21
42
Tabula interna S. sagittalis (S4)
S
0
1-2
3-4
S
7
0
1
8
(16,28) (0,00) (2,33)
2
11
Tab. 12
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura
saggitalis 4.
J/A
(18,60)
18
2
12
17
(6,98) (4,65) (27,91) (39,53)
15
4
24
43
S
1-2
3-4
S
6
0
1
7
(16,67) (0,00)
0
(2,78)
(19,44)
9
15
(16,67) (0,00) (25,00)
1
11
(5,56) (2,78) (30,56)
14
1
21
Tab. 13
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura
saggitalis.
5
5
7
17
(13,51) (13,51) (18,92) (45,95)
15
6
16
37
(40,54) (16,22) (43,24) (100,00)
0
1-2
3-4
S
6
0
1
7
(15,79) (0,00) (2,63)
2
3
8
(18,42)
13
(5,26) (7,89) (21,05) (34,21)
1
11
18
(15,79) (2,63) (28,95) (47,37)
14
4
20
38
Tab. 15
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
lambdoidea
2 (Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
(36,84) (10,53) (52,63) (100,00)
Cranium - Obliterationsgrade
Tabula interna S. lambdoidea
(L3) (li/re+li+re)
J/A
Altersgruppen
Altersgruppen
SM/S
0
2
(18,92)
(...)-Angaben in Prozent
Tabula interna S. sagittalis
6
(0,00)
(16,22) (2,70)
6
SM/S
(34,88) (9,30) (55,81) (100,00)
Cranium - Obliterationsgrade
SA/M
SA/M
S
(...)-Angaben in Prozent
J/A
7
Tabula interna S. lambdoidea
(L2) (li/re+li+re)
(11,63) (4,65) (25,58) (41,86)
3
S
0
Cranium - Obliterationsgrade
Altersgruppen
Altersgruppen
SM/S
3-4
1
(...)-Angaben in Prozent
Cranium - Obliterationsgrade
SA/M
SM/S
(28,57) (21,43) (50,00) (100,00)
5
1-2
6
4
0
9
13
SA/M
(10,81) (0,00) (24,32) (35,14)
S
(...)-Angaben in Prozent
J/A
0
Tab. 14
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
lambdoidea
1 (Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
(41,67)
14
(38,89)
36
SA/M
SM/S
S
(38,89) (2,78) (58,33) (100,00)
0
1-2
5
0
(15,63) (0,00)
4
1
3-4
1
6
(3,13)
(18,75)
6
(12,50) (3,13) (18,75)
6
1
8
(18,75) (3,13) (25,00)
15
2
S
15
11
(34,38)
15
(46,88)
32
Tab. 16
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
lambdoidea
3 (Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
(46,88) (6,25) (46,88) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
(...)-Angaben in Prozent
An allen Abschnitten der Sutura sagittalis (T.
interna) wurden deutlich signifikante Zusammenhänge zun den Altersgruppen des Postcraniums ermittelt (vgl. Tab. 9-13).
Bei der Betrachtung der Sutura lambdoidea
(T. interna) wurden an den Nahtabschnitten L1
und L2 signifikante Zusammenhänge ermittelt.
Der Nahtabschnitt L3 zeigt keine Signifikanz. Die
aktuell
30
Altersschätzung von Skelettmaterial – Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels
Tab. 20
Vergleich der
Altersgruppen
mit den Punktsummen des
Schädeldachsystems nach
MEINDL/LOVEJOY
(1985).
Cranium - Obliterationsgrade
SA/M
SM/S
S
1-2
3-4
S
2
0
0
2
(0,00)
(11,76)
5
8
(11,76) (0,00)
1
2
(5,88) (11,76) (29,41) (47,06)
2
1
4
7
(11,76) (5,88) (23,53) (41,18)
5
3
9
Altersgruppen
SM/S
S
SM/S
(29,41) (17,65) (52,94) (100,00)
0-7
8-14
15-21
S
4
0
0
4
(44,44) (0,00) (0,00)
1
1
(11,11) (11,11) (0,00)
2
0
(44,44)
0
2
(22,22)
1
3
(22,22) (0,00) (11,11) (33,33)
7
1
1
9
(77,78) (11,11) (11,11) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
Tab. 21
Vergleich der
Altersgruppen
mit den Punktsummen des
Vorderen
Nahtkomplex
nach MEINDL/
LOVEJOY
(1985).
Tabula interna S. lambdoidea
(L1+L2)
SA/M
SA/M
S
Cranium - Obliterationsgrade
J/A
J/A
17
(...)-Angaben in Prozent
Tab. 18
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden der
Sutura lambdoidea 1 und
2 (Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
Schädeldachsystem
0
1-2
3-4
S
4
0
0
4
(0,00)
(16,67)
(16,67) (0,00)
1
1
7
9
(4,17)
(4,17)
(29,17)
(37,50)
2
2
7
11
(8,33)
(8,33)
(29,17)
(45,83)
7
3
14
24
Cranium - Punktsummen
Vorderer Nahtkomplex
J/A
Altersgruppen
J/A
0
Cranium - Punktsummen
Altersgruppen
Tabula interna S. lambdoidea
Altersgruppen
Tab. 17
Vergleich der
Altersgruppen mit den
Obliterationsgraden
der Sutura
lambdoidea
(Mittelwert
der paarigen
linken und
rechten sowie
der einzelnen
linken und
einzelnen
rechten).
SA/M
6-10
11-15
S
4
0
0
4
(33,33) (0,00) (0,00)
2
1
0
(16,67) (8,33) (0,00)
4
SM/S
S
(29,17) (12,50) (58,33) (100,00)
0-5
0
1
(33,33) (0,00) (8,33)
10
1
1
(33,33)
3
(25,00)
5
(41,67)
12
(83,33) (8,33) (8,33) (100,00)
(...)-Angaben in Prozent
(...)-Angaben in Prozent
Hand des Obliterationsgrades der Tabula externa
liefert ungenauere Ergebnisse als die der Tabula
interna und sollte daher nur mit der nötigen Vorsicht zur Altersschätzung eingesetzt werden. Besonders gut geeignet erscheint die Sutura sagittalis an der Tabula interna, da sie relativ unanfällig
für mechanische Einflüsse sein soll (HERSKOVITZ et
al. 1997). Die Sutura lambdoidea besitzt besonders
im Abschnitt L3 eine sehr komplexe Struktur und
weist des Weiteren oft Nahtknochen auf, welche
den Obliterationsverlauf zusätzlich beeinflussen.
Daher sollte auch die S. lambdoidea nur mit großer Vorsicht für die Altersschätzung verwendet
werden.
Das Verfahren von MEINDL/LOVEJOY (1985)
– Verwendung von vier Stadien, Beurteilung der
Obliteration an 16 ein cm großen Nahtabschnitten, Berechnung von Punktsummen – konnte am
vorliegenden Material zu keiner Verbesserung
der Ergebnisse beitragen. Die Vergleiche an den
Abschnitten der Nähte des Schädeldaches zeigen
zusammenfassenden Berechnungen der S. lambdoidea unter Auslassung der Abschnitte L3 zeigen eine deutliche Verbesserung der Ergebnisse
(vgl. Tab. 14-18).
Die Berechnung der Obliterationsgrade unter
Auslassung der Abschnitte C3 und L3 führten zu
einer deutlich besseren Übereinstimmung zwischen den Altersgruppen des Postcraniums und
dem Nahtverschluss.
Die Ergebnisse für die Obliteration nach
MEINDL/LOVEJOY (1985) wurden in Tabelle 19 zusammengefasst. Die Verteilungen der Obliterationsgrade im Vergleich zum Skelettalter finden
sich für das Schädeldachsystem in Tabelle 20 und
für den vorderen Nahtkomplex in Tabelle 21, wobei auf die sehr geringe Individuenanzahl hingewiesen werden muss.
Die vorliegenden Ergebnisse zeigen, wie schwierig die Verwendung der Schädelnähte für die
Sterbealtersschätzung ist. Die Altersschätzung an
31
aktuell
Ronny Bindl, Rainer Nitsche und Horst Bruchhaus
Nahtabschnitt
links
Sutura sphenotemporalis superior rechts
Sutura sphenotemporalis inferior
Sutura sphenofrontalis
Pterion
Sutura coronalis (Mitte)
-
1,000
1,000
1,000
MW
0,333
1,000
links
-
1,000
rechts
-
-
MW
-
1,000
links
-
0,491
rechts
1,000
1,000
MW
1,000
0,381
links
-
1,000
rechts
1,000
1,000
MW
0,333
0,725
links
0,052
0,459
rechts
0,139
0,645
MW
0,026
0,410
Bregma
0,048
0,154
Sutura sagittalis (anterior)
0,044
0,241
Obelion
0,002
0,144
Lambda
0,049
0,397
links
0,060
0,311
rechts
0,021
0,554
MW
0,030
0,321
Schädeldachsystem
1,000
0,194
Vorderer Nahtkomplex
-
0,545
Sutura lambdoidea (Mitte)
Die vorliegenden Ergebnisse geben Hinweise
zu den alterspezifischen Veränderungen am Skelett, es sollte jedoch berücksichtigt werden, dass
aufgrund der schwierigen Fundsituation und des
z. T. schlechten Erhaltungszustandes die Anzahl
der in die jeweiligen Vergleiche eingegangenen
Individuen verhältnismäßig gering waren.
Tabula interna Tabula externa
In weiteren Untersuchungen ist geplant etwaige
Geschlechtsunterschiede bei der Obliteration der
Nähte, wie sie von einigen Autoren (u. a. HAJNIS/NOVAK 1976, KEMKES-GROTTENTHALER 1996) beschrieben werden, zu untersuchen.
Literatur
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von Schädelknochen und Schädelknochenfragmenten
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suivant les individus et suivant les races. Bull Soc
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- (1861): Sur les rapports anatomiques des divers
points de la surface du crâne et des diverses parties
des hémisphères cérébraux. Bull. Soc. d‘Anthropol. 2,
1861, 340–357.
Tab. 19 Vergleich der anthropologischen Altersgruppen mit den
jeweiligen Nähten und Nahtabschnitten nach MEINDL/LOVEJOY
(1985)- Signifikanzwerte (p) der Kreuztabellen
BROOKS, S./J. SUCHEY (1990): Skeletal age determination
base on the os pubis: A comparison of the AcsádiNemeskéri and Suchey-Brooks Methods. Human
Evolution 5, 1990, 227–238.
ähnliche Übereinstimmungen zu den Altersgruppen des Postcraniums wie bei dem Verfahren
nach NEMESKÉRI et al. (1966). Von der Verwendung
der Abschnitte nach MEINDL/LOVEJOY (1985; vgl.
Abb. 2) an der Sutura sphenofrontalis sowie der
Sutura sphenotemporalis inferior und superior
muss deutlich abgeraten werden. Des Weiteren
kann das Verfahrens am (prä-) historischen Skelettmaterial nur selten angewendet werden, da
ein nahezu vollständiges Calvarium erforderlich
ist um die 16 Nahtabschnitte zu beurteilen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, das die
Obliteration der Nähte insbesondere bei schlecht
erhaltenem Skelettmaterial nützliche Hinweise
zur Altersschätzung liefern kann. Es ist aber davon abzuraten, die Obliteration als alleinigen Parameter zur Altersschätzung zu verwenden (vgl.
NEMESKÉRI et al. 1960).
aktuell
BRUCHHAUS, H./LUDWIG, M./C. MÜLLER (2003):
Zur Altersschätzung am Os pubis. Beiträge zur
Archäozoologie und prähistorischen Anthropologie 4,
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revised method. Am. J. Phys. Anthropol. 119(3), 2002,
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besonderer Berücksichtigung der Ossa pubica. Diss.
Jena 2002.
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Individuen sowie zur Altersschätzung subadulter
Individuen. Diss. Jena 2003.
32
Altersschätzung von Skelettmaterial – Untersuchungen zur Obliteration der Nähte des Schädels
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J. Phys. Anthropol. 68, 1985, 15–28.
Ronny Bindl M. Sc., Rainer Nitsche,
Dr. Horst Bruchhaus
Institut für Humangenetik und Anthropologie
Friedrich-Schiller Universität Jena
Kollegiengasse 10
07740 Jena
[email protected]
[email protected]
MCKERN, S. W./T. D. STEWART (1957): Skeletal age
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standpoint of age identification. Headquarters QM.
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Anthrop. Anz. 24, 1960, 70–95.
33
aktuell
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Schwetzingen
Claudia Gerling und Michael Francken
Zusammenfassung – Das Gräberfeld von Schwetzingen (Baden-Württemberg) ist mit 203 identifizierbaren Gräbern eine der größten
bekannten Nekropolen der frühneolithischen Linearbandkeramik. Es befand sich südlich der Neckarmündung am Rande der Rheinebene.
Im Großen und Ganzen weist Schwetzingen die Merkmale bekannter Nekropolen dieser Kultur auf: Die Toten legte man weitgehend
in linker Hockerlage in NO-SW-orientierten engen Grabgruben nieder. Ungefähr der Hälfte der Bestatteten wurden Beigaben in Form
von Keramikgefäßen, Geräten aus Felsgestein, Silex, Knochen und Geweih sowie Schmuck mitgegeben. Die unterschiedlichen
Verzierungsmotive der Keramik legen eine Datierung in die jüngere Linearbandkeramik, in die Zeit um 5200/5000 v. Chr., nahe.
Neben den knapp 200 Körpergräbern beinhaltet das Gräberfeld auch eine Reihe von Brandbestattungen und so genannten Leergräbern.
Eine vollständige anthropologische Auswertung fand bisher nicht statt, grundlegende Arbeiten wurden aber bereits durchgeführt. Damit
werden erste vorläufige Aussagen zur Alter- und Geschlechtszusammensetzung möglich. Die Zahl der Frauen innerhalb der Population
übersteigt die der Männer, während eine auffällig große Zahl an Kindern zu verzeichnen ist. Im Übrigen ist das Gräberfeld in seiner
Zusammensetzung mit anderen Fundstellen dieser Periode vergleichbar.
Schlüsselwörter – Anthropologie, Baden-Württemberg, Demographie, Gräberfeld, Linearbandkeramik, Neolithikum, Rheintal.
Abstract – The cemetery of Schwetzingen (Baden-Württemberg) is with its 203 remaining graves one of the largest known necropolises
of the early Neolithic Linear Bandceramic culture (LBK). It was located south of the mouth of the Neckar into the Rhine, at the edge of
the Rhine valley. On the whole Schwetzingen shows the characteristics of the known cemeteries of this culture. The dead were mostly
laid down on left side in a flexed position in NE-SW-orientated, narrow grave pits. Approximately 50 % of the dead were buried with grave
gifts such as pottery and tools out of stone, silex, bone and antler and trinket. The findings in the grave, especially the ceramics’ varying
ornamentation, suggest a dating around 5200/5000 BC.
Beside nearly 200 body burials some cremated remains and some so called empty graves were found at the cemetery. A complete
anthropological analysis hasn´t been carried out but fundamental informations exist. Based on these results some preliminary statements
concerning the composition of age and gender are possible. Within the population the women exceed the men while a large number of
children is recorded. As for the rest the momentary anthropological results of the cemetery are comparable with other sites of this period.
Keywords – Anthropology, Baden-Württemberg, cemetery, Demography, Early Neolithic, Linear Bandceramic culture, Rhine valley.
Einleitung
Bereits im September 1988 war das Gräberfeld
von Schwetzingen im Zusammenhang mit Baumaßnahmen entdeckt worden und wurde in den
folgenden Monaten ausgegraben. Nach mehreren
kurzen vom Ausgräber Dr. R.-H. Behrends verfassten Vorberichten und Artikeln (u.a. BEHRENDS
1989; ders. 1990; ders. 1993) lag der Friedhof
„brach“. Fast 15 Jahre später erfolgten nun noch
unabgeschlossene Bearbeitungen auf archäologischer und anthropologischer Seite (u.a. GERLING
2006, FRANCKEN 2006), deren Zwischenergebnisse
an dieser Stelle vorgestellt werden sollen.
Archäologie …
Die bandkeramische Nekropole von Schwetzingen aus der Zeit der jüngeren Linearbandkeramik
(um 5200-5000 v. Chr.) befand sich am Rande der
Rheinebene, südlich der Mündung des Neckars
in den Rhein.
203 Gräber bzw. 211 Bestattungen konnten
auf unregelmäßig langovalen Nekropole identifiziert werden (Abb. 1). 194 davon können als
Körper-, neun als Brandgräber angesprochen
werden. Wahrscheinlich erhaltungsbedingt wurden Brandgräber großteils im südlichen Gräberfeldareal gefunden, wo sich die Grabgruben tiefer
im Boden erhielten.
Des Weiteren wurden 16 grabähnliche Gruben
gegraben. Vier dieser Gruben enthielten teilweise
Skelettreste und beigabenähnliche Artefakte und
fungierten aufgrund dessen als Kenotaphe.
Meist langovale oder annähernd eckige, 1 m
bis 2 m lange Grabgruben fassten die Körperbestattungen. Ins Grab gelegt wurden die Toten,
wie für die Bandkeramik üblich, vornehmlich in
linksseitiger Hockerlage (Abb. 2). Indessen lag
nur ein Fünftel der Skelette in rechter Hockerposition. Die Ausnahme bildet die gestreckte Lage.
Ferner stellen Mehrfach- und Nachbestattungen
Sonderfälle dar.
Obwohl fast die Hälfte der Toten (48 %) nordost-südwestlich orientiert lag, wirkt die Nekropole in Bezug auf die Skelettausrichtung verhältnismäßig uneinheitlich. Die zweithäufigste
Orientierung war die in die Gegenrichtung Südwest-Nordost (21 %). Davon abweichende Ausrichtungen spielen eine untergeordnete Rolle.
Die karge Ausstattung der Gräber sticht ins
Auge, denn nur die Hälfte der Bestatteten bekam
Beigaben ins Grab. Diese „Beigabenarmut“ konn-
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 43-50
Bulletin de la Société Suisse43d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Claudia Gerling und Michael Francken
Abb. 1 Gesamtplan des Gräberfeldes. RPK 25.
waren diese auch in die Grubenverfüllung eingestreut. In Bezug auf die anthropologische Auswertung interessante Gefäße sind die nahezu
identisch dekorierten Kümpfe aus den Gräbern
21 und 43. Bestand eine Beziehung zwischen den
beiden Toten? Einem Kind wurde ein mit organischem Material überzogener, verzierter Kumpf
mitgegeben. Welche Funktion hatte die Ummantelung? Welche Rolle spielte der oder die Tote?
Neben der Keramik wurde den Toten vor allem
Silex in Form von Klingen und Pfeilspitzen mitgegeben. Auffallend ist die große Anzahl an sehr
langen und unbearbeiteten Klingen, die typisch
für ältere Männerbestattungen zu sein scheinen
(Abb. 2). Jüngere Tote erhielten hingegen weitestgehend fragmentierte Klingen. Pfeilspitzen lagen
primär im Nordwesten des Friedhofes, dort auch
in größeren Ensembles, wohingegen im Südteil
zwar Gräber mit Pfeilspitzen ausgestattet waren,
diese aber auf eine Anzahl von ein bis zwei Spitzen pro Grab beschränkt waren. Wurde nun der
te auch bei den beiden anderen LBK-Friedhöfen
auf dem Gebiet des heutigen Baden-Württembergs (Stuttgart-Mühlhausen und Fellbach-Oeffingen) verzeichnet werden (NIESZERY 1995, 104).
Keramik ist die Beigabe, die den Toten am häufigsten mitgegeben wurde (Abb. 3). Meist handelt
es sich um ein, maximal zwei, Keramikgefäße,
die vorwiegend in Kopfnähe abgestellt wurden.
Die Verzierungen – beliebteste Dekoration waren
beidseitig von Einstichreihen bzw. schräg gesetzten kurzen Strichen gerahmte plastische Leisten
– weisen auf eine überwiegende Belegung der Nekropole in der jüngeren Bandkeramik hin. Nur wenige Gefäßverzierungen – Winkelbänder mit vertikalen Einstichreihen in den Zwickeln – datieren
in die mittlere LBK und nur ein Gefäß trägt ein
flombornartiges Dekor, das an den Beginn der
mittleren Linearbandkeramik zu setzen ist. Neben vollständigen Kümpfen, Flaschen und Schalen fanden sich vereinzelte Scherben unterschiedlicher Gefäßeinheiten direkt am Skelett, oftmals
aktuell
44
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Schwetzingen
Abb. 2 Grab 106. RPK 25.
Abb. 3 Keramikgefäße der Gräber 160 und 201. CG.
45
aktuell
Claudia Gerling und Michael Francken
nen sekundär durchlochten, flachen Dechsel und
einen doppelschneidigen, durchlochten Dechsel
– scheinen u.a. aufgrund ihrer Rarität neben ihrer Primärfunktion als Werkzeug einen hohen
Prestigewert besessen zu haben. Sie waren nicht
allein auf Männergräber beschränkt, sondern der
doppelschneidige Dechsel („Zeremonialaxt“ (BEHRENDS 1990, 47)) lag in einem Kindergrab (Abb. 5
unten). Was war das für ein Kind, dem ein solches
Statussymbol in verbranntem Zustand mitgegeben wurde? Generell wurden die Schwetzinger
Kinder nicht beigabenlos bestattet, sondern ihre
Gräber waren teilweise reich mit Beigaben versehen.
Des Weiteren lagen zu einem nicht geringen
Teil Tierknochen und Geweihe als Rohmaterialien
für die Geräteherstellung vor. Hervorzuheben ist
die große Anzahl an dreieckigen Knochenspitzen
(21 Exemplare), deren zahlreiches Vorkommen
im Gegensatz zum ansonsten raren Auftreten
dieser Artefakte steht (Abb. 2). Da sie bei nur einer anthropologisch sicher weiblich bestimmten
Toten lagen, können sie in Schwetzingen als männerspezifisch gelten. Form und Gestaltung sowie
ihre Lage, die sich auf Kopf- und Fußbereich konzentrierte, machen eine Deutung als Pfeilspitzen
wahrscheinlich. Dies wird durch die Verteilung
Zugang zum Rohmaterial Silex knapper und/
oder änderte sich die Beigabentradition? Hervorzuheben ist Grab 133 mit zehn Silexspitzen, von
denen acht am Oberarm des Bestatteten beieinander lagen (Abb. 4). Die großteils gleiche Ausrichtung spricht für eine Anordnung in einem Köcher
aus organischem Material. Der Tote wurde auch
mit weiteren Beigaben großzügig ausgestattet
und in selten vorkommender gestreckter Rükkenlage bestattet, weshalb eine herausragende
Stellung des Mannes innerhalb der Schwetzinger
Gemeinschaft anzunehmen ist.
Ein Werkzeug aus Felsgestein befand sich in
ungefähr jedem zehnten Grab. Unterscheiden lassen sich hohe, flache und Miniaturdechsel sowie
in geringer Zahl vorliegende durchlochte Steingeräte (Abb. 5). Dechsel scheinen eine typische
Beigabe für Männer mittleren Alters gewesen zu
sein, denn in nur einem Fall lag ein Exemplar bei
einer anthropologisch sicher weiblich bestimmten
Bestatteten. Da nur wenige Artefakte Gebrauchsspuren aufweisen, kann bei den meisten Geräten
von einer Herstellung speziell als Grabbeigabe ausgegangen werden. Die vier durchlochten
Steingeräte, die in Schwetzingen geborgen werden konnten, – es handelt sich dabei um zwei
Scheibenkeulen (eine davon ist verschollen), ei-
Abb. 4 Grab 133. RPK 25.
aktuell
46
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Schwetzingen
Abb. 5 Geräte aus Felsgestein, Gräber 220 und 21. CG.
auf unterschiedliche Friedhofsareale unterstrichen. Während im Nordteil Silexspitzen dominieren, sind im Südosten Knochenspitzen gehäuft
und teilweise in mehrfachen Ensembles vertreten.
Dies lässt sich zeitlich und/oder mit unterschiedlichen Ausstattungstraditionen erklären. Für
weitere anthropologische Analysen interessant
erscheinen acht lange, undurchlochte Knochenspitzen, die einer älteren Frau in die Hand gelegt
wurden. Sie weisen Ähnlichkeiten zu Flachskämmen aus Feuchtbodengrabungen auf. Ebenfalls
bei den Knochen- und Geweihartefakten ist ein
Kindergrab hervorzuheben. In Grab 129 lag eine
Geweihhacke in einem sonst beigabenlosen Grab
eines Kindes. Erfüllte das Artefakt allein repräsentative Zwecke. In diesem Fall stellt sich die
Frage nach der Stellung der Kindes und seiner
Familienzugehörigkeit.
Die prestigeträchtigen Spondylusmuscheln
schmückten die Toten in Form von Röhrenperlen,
durchlochten Scheiben und Armreifen. Als gering
zu erachten ist der Anteil von nur 2 % spondylusführenden Gräbern (WILLMS 1985, 339 f.). Dieser
Schmuck scheint kein bestimmtes Geschlecht oder
Altersgruppe sondern eher einzelne Individuen
aus anderen Gründen hervorzuheben. Eventuell
können anthropologische Untersuchungen diese
Gründe erkennbar werden lassen.
Was nun zeichnet Schwetzingen, eines der
größten bekannten LBK-Gräberfelder, in archäologischer Hinsicht aus? Im Großen und Ganzen
ist es „normal unnormal“. Auffällig ist die ärmliche Beigabensitte, die auch für die am Neckar
gelegenen Nekropolen belegt ist (NIESZERY 1995,
104). In Hinsicht auf die Keramik lässt sich die
Nekropole regional jedoch an die Pfalz angliedern. Nur wenige „reich“ ausgestattete Gräber
erscheinen einzeln verteilt auf dem Friedhof. Das
Gräberfeld von Schwetzingen spiegelt folglich
eine Gesellschaft wieder, die nicht als egalitär zu
bezeichnen ist sondern aus der sich einzelne Individuen hervorheben.
… und Anthropologie
Obwohl das Gräberfeld in den Jahren 1988/89
ausgegraben wurde und eine ganze Reihe spezieller Fragestellungen am anthropologischen Material überprüft wurden, ist die Auswertung der
Knochen zum momentanen Zeitpunkt noch nicht
abgeschlossen. Dementsprechend handelt es sich
47
aktuell
Claudia Gerling und Michael Francken
bei den vorgestellten Ergebnissen um eine Zwischenbilanz, die in nächster Zeit weiter ergänzt
werden soll.
Der Erhaltungszustand des Skelettmaterials
aus dem Gräberfeld von Schwetzingen kann als
überwiegend gut charakterisiert werden. Insgesamt sind 194 Körpergräber geborgen worden,
außerdem wurden 16 Brandbestattungen identifiziert (TRAUTMANN & WAHL 2005), von denen sieben
innerhalb von Körpergräbern gefunden wurden.
Zusätzlich wurden 15 Grabbefunde als Leergräber klassifiziert, die in jüngster Vergangenheit
im Rahmen einer Magisterarbeit von M. Wenzel
(WENZEL 2007) untersucht wurden.
Zu den bereits ausgeführten Basisarbeiten
gehört die Präparation des Knochenmaterials,
außerdem eine erste Alters- und Geschlechtsbestimmung durch J. Wahl. Die osteometrische Erfassung sowie eine pathologische Sichtung des
Materials wurde ebenfalls durch J. Wahl durchgeführt, eine Interpretation der Daten steht allerdings noch aus. Unabhängig von der eigentlichen
Analyse wurden die Skelette zur Untersuchung
von speziellen Fragestellungen herangezogen.
Darunter fallen die Auswertung von Sonderbestattungen in Form von Brand- und möglichen
Leergräbern, die Analyse des Strontiumgehalts
(BENTLEY ET AL. 2002) und ein Vergleich von Al-
Basistabelle für Geschlechtsverteilung (n=211)
♂♂
♀♀
Unbestimmt
5,3
11,4
61,1
Erwachsene
50,5 62,4
19,9
Gesamt
55,8 73,8
81,0
Kinder & Jugendliche
Tab. 1 Vorläufige Geschlechterverteilung aufgeteilt nach NichtErwachsenen und Erwachsenen (n = 211).
tersbestimmungsmethoden bei erwachsenen Individuen unter besonderer Berücksichtigung der
Zahnzementannulation (FRANCKEN 2006).
Dank der vorläufigen Geschlechtsbestimmung
lassen sich erste Aussagen zur Zusammensetzung innerhalb des Gräberfeldes machen. Insgesamt wurde bei 211 Individuen eine Geschlechtsdiagnose versucht, eine Bestimmung war bei 130
Individuen möglich, während 81 Skelette nicht
genauer klassifiziert werden konnten (Tab. 1). Innerhalb der Gruppe der geschlechtsbestimmten
Individuen vereinen sich sowohl sichere als auch
noch fragliche Skelette, bei denen eine definitive
Entscheidung noch aussteht. Zusätzlich zu den
Erwachsenen wurde, soweit möglich, das Geschlecht der Kinder und Jugendlichen bestimmt.
Die Ergebnisse sind ebenfalls in der Auflistung
berücksichtigt worden und haben einen großen
30
Anzahl der Gestorbenen
25
20
15
10
5
0
0-4
5-9
10 - 14 15 - 19 20 - 24 25 - 29 30 - 34 35 - 39 40 - 44 45 - 49 50 - 54 55 - 59
Altersgruppen in Jahren
Dx(ƃƃ)
Dx(ƂƂ)
Dx(Unbestimmt)
Abb. 6 Vorläufige Altersverteilung (n = 211).
aktuell
48
60 - x
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Schwetzingen
Einfluss auf das Segment der unbestimmten Individuen. Konnte das Alter bei der Bestimmung
nicht in die vorgegebenen 5-Jahres-Kategorien
eingegrenzt werden, ist das Individuum gleichmäßig auf alle betroffenen Altersgruppen verteilt
worden. Individuenzahlen mit Dezimalstellen
(wie in Tab. 1) werden so möglich. 61 (75,3%) der
insgesamt 81 Skelette dieser Gruppe gehören zu
Kindern und Jugendlichen. Dies entspricht einem
Anteil von 79,2% (bezogen auf 77 Fälle) aller Individuen dieser Altersgruppen, während lediglich
bei den übrigen 20,8% eine Bestimmung möglich
war (6,5% (n≈5): ♂ / 14,3% (n≈11): ♀). Dagegen
stehen die Ergebnisse der Geschlechtsdiagnose
bei den Erwachsenen im umgekehrten Verhältnis, hier konnten 85% der erwachsenen Individuen bestimmt werden (38,4% (n≈51):♂/ 46,6%
(n≈62):♀). Insgesamt liegt der Anteil der Frauen
mit insgesamt 74 über dem der Männer mit 56
Personen.
Berücksichtigt man den großen Anteil von
Kinder und Jugendlichen zeigt sich bei der vorläufigen Altersverteilung ein wenig überraschendes Bild (Abb. 6). Die Gruppen der 0-4jährigen,
bzw. der 5-9jährigen stellen bei der Anzahl der
Gestorbenen (Dx) die meisten Individuen, während ihre Zahl in den folgenden subadulten
Gruppen stark abnimmt. Der im Vergleich zur
ersten Gruppe höhere Wert bei den 5-9jährigen
könnte möglicherweise durch eine zunehmende
Mobilität der Kinder und einer damit verbundenen Einbindung in den Arbeitsalltag erklärt
werden, bei denen ein mögliches Verletzungsrisiko bestand. Eine Bestätigung durch Analyse
pathologischer Veränderungen und damit möglicher Hinweise auf Mangelsituationen, Krankheiten oder Verletzungen steht allerdings noch
aus. Aufgrund der vorliegenden Daten errechnet
sich eine Kindersterblichkeit in den ersten zehn
Jahren von 24%. Insgesamt starben 37% der Individuen von Schwetzingen bevor sie älter als 20
Jahre waren. Mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter (20+ Jahre) steigt die Anzahl der gestorbenen Individuen wieder annähernd auf den Stand
der ersten zwei Altersgruppen und erhält diesen
über die nächsten 20 Jahre fast konstant. Dabei
überwiegt die Zahl an weiblichen Individuen die
der männlichen. Bei den frühmaturen Gruppen
sinkt die Zahl der Gestorbenen im Vergleich zu
den adulten Gruppen um gut die Hälfte, während sich bei der Geschlechtszusammensetzung
eine Umkehrung bemerkbar macht. Die Sterbewahrscheinlichkeit der Frauen sinkt unter die
der Männer, was durch eine Verringerung der
Anzahl Gestorbener und des relativen Anteils an
Gestorbenen gut dokumentiert wird. Möglicherweise spielt dabei das Ende der Gebärfähigkeit
bei Frauen eine Rolle. Ähnliche Beobachtungen
sind auch bei anderen bandkeramischen Gräberfeldern gemacht worden (NIESZERY 1995, 94-97).
In der spätmaturen Phase steigt die Anzahl der
Gestorbenen nochmals, bevor sie im senilen Stadium auf das Minimum innerhalb dieser Altersverteilung absinkt. Auch in diesem Fall folgt die
Verteilung dem Trend, dass Frauen durchschnittlich ein höheres Alter erreichen als Männer. Nur
drei Prozent (mathematisch 1,7 Personen) der
Männer aus dem Gräberfeld von Schwetzingen
erreichten ein Alter jenseits von 60 Jahren, während bei den Frauen 4,6% (mathematisch 3,4 Personen) ein seniles Alter erreichten. Aufgrund der
momentan vorliegenden Altersverteilung errechnet sich für die Schwetzinger Gesamtpopulation
eine durchschnittliche Lebenserwartung von 27,5
Jahren, die aufgetrennt nach Männer und Frauen
eine Lebenserwartung von 36,8 bzw. 33,7 Jahren
ergibt. Die starken Schwankungen der Geschlechter im Vergleich zur durchschnittlichen Lebenserwartung erklären sich durch die große Zahl der
unbestimmten Subadulten. Da sie in der aufgetrennten Sterbetafel keinen Einfluss haben, steigt
die Lebenserwartung der Geschlechter beträchtlich im Vergleich zum Gesamtbild.
Bei der Interpretation der hier aufgeführten
Ergebnisse muss stets bedacht werden, dass es
sich nur um eine Zwischenbilanz handelt. Die
ausführliche Bearbeitung und Auswertung des
Materials aus Schwetzingen steht noch aus und
soll innerhalb der nächsten Jahre erfolgen. Ein
abschließendes Fazit wäre dementsprechend an
dieser Stelle verfrüht, doch fällt als Besonderheit
des Gräberfeldes von Schwetzingen schon jetzt
sein hoher Anteil an Subadulten in Verbindung
mit einer großen Individuenanzahl auf.
Dr. B. Rabold und Dr. G. Wieland, RP Karlsruhe,
Dr. R.-H. Behrends und Dr. J. Wahl, RP Stuttgart,
danke ich für Ihre Hilfestellung.
Literatur
BEHRENDS, R.-H. (1989): Ein Gräberfeld der
Linienbandkeramik in Schwetzingen, Rhein-NeckarKreis, in: Arch. Deutschland 3/1989, 1989, 39.
– (1990): Ein Gräberfeld der Bandkeramik von
Schwetzingen, Rhein-Neckar-Kreis, in: Arch. Ausgr.
Baden-Württemberg 1989, 1990, 45-48.
– (1993): Gräber der ersten Bauern, in: Arch. Nachr.
Baden 50, 1993, 38-39.
49
aktuell
Claudia Gerling und Michael Francken
BENTLEY, A.R. (2001): Human migration in Early
Neolithic Europe: Strontium and lead isotope analysis
of archaeological skeletons. Ph. D. diss. University of
Wisconsin, Madison, Wis., 2001.
BENTLEY, A.R., PRICE, T.D., LÜNING, J., GRONENBORN, D.,
WAHL, J., & P. FULLAGER (2002): Prehistoric migration in
Europe: strontium isotope analysis of early Neolithic
skeletons. Current Anthropology 43, 2002, 799–804.
FRANCKEN, M. (2006): Zahn um Zahn – Die Zahnzementannulation als Methode zur Altersdiagnose.
(Unpubl. Magisterarbeit Tübingen 2006).
GERLING, C. (2006): Das linienbandkeramische
Gräberfeld von Schwetzingen, Rhein-Neckar-Kreis.
(Unpubl. Magisterarbeit Würzburg 2006).
NIESZERY, N. (1995): Linearbandkeramische Gräberfelder in Bayern. Internationale Archäologie 16, 1995.
TRAUTMANN, I., J. WAHL (2005): Leichenbrände
aus linearbandkeramischen Gräberfeldern
Südwestdeutschlands – Zum Bestattungsbrauch in
Schwetzingen und Fellbach-Oeffingen. Fundberichte
Baden-Württemberg 28, 2005, 1–13.
WENZEL, M. (2007): Leergräber auf linearbandkeramischen Friedhöfen. Kenotaphe, geräumte
Primärbestattungen oder Gruben mit anderer
Funktion? (Unpubl. Magisterarbeit Tübingen 2007).
WILLMS, C. (1985): Neolithischer Spondylusschmuck.
Hundert Jahre Forschung. Germania 63, 1985, 331–343.
Claudia Gerling M.A.
Universität Würzburg
Institut für Vor- und Frühgeschichte
Siligmüllerstraße 9, 97072 Würzburg
[email protected]
Michael Francken M.A.
Universität Tübingen
Arbeitsbereich Paläoanthropologie
Rümelinstr. 23, 72074 Tübingen
[email protected]
aktuell
50
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten –
Die interdisziplinäre Rekonstruktion ritueller Handlungen am
Beispiel eines Urnengräberfelds der Lausitzer Kultur
Birgit Großkopf und Alexander Gramsch
Zusammenfassung – Knochen können auch dann noch „sprechen“, wenn sie verbrannt sind. Leichenbrand ist eines der wichtigsten
Quellenmaterialien für die historisch-archäologische Forschung und kann, wie dieser Beitrag darlegt, nicht nur biologische Daten liefern,
sondern auch Informationen zu kulturhistorischen Fragestellungen. Die anthropologischen Grundlagen der Leichenbrandbearbeitung
werden kurz dargestellt, um zum einen deutlich zu machen, welches Potenzial im anthropologisch-archäologischen Quellenmaterial
Leichenbrand über die biologischen Grunddaten hinaus verborgen ist. Zum anderen wird erkennbar, dass bereits die Erhebung der
Daten von der Fragestellung abhängt und deshalb Leichenbrand nur dann „sprechen“ kann, wenn er in interdisziplinärer Zusammenarbeit
zwischen Anthropologie und Archäologie analysiert wird. Am Beispiel des bronzezeitlichen Urnengräberfeldes Cottbus Alvensleben-Kaserne
(Brandenburg) wird die interdisziplinäre methodische Herangehensweise beschrieben und die dadurch ermöglichte Rekonstruktion von
Funeralpraktiken diskutiert. Auf der Basis dieser Rekonstruktion der verschiedenen rituellen Handlungen wird interpretiert, wie soziale
Identitäten im Bestattungsritual dargestellt und transformiert werden.
Schlüsselwörter – Leichenbrand, Bestattungsritual, interdisziplinäre Datenerhebung, kommunikative Handlungen, soziale Identität
Abstract – Cremation remains talk about the treatment of the dead – The interdisciplinary reconstruction of ritual action: An example from
an urnfield of the Lusatian Culture Bones “speak” – even when they are burned. Cremation remains are one of the major source materials
for archaeological research; moreover, as this paper explains, they do not only yield biological data but also provide us with information for
particular historical questions. An overview of the essentials of the anthropological examination of cremation remains displays that there
is considerable potential inherent in this source material beyond biological data. Furthermore, it becomes clear that already the collection
of data relies upon the research questions that are asked; thus, cremation remains only do “speak” if they are analysed in interdisciplinary
cooperation between anthropology and archaeology. Using the Bronze Age urnfield from Cottbus Alvensleben-Kaserne (Brandenburg,
Germany) as a starting point the interdisciplinary approach is explicated, which allows the detailed reconstruction of funeral practices.
This reconstruction of the sequence of ritual actions finally serves as the basis for interpreting how social identities are presented and
transformed in burial ritual.
Keywords – cremations, burial ritual, interdisciplinary data collection, communicative actions, social identity
Auf ihrer gemeinsam veranstalteten Tagung
forderten DGUF und SGA dazu auf „Knochen
sprechen“ zu lassen. Diese Metapher, die wir im
Titel unseres Beitrages aufgreifen, erinnert an
einen Ansatz der postprozessualen Archäologie
der 1980er und frühen 1990er Jahre. Man versuchte, materielle Kultur als „Text“ zu verstehen
und als solchen zu lesen (z.B. HODDER 1989, 1991).
Insbesondere von der symbolischen Bedeutung
dieses Textes sollte materielle Kultur erzählen.
Mittlerweile gibt man jedoch zu bedenken, dass
Text ein anderes Zeichensystem als das der materiellen Kultur ist, und dass dieses „Text“-Paradigma materielle Kultur zu wenig im Kontext der
vergangenen Alltagswelt und Praxis und zu sehr
in der symbolischen Ebene verankert (HODDER/
Hutson 2003, 204; HODDER 2005). Darüber hinaus
impliziert es aber, dass wir diesen „Text“ oder das
„Sprechen“ der materiellen Kultur oder der Knochen unmittelbar lesen und verstehen könnten.
Das Wort vom „Erzählen“ bzw. „Sprechen
lassen“ verstehen wir in unserem Beitrag als
sprachliches Bild, nicht als Paradigma. Weder
Knochen noch andere Elemente der materiellen
Kultur erzählen von sich aus oder können in dem
Sinne zum Sprechen gebracht werden, dass sie
„ihre Sicht der Dinge“ übermitteln, also sozusagen emisch aus ihrer ehemaligen Lebenswelt berichten. Archäologen sind nicht die „Detektive
der Vergangenheit“, die aus materiellen Indizien
das Geschehene objektiv rekonstruieren (s. HOLTORF 2003). Die „Erzählung der Knochen“ entsteht
vielmehr aus den Fragen, die wir an sie stellen,
und den Daten, die wir erheben; dies werden wir
im Folgenden verdeutlichen. Diese „Erzählung“
ist aber dennoch nicht völlig willkürlich, sie wird
nicht allein von der Gegenwart, sondern durch
den Kontext bestimmt, d.h. durch das Zusammenwirken der Vielzahl von Fragen und Daten, in
dem sich Knochen und andere Objekte befinden.
Das Beachten dieses archäologischen Kontextes
ermöglicht, „dass wir systematisch Kontrollen
einbauen (oder einbauen sollten), die darauf zielen eine falsche oder unangemessene ‚Lesung‘ der
Objekte zu eliminieren“ (VEIT 2003, 24).
Die Metapher von den sprechenden Knochen impliziert noch etwas anderes: Verstehen
wir Knochen als historische Quellen? Können
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 71-80
Bulletin de la Société Suisse71d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Birgit Großkopf und Alexander Gramsch
sie selbst dann etwas über rituelle Handlungen,
über Bestattungspraktiken „erzählen“, wenn sie
verbrannt sind? Als historische Quellen werden
üblicherweise Schriftzeugnisse verstanden. Die
Quellen der archäologischen Fächer dagegen sind
Geräte und Schmuck, Gräber und Siedlungen
usw. – das komplette Spektrum materieller Kultur. Auch diese ermöglichen historische Erkenntnisse. Die unmittelbaren Überreste menschlicher
Individuen jedoch wurden bislang primär als biologische Quelle gesehen und weniger als Teil der
materiellen Kultur und damit als gleichwertige
historische Quelle (an)erkannt. Knochen können
Auskunft geben über Alter, Geschlecht und verschiedene Pathologien des Individuums. Doch
sie können noch mehr berichten – selbst wenn sie
verbrannt wurden.
Welche (prä)historischen Aussagen möglich
sind, was also Leichenbrand uns „erzählen“ kann,
wollen wir im Folgenden zunächst grundsätzlich
und dann anhand eines Beispiels vorstellen. Dabei
wird deutlich, dass für eine historische, genauer:
sozialgeschichtliche Auswertung dieses Materials
eine interdisziplinäre Arbeitsweise notwendig ist.
Nicht nur das Auswerten der Daten nach biologischen und historischen Gesichtspunkten, sondern
bereits die Datenerhebung darf nicht getrennt
stattfinden; sie muss von den historisch-archäologischen und biologisch-anthropologischen Disziplinen gemeinsam formuliert und durchgeführt
werden. Erst durch die enge Zusammenarbeit
können die Handlungen, die die Bestattungssitten ausmachen, rekonstruiert und schließlich sozialgeschichtlich interpretiert werden.
Obwohl grundsätzlich dieselben Kriterien für
die Alters- und Geschlechtsdiagnose gültig sind
wie bei der Bestimmung von intakten Skeletten,
erfordern doch die Spezifika verbrannter Knochen ihre Berücksichtigung.
Die Schrumpfung und Fragmentierung sowie
die teilweise thermisch bedingte Verformung
von Skelettelementen erfordert sehr grundlegende Kenntnisse im Umgang mit dem Material
Leichenbrand. Gerade im Hinblick auf die Bestimmung des biologischen Geschlechts zeigt
sich nämlich, dass die Anwendung metrischer
Methoden sehr kritisch beurteilt werden muss.
Bei HERRMANN ET AL. (1990) ist z.B. der Trennwert
für das transversale Maß des Dens axis mit 9 mm
angegeben (Frauen < 9 mm < Männer). Bei morphologisch robusten Populationen ist jedoch auch
bei weiblichen Individuen ein Maß von > 9 mm
wiederholt zu beobachten. Eine populationsübergreifende Anwendung publizierter Daten bzw.
Trennwerte kann zu ungenauen oder gar falschen
Ergebnissen führen (VAN VARK ET AL. 1996). Daher sollten Trennwerte, anhand derer „weiblich“
und „männlich“ unterschieden werden, nur aus
der zu untersuchenden Stichprobe selbst ermittelt werden. Zudem kann auch nicht in jedem
Fall der gleiche Schrumpfungsfaktor zugrunde
gelegt werden (GROSSKOPF 2004). Als die derzeit
bewährteste Methode für die Geschlechtsdiagnose von verbrannten Individuen muss daher die
morphologische Bestimmung gelten, obwohl sie
letztendlich auf einer in mancher Hinsicht subjektiven, da auf dem Erfahrungshorizont des Anthropologen basierenden Zuordnung qualitativer
Kriterien basiert (GROSSKOPF 2004). Dabei werden
die Unterschiede in Form, Robustizität und Oberflächenstruktur jeweils unter Berücksichtigung
der populationsspezifischen Varianz beurteilt.
Auch bei der Altersdiagnose ist das Spektrum der beurteilbaren Merkmale gegenüber
komplett überlieferten Skeletten materialbedingt
eingeschränkt. Oftmals ist die morphologische
Diagnose erwachsener Individuen nur auf die Beurteilung des Schädelnahtverschlusses reduziert.
Somit kommt der histologischen Altersdiagnose
eine erhebliche Bedeutung zu. Für die knochenhistologische Untersuchung werden Dünnschnitte
von Knochenfragmenten angefertigt und mikroskopisch untersucht. Die Knochenbinnenstruktur unterliegt altersabhängigen Veränderungen
und erlaubt Rückschlüsse auf das Sterbealter
des Verstorbenen. Bei konsequenter Beurteilung
der einzelnen Komponenten über den gesamten
(vorliegenden) Knochenquerschnitt lassen sich
die Strukturen meist noch in früh-, mittel- und
Anthropologische Untersuchungen des
Leichenbrands
Leichenbrand wird oftmals sogar in seinem Potential als biologische Quelle unterschätzt, da
er gegenüber einem gut erhaltenen Skelett vermeintlich wenig mehr ist als Brösel und Bruch.
Die Verbrennung bewirkt jedoch nicht nur Fragmentierung und Schrumpfung, sondern auch
eine Modifikation des Knochenapatits, so dass
verbrannter Knochen deutlich stabiler ist und somit wesentlich bessere Überlieferungsaussichten
als unverbrannter Knochen aufweist. Wichtiger
noch: Da die Leichenverbrennung im Alten Europa für ca. 1500 Jahre die vorherrschende Bestattungsform war, stellt Leichenbrand das wesentliche Quellenmaterial für zahlreiche Generationen
(prä)historischer Populationen dar.
aktuell
72
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten ...
spätadult, bzw. -matur differenzieren (GROSSKOPF
2004).
Liegen geeignete Zahnwurzeln vor, werden
zudem Zahndünnschnitte angefertigt und die Zuwachsringe im Zahnzement gezählt, die sich im
circaannualen Rhythmus bilden. Durch Addition
des entsprechenden Zahndurchbruchsalters kann
das kalendarische Alter eines Individuums auf
wenige Jahre genau bestimmt werden (GROSSKOPF
1990).
Grundsätzlich gilt für die Alters- und Geschlechtsdiagnose, nicht nur am Leichenbrand,
dass das Ergebnis optimiert werden kann, je mehr
Daten berücksichtigt werden bzw. je vielfältiger
die methodischen Zugänge genutzt werden.
Regel nicht eingesammelt werden, da er sich nicht
vom Sediment separieren lässt. Zum anderen ist
aber auch ein (intentionales) unvollständiges Einsammeln oder Teil-Deponieren möglich. Auch
eine beabsichtigte oder zufällige Vermischung
mit Überresten eines weiteren Individuums ist
möglich. Hier kann anhand der mengenmäßigen
Anteile und der repräsentierten Skelettregionen
in einer Leichenbrandpartie in der Regel eine
Differenzierung zwischen Doppelbestattung und
Beimengung erfolgen. Beimengungen können z.B.
durch unvollständige Reinigung eines wiederholt
genutzten Verbrennungsplatzes auftreten.
Auch die Art der Deponierung lässt Rückschlüsse auf Praktiken während der Bestattung
zu. Lassen sich z.B. zahlreiche Holzkohlefragmente in einer Urne finden, so ist der Leichenbrand
offensichtlich nicht gezielt aus den Scheiterhaufenresten ausgelesen, sondern eher gemeinsam
mit diesen in die Urne gefüllt worden. Die Art
der Deponierung der Knochen in der Urne weist
ebenfalls auf verschiedene Vorgänge rund um das
Bestattungsritual hin, z.B. auf die Scheiterhaufengröße, die Lage des Verstorbenen auf dem Scheiterhaufen und die Mindestdauer des Rituals. So
ist ein experimentell verbrannter Schweinekadaver in peripheren Bereichen erst nach 24 Stunden
so weit abgekühlt, dass die Knochen ausgelesen
werden können (LEINEWEBER 2002).
Leichenbrand stellt neben dem biologischen
Überrest eines Individuums auch ein „Produkt“
menschlichen Handelns dar, welches durch verschiedene Vorgänge rund um die Verbrennung
in seinem „Ergebnis“ (d.h. Fragmentgröße, Menge und Färbung) beeinflusst sein kann. Ein Ablöschen des Scheiterhaufens bewirkt z.B. eine
deutliche Verkleinerung der Knochenfragmente.
Auch eine mechanische Belastung vor dem kompletten Auskühlen, z.B. durch ein Zusammenschieben der Scheiterhaufenüberreste, bedingt
eine zusätzliche Fragmentierung, da Leichenbrand erst im ausgekühlten Zustand seine stabile
Konsistenz aufweist (HERRMANN 1988). Eine ungenügende Temperaturhöhe und/oder Dauer der
Temperatureinwirkung bewirken eine unvollständige Verbrennung, welche durch graue oder
sogar schwarze Verfärbungen im Knocheninnern
erkennbar ist. Dieses sind Reste primären Kohlenstoffs, der nicht durch die Umwandlung in
CO2 aus dem Knochen entwichen ist. So kann ein
Auftreten von primären Kohlenstoffverfärbungen in bestimmten Skelettregionen Hinweise auf
deren Lage an der Peripherie des Scheiterhaufens
geben, in der die Hitze für eine vollständige Verbrennung nicht ausgereicht hat.
Bei Brandbestattungen ist davon auszugehen,
dass ein Teil des ursprünglichen Skelettmaterials
nicht überliefert ist. Auch bei einer Körperbestattung sind Verluste einzelner Knochen z.B. durch
eine anthropogene Grabstörung oder die Verlagerung von kleinen Knochen z.B. durch Mäuse
möglich; es kann in der europäischen Prähistorie
aber davon ausgegangen werden, dass regelhaft
der intakte Körper in das Grab gelegt wurde. Bei
der Deponierung von Leichenbrand tritt jedoch
zum einen ein natürlicher Verlust von Material
auf, der sich in der Entstehung von Knochengruß
durch die Verbrennung erklärt. Dieser kann in der
Das Fallbeispiel: Das Gräberfeld von Cottbus
Alvensleben-Kaserne
Leichenbrand ist also nur im wörtlichen Sinne
eine trockene Materie; er ist eine besondere Form
materieller Kultur1 und kann Daten liefern, die
für kulturhistorische Fragestellungen genutzt
werden können. Diese Daten zu erheben und
dann kulturhistorisch zu interpretieren erfordert,
wie eingangs betont, interdisziplinäres Arbeiten
(GROSSKOPF/GRAMSCH 2004, GRAMSCH/GROSSKOPF
2005). Die Möglichkeiten einer solchen interdisziplinären Leichenbrand-Untersuchung wollen wir
im Folgenden am Beispiel des Urnengräberfelds
Cottbus Alvensleben-Kaserne (Brandenburg) verdeutlichen. Die Funde und Befunde dieses Gräberfelds haben wir im Rahmen eines Forschungsprojektes am Lehrstuhl für Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie der Universität Leipzig gemeinsam bearbeitet unter Leitung von Prof. S. Rieckhoff2 (GROSSKOPF 2004, GRAMSCH 2006, in Vorb.).
Bei Umbauarbeiten in der ehemaligen Cottbuser Kaserne in den Jahren 1997-1998 wurden
neue Leitungen verlegt, Straßen neu angelegt und
73
aktuell
Birgit Großkopf und Alexander Gramsch
rend der früheisenzeitlichen Billendorfer Gruppe
in Ha C1 angelegt. Im Mittelpunkt sollen nun die
endbronzezeitlichen und hallstattzeitlichen Befunde stehen.
Neben Keramikpackungen, Gefäßdepots und
Scherbenstreuungen (GRAMSCH in Vorb.) liegen
insgesamt 74 Gräber mit 105 brandbestatteten Individuen vor. Alle Bestatteten waren verbrannt
und ganz überwiegend in Urnen in Grubengräbern oder Rechteck- bzw. Kammergräbern beigesetzt worden, wie sie auch von anderen Niederlausitzer Fundorten bekannt sind (vgl. BÖNISCH
1990, 1995; BUCK 1986, 2007). In den einfachen
Grubengräbern wurde meist nur eine Urne beigesetzt, es kommen hier aber auch Doppelbestattungen vor. Die zehn aus Steinsetzungen und vermutlichen Holzeinbauten bestehenden Rechteckbzw. Kammergräber wurden für Doppel- und
Mehrfachbestattungen mit bis zu acht Individuen
angelegt.
Von den 105 überlieferten Individuen des
Gräberfelds Cottbus Alvensleben-Kaserne sind
38 Kinder unter 13 Jahren (infans I und II) (=
36,2%), 4 Jugendliche und 1 juvenil bis frühadultes Individuum (4,8%), sowie 62 Erwachsene
(59%) (Abb. 2). Von den erwachsenen Individuen
sind 27 sicher oder wahrscheinlich weiblich bestimmt (43,5%) und 19 sicher oder wahrscheinlich
männlich (30,7%); 16 Erwachsene sind nicht geschlechtsbestimmt (25,8%).
Abb. 1 Abb. 1 Skizze der Alvensleben-Kaserne mit ungefährer
Ausdehnung des Gräberfelds der Lausitzer Kultur.
ein Gebäude neu errichtet (Abb. 1). Da seit 1885
die Existenz von Gräbern der Lausitzer Kultur
bekannt war, wurden die Bauarbeiten archäologisch begleitet (GAIDA 1999, GRAMSCH 1999). 132
Befunde der Bronze- und frühen Eisenzeit wurden ergraben. Wenige Befunde datieren an das
Ende der Stufe Bronze D mit Inventaren der sogenannten „Fremdgruppenzeit”, die Zahl der
Befunde nimmt in der Stufe Hallstatt A deutlich
zu, die meisten Bestattungen wurden aber in der
späten Urnenfelderzeit in Stufe Ha B und wäh-
Abb. 2 Alters- und Geschlechtsverteilung der Individuen des Gräberfelds Cottbus Alvensleben-Kaserne.
aktuell
74
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten ...
Abb. 3 Bergung der Urnen und Beigefäße während der Grabung
mithilfe elastischer Binden.
Abb. 4 Zur zeichnerischen Dokumentation der Lage der
verbrannten Knochen und Kleinfunde in der Urne wurde ein
Zeichengitter verwendet.
Ziel des Leipziger Projektes war es, die Handlungen des Bestattungsrituals möglichst detailliert zu rekonstruieren. Ausgehend von der These,
dass diese Handlungen eine Form der Kommunikation mithilfe materieller Kultur sind, sollte untersucht werden, wie die einzelnen Verstorbenen
im Ritual behandelt und bestattet worden waren
und wie dadurch die soziale Identität der Bestatteten dargestellt und transformiert worden war;
dazu weiter unten mehr.
Eine Quelle zur Beantwortung dieser Fragen
waren die Leichenbrände selbst. Sie wurden
mit den aufgeführten Methoden alters- und geschlechtsbestimmt; darüber hinaus waren folgende Arbeitsschritte notwendig, um den Ablauf der
Funeralpraktiken rekonstruieren zu können:
nachlässigt wurden, zum anderen diese Daten
interdisziplinär auszuwerten, d.h. in enger Zusammenarbeit zwischen Anthropologie und Archäologie. Wie eingangs erwähnt sind Datenerhebung und Datenauswertung abhängig von den
sozialgeschichtlichen Fragestellungen, die wir im
folgenden Abschnitt vorstellen.
Die Darstellung sozialer Identitäten im
Bestattungsritual
Gräber standen im Mittelpunkt der Forschung
seit der Entstehung der bürgerlichen Archäologie
als „vaterländische Altertumskunde“ im 19. Jahrhundert, während Siedlungen vergleichsweise
spät erforscht wurden (GRAMSCH 2007a). Mit ihrer Hilfe wurden nicht nur relative Chronologien
erarbeitet, sondern auch anhand von Unterschieden in Beigaben und Grabbau die Sozialstruktur
analysiert. Dabei hat sich die traditionelle Gräberfeldarchäologie vornehmlich auf vertikale soziale
Strukturen konzentriert, also auf Rangordnung
und Klassen, und hierbei insbesondere auf mögliche Eliten.
Die sozialgeschichtliche Fragestellung bei
der Untersuchung des Gräberfelds Cottbus Alvensleben-Kaserne dagegen richtete sich auf die
horizontale Sozialstruktur. Die horizontale Sozialstruktur wird insbesondere durch Alter und
soziales Geschlecht der Individuen geprägt. Diese
Aspekte bestimmen wesentlich die soziale Identität des Individuums. Ziel unserer Analyse war
deshalb die Beantwortung der Frage, ob und wie
im Bestattungsritual Unterschiede in der sozialen
Identität, d.h. in Gender und Alter3 der Individuen dargestellt werden durch den Umgang mit
• Während der Grabung waren alle vollständig erhaltenen Urnen und Beigefäße mithilfe
elastischer Binden geborgen worden, darunter
auch solche Gefäße, die in situ zerbrochen waren
(Abb. 3).
• Dies ermöglichte die „Werkstattuntersuchungen“, d.h. das kleinschrittige schichtweise Entnehmen des Leichenbrands in z. T. mehr als 10
Schichten.
• Bei dieser Bergung des Leichenbrands wurden
die Schichten und die Lage und Größe der verbrannten Knochen und von Beigaben fotografisch
und z.T. zeichnerisch dokumentiert (Abb. 4).
• Die geborgenen Knochenfragmente wurden
nach Schichten getrennt aufbewahrt und entsprechend anthropologisch untersucht.
Diese detaillierte Werkstattuntersuchung ermöglichte zweierlei: zum einen Daten in einem
großen Umfang zu erheben, die bisher eher ver-
75
aktuell
Birgit Großkopf und Alexander Gramsch
1989). Wie A. VAN GENNEP und V. TURNER zeigten,
ist die Stufe der Liminalität die komplexeste und
die bedeutsamste für die Sozialanalyse. Die bisherige Identität des Individuums wird aufgelöst
und seine „Wiedergeburt“ in einem neuen Status
vorbereitet. Der transformative Charakter von Ritualen, besonders Bestattungsritualen, ist besonders während der Liminalität stark ausgeprägt
(vgl. HUNTINGTON/METCALF 1979, 122).
Von den Handlungen, die den Umgang mit
dem Leichnam betreffen, können wir vor allem
jene erschließen, die während dieser Phase der
Auflösung, Umkehrung und Transformation ausgeführt wurden: Hierzu rechnen wir
• die Platzierung des Leichnams auf dem Scheiterhaufen,
• den Verbrennungsvorgang und
• die anschließende Handhabung der Überreste
beim Einbetten in die Urne4.
Ausgehend vom Konzept der kommunikativen Handlungen betrachten wir mögliche Unterschiede in der Behandlung der oder des Toten in
dieser Phase als Hinweise auf unterschiedliche
soziale Identitäten (GRAMSCH 2007b, in Vorb.).
Deshalb ist es wichtig, die Handlungen zu
rekonstruieren, die uns „erzählen“, wie mit dem
Leichnam umgegangen wurde – damit kommen
wir also wieder zurück zu den Daten.
den Toten, also durch die rituellen Handlungen
(GRAMSCH 2007b).
Dies bedeutet gegenüber traditionellen Gräberfeldanalysen eine zweifache Veränderung: Zum
einen werden die archäologischen Daten nicht als
„Spiegel des Lebens“ verstanden, die unmittelbar
Rang oder Status eines Individuums erschließen
lassen, sondern wir betrachten das Grab als das
Resultat einer Reihe von Aktionen. Zum anderen
verstehen wir diese rituellen Handlungen als Mittel der Darstellung und Transformation der sozialen Identität der Bestatteten. Die Abfolge dieser
Handlungen ist durch das Bestattungsritual mehr
oder weniger stark festgelegt; dennoch liegen ihnen Entscheidungen zugrunde: Welche Handlungen durchgeführt werden und in welcher Reihenfolge ist weder eine willkürliche Entscheidung
noch Zufall oder reiner Pragmatismus.
Kommunikative Handlungen
Deshalb können die Handlungen etwas über die
Entscheidungen und die Intentionen der Handelnden verraten. Die Praktiken, aus denen das
Ritual besteht, sind also kommunikative Handlungen. Während zweckrationales Handeln erfolgsorientiert ist, d.h. auf Beeinflussung eines
Handlungspartners ausgerichtet, um eine Absicht, ein erstrebtes Ergebnis zu erreichen, ist
kommunikatives Handeln verständigungsorientiert, d.h. auf Kommunikation und Sozialisation
ausgerichtet (HABERMAS 1981a, 384f.). Wir können
unserer Analyse Habermas’ Definition kommunikativen Handelns zugrunde legen: „Unter dem
funktionalen Aspekt der Verständigung dient
kommunikatives Handeln der Tradition und der
Erneuerung kulturellen Wissens; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der
sozialen Integration und der Herstellung von
Solidarität; unter dem Aspekt der Sozialisation
schließlich dient kommunikatives Handeln der
Ausbildung von personalen Identitäten“ (HABERMAS 1981b, 208).
Der Umgang mit dem Körper des Verstorbenen kann also etwas darstellen und vermitteln:
dessen individuelle soziale Identität und deren
Transformation. Bestattungsrituale sind rites de
passage und begleiten den Übergang von einer Lebensphase in eine andere, d.h. die Transformation des verstorbenen Individuums. Wie alle Übergangsrituale folgen sie einer dreiteiligen Struktur:
Es gibt eine Phase der Loslösung (Separation), der
Umkehrung (Liminalität) und der Wiedereingliederung (Reintegration) (VAN GENNEP 1986, TURNER
aktuell
Die Rekonstruktion ritueller Handlungen
Wir haben eingangs auf bestimmte Daten hingewiesen, durch die diese funeralen Handlungen
rekonstruiert werden können:
• Die Repräsentanz des Leichenbrandes gibt an,
ob die verbrannten Knochen aller Skelettregionen
eingesammelt und in die Urne deponiert wurden.
• Die primären Kohlenstoffverfärbungen zeigen,
ob alle Körperregionen gleichmäßig dem Scheiterhaufenfeuer ausgesetzt waren.
• Die Fragmentgröße lässt z.B. Rückschlüsse zu,
ob die Knochen mechanisch ungestört auskühlen konnten oder zerkleinert wurden bzw. durch
ein Ablöschen des Scheiterhaufens zersprungen
sind.
• Die Art der Deponierung kann auf den Vorgang der Bergung der Knochen aus dem Scheiterhaufen hinweisen.
Zentral war vor allem die Frage, ob die verbrannten Knochen auf eine bestimmte Art und
Weise in die Urne eingeschichtet bzw. in der Urne
76
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten ...
Abb. 5 Planumszeichnung einer Knochenschicht in Urne 4 aus
Grab 56
Abb. 6 Große Abschnitte annähernd parallel ausgerichteter
Diaphysen ließen sich z.B. in mehreren Schichten in Gefäß 1 aus
Grab 53 beobachten (hier: Schicht 8)
angeordnet worden waren. Die detaillierte Dokumentation der Lage der Skelettreste in der Urne
und ihre Bergung und anthropologische Untersuchung nach Schichten getrennt zeigte eine erstaunlich große Regelhaftigkeit in der Behandlung der Leichenbrände.
Bei fast allen Leichenbränden weisen die Repräsentanz der überlieferten Körperregionen und
die Vorkommen und Verteilung primärer Kohlenstoffverfärbungen darauf hin, dass der Körper
(annähernd) ausgestreckt auf dem Scheiterhaufen gelegen haben muss. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle Körperregionen recht gleichmäßig
verbrannt und etwa in gleichem Maße erhalten.
Auch die Extremitätenknochen und selbst die
kleinen Hand- und Fußknochen sind in großer
Zahl und meist vollständig verbrannt vorhanden. Wir schließen daraus, dass die Scheiterhaufen ausreichend groß angelegt worden waren,
um das Individuum vollständig zu verbrennen.
Außerdem erkennen wir hieraus, dass die verbrannten Überreste der Verstorbenen meist sehr
gründlich und recht vollständig aus dem heruntergebrannten Scheiterhaufen herausgelesen worden waren; es fand sich auch fast keine Holzkohle
in den Urnen.
In der Urne sind die Knochenfragmente oft bis
zu einer Länge von 10 cm erhalten, selten auch
darüber. Die Knochen sind also nicht zerkleinert
worden sind, bevor sie in die Urnen kamen. Vor
allem aber ist der Scheiterhaufen nicht abgelöscht
worden, sondern die Reste des Brandes konnten
auskühlen, bevor sie eingesammelt wurden, da
sonst die Knochen viel kleinteiliger zersprungen wären. Das Fotografieren und Zeichnen der
Knochen in der Urne zeigte, dass viele Fragmente
ursprünglich recht groß waren, als sie in die Urnen gelegt wurden, und erst während der Liegezeit weiter zerbrachen. Die verbrannten Knochen
müssen zum Zeitpunkt der Deponierung in der
Urne soweit ausgekühlt gewesen sein, dass man
sie mit Händen anfassen konnte. Aufgrund von
experimentalarchäologischen Untersuchungen
(z.B. LEINEWEBER 2002) können wir deshalb davon
ausgehen, dass Verbrennung und Knochenbergung mindestens zwei Tage umfassten.
Am auffälligsten ist die Einschichtung des
Leichenbrands: In fast allen Fällen waren die
verbrannten Knochen so in die Urne geschichtet
worden, dass Fragmente der unteren Extremitäten zuunterst lagen, darüber jene des Torsos, oben
die oberen Extremitäten und zuletzt die Schädelknochen. Dass das postkraniale Skelett unten und
die Schädelknochen oben in den Urnen liegen,
war bereits früher beobachtet worden (z.B. KEILING 1962, BUCK 1977, GEBÜHR ET AL. 1989)5. Jedoch
gehen unsere Erkenntnisse weiter. Die Dokumentation der Lage der Knochen (Abb. 5 u. 6) zeigt
in fast allen Urnen eine sorgfältige Deponierung
der verschiedenen Skelettregionen entsprechend
ihrer anatomischen Abfolge; Vermischungen
lassen sich nur feststellen, wo kleinere Fragmente in tiefere Regionen der Urne rutschten. Auch
Fuß- und Handphalangen, die beim Einschichten
leicht zu verwechseln gewesen wären, fanden
sich ganz überwiegend an der anatomisch „richtigen“ Stelle. Gelegentlich waren Wirbelknochen in
einer Reihe zueinander gelegt worden; häufiger
77
aktuell
Birgit Großkopf und Alexander Gramsch
ihre ehemalige soziale Identität ist aufgelöst und
sie wurden vereinheitlicht zu „Ahnen“.
waren Diaphysen parallel angeordnet und Extremitätenknochen paarig nebeneinander oder die
Gelenkköpfe einander gegenüber platziert worden (Abb. 6).
Diese sorgfältige Niederlegung der verbrannten Knochen in der Urne erweckt den Eindruck
einer Wiederherstellung der Form des menschlichen Körpers; wir haben diese rituellen Handlungen als eine „Anthropomorphisierung“ der Urne
bezeichnet (GRAMSCH & GROSSKOPF 2005; GRAMSCH
2007c).
Darüber hinaus ließ sich rekonstruieren, dass
in der Regel jedes Individuum einzeln verbrannt
und in einer eigenen Urne bestattet wurde. In fünf
Fällen jedoch waren zwei Individuen gemeinsam
in einer Urne bestattet. Hier scheint das gemeinsame Deponieren in die Urne wichtiger gewesen
zu sein als die Darstellung von Individualität6.
Doch wurde auch hier, soweit erkennbar, die Idee
der „menschengestaltigen“ Urne gewahrt.
Durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von
Anthropologie und Archäologie können also die
Knochen auf eine bestimmte Weise zum „Sprechen“ gebracht werden. Sie „erzählen“ dann nicht
nur etwas über die biologischen Grundlagen der
Individuen, sondern geben auch Antworten auf
sozial- und kulturhistorische Fragen. Im hier vorgestellten Beispiel vermitteln sie uns ein Bild davon, wie im Verbrennungsritual die individuellen menschlichen Körper behandelt wurden, wie
die Körper verändert wurden parallel zur Veränderung des verstorbenen Individuums, d.h. sie
„erzählen“ von der Transformation in eine neue,
einheitliche Identität, die wir als „Ahnen“ interpretieren können. Werden Gräber also als Resultat komplexer, vieldeutiger und kommunikativer
Handlungen aufgefasst, vermitteln sie kein statisches Bild, aus dem soziale Verhältnisse direkt
abzulesen wären, sondern sie liefern kontextabhängige Daten zu Übergangsritualen und deren
Rolle in der Darstellung und Transformation sozialer Identitäten.
Die sozialgeschichtliche Interpretation
Nahezu alle derart untersuchten Individuen wurden auf die gleiche Weise behandelt, seien es
Neugeborene oder über 60jährige Greise, Männer
oder Frauen. Soziale Unterschiede wurden demnach nicht bei der Behandlung der individuellen
Körper gemacht. Gewisse Unterschiede sind jedoch erkennbar in der Gabe von Schmuck und
Keramik und in der Beisetzung in einem Einzelgrab oder gemeinsam mit weiteren Verstorbenen
in einem Doppel- oder Mehrfachgrab (GRAMSCH in
Vorb.).
Die Rekonstruktion und Interpretation der rituellen Handlungen lassen also die Knochen davon „erzählen“, dass die Transformation der Verstorbenen durch Verbrennung und anschließende
Anthropomorphisierung unabhängig von Alter
und Geschlecht durchgeführt wurde. Ebenso „erzählen“ sie, dass meist ein derart transformierter
Toter auch durch EINE Urne repräsentiert wird,
da in der Regel jede Urne den Leichenbrand nur
EINES Individuums aufnahm.
Die Gemeinschaft, die das Bestattungsritual
durchführte, transformierte somit die Verstorbenen alle auf die gleiche Weise. Die Körperbehandlung als Kommunikation über soziale Identitäten
entwirft ein idealisiertes Bild, das möglicherweise
bestehende Unterschiede ignoriert oder gar überspielt – gerade der Umgang mit dem individuellen Körper und seine Transformation stellt alle
Menschen gleich dar, als Teil der Gemeinschaft.
Am Ende dieses Prozesses sind alle Toten gleich,
aktuell
Anmerkungen
1
Für die Untersuchung materieller Kultur unterschied
Heinrich HÄRKE (1993) zwischen funktionalen und
intentionalen Daten. Da menschliche Skelettreste zunächst funktionale, biologische Daten liefern, die nicht
von den Trägern der prähistorischen Gesellschaft beabsichtigt wurden, z.B. zu körperlichen Belastungen,
aber auch intentionale Daten liefern können, die von
absichtsvollen Handlungen wie z.B. Modifikationen
am lebenden oder toten Körper zeugen, können auch
sie zur materiellen Kultur gerechnet werden.
2
Unser Dank gilt der Unterstützung durch Prof. S.
Rieckhoff und dem Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur für die finanzielle Unterstützung
des Projekts „Herrschaft und Geschlechterdifferenz
im 1. Jahrtausend v.Chr. – Spätbronzezeitliche Gesellschaften in der Niederlausitz (Brandenburg) aus Sicht
der Genderforschung“.
3
Soziales Geschlecht und soziales Alter beruhen auf
der biologischen Grundlage, sind aber nicht zwingend
identisch mit dieser.
4
Auch die Errichtung des Grabbaus und möglicherweise das Auswählen und Präsentieren der wegzugebenden Grabkeramik können Teil der Phase der Liminalität gewesen sein. Zur Parallelisierung der Bestattung und insbesondere der Kremation mit den Phasen
der rites de passage s. GRAMSCH 2004, 2007b, 2007c.
78
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten ...
5
Häufig wird nur beobachtet, dass Schädelfragmente
oben auf dem Leichenbrand liegen. In Fällen, in denen
dies nicht zu beobachten ist, wird im Umkehrschluss
gefolgert, dass keine Schichtung vorliegt und der Leichenbrand daher nicht aufwändig in Schichten geborgen werden muss.
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6
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nicht schichtweise untersucht werden konnte, stammt
Leichenbrand eines Mannes und einer Frau. In zwei
Fällen lagen die Knochen von neugeborenen oder perinatalen Kindern zwischen denen von erwachsenen
Frauen; hier ist eine Interpretation als „Mutter-KindBestattungen“ möglich.
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aktuell
80
Paläoanthropologie –
Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Winfried Henke
Zusammenfassung – Die Paläoanthropologie zählt unter den öffentlichkeitsorientierten biologischen Wissenschaften zu den
faszinierendsten Disziplinen, hat aber auch gleichzeitig den diskreditierenden Vorwurf zu gegenwärtigen, keine sehr glaubwürdige Disziplin
zu sein. Zielsetzung dieses Beitrags ist es, dieses Vorurteil als einseitige Außensicht zu entkräften und die paläoanthropologische Forschung
als eine innovative Wissenschaft zu kennzeichnen, deren Aufgabe es ist, den Prozess der Menschwerdung als adaptive Entwicklung in der
Primaten-Evolution zu verstehen. Neben den Prinzipien werden die wichtigsten Methoden, mit denen es gelingt, die in Homininenfossilien
verschlüsselten Informationen akribisch zu dekodieren, exemplarisch aufgezeigt. ’Begründete’ Paläoanthropologie, um die es hier geht,
ist stets theoriegeleitete und hochgradig inter- und multidisziplinär vernetzte Stammesgeschichtsforschung. Nur mit einem komplexen
vergleichend-primatologischen Ansatz kann es gelingen, den Prozess und die Etappen der Menschwerdung zu rekonstruieren und
langfristig gültige Hominisationsmodelle und phylogenetische Stammbäume zu erstellen. Mehr als Modelle (Jeweilsbilder sensu Heberer
1972), die aufgrund neuer Methoden und Fakten ständig überprüft werden müssen, werden es jedoch niemals sein. Wir modellieren nur!
Schlüsselwörter – Fossilien, Hominini, Morphologie, Systematik, Modelle
Abstract – Palaeoanthropology is as a publicity-oriented biological science one of the most fascinating disciplines which has to deal
simultaneously with the discrediting allegation of a low credibility of her results. This paper aims to invalidate this prejudice as a singleedged exterior view and to characterise palaeoanthropological research as an innovative science which aims to explain the process of
hominisation as evolutionary adaptations within the order Primates. The principles and methods of theory-guided studies of fossil remains
are exemplarily explained. Palaeoanthropological approaches meticulously try to decode the information hidden in hominid fossils, to
reconstruct the process and the phylogenetical steps of hominisation and to conceptualize a substantiated – but always hypothetical
– pedigree of our origin. We are just modelling.
Keywords – fossils, hominini, morphology, systematics, models
Einführung
Seit der Entwicklung der Deszendenz- und Selektionstheorie durch Charles Darwin vor fast 150
Jahren sind wir mit der Vorstellung konfrontiert,
dass sich unsere Existenz aus tierischen Vorformen ableitet und wir mit anderen Organismen
real-historisch in einem phylogenetischen Kontinuum stehen. Die anfänglich helle Aufregung
über Darwins Hauptwerk „On the Origins of Species by Means of Natural Selection“ (DARWIN 1859)
sowie die beiden anthropologisch ausgerichteten
Bände “The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (DARWIN 1871) und „The Expressions of Emotions in Man and Animals“ (DARWIN
1872) ist längst verflogen, aber die „Darwinsche
Kränkung“ sitzt offenbar immer noch tief, zumal
„Darwin’s Dangerous Idea“ sensu Daniel Dennett
(1996) sich wie eine „ätzende Säure“ in die Erklärung aller Lebensbereiche hineingefressen hat.
Die Gegenreaktion auf das Paradigma der
Evolutionsbiologie kommt heute nicht mehr von
den christlichen Kirchen [von wenigen aparten
Ausnahmen wie dem überholten Vorstoß von
Christoph Kardinal Schönborn (2007) abgesehen],
sondern insbesondere von Kreationisten und
Theoretikern des Intelligent Design, die nicht nur
in den U.S.A. verstärkt Anhänger finden, sondern
auch in Europa, wo der Nährboden für ihr wissenschaftliches Analphabetentum statistischen
Umfragen zufolge ebenfalls breiter geworden
ist. Da die von kreationistischer Seite geäußerten
Zweifel an den Darwinschen Theorien nicht wissenschaftlich begründet und daher haltlos sind
(vgl. auch JUNKER UND HOSSFELD 2001; KUTSCHERA
2006), muss gefragt werden, warum der abendländische aufklärerische Bildungsanspruch versagt hat. In diesem Kontext gilt es nachdrücklich
zu betonen, dass der Darwinismus keine Weltanschauung ist, sondern eine wissenschaftliche Theorie, die zentrale Theorie der Biologie, weshalb der
Populationsgenetiker Theodosius DOBZHANSKY
(1973) mit Recht formulierte: „Nichts macht Sinn
in der Biologie, außer im Lichte der Evolution.“
Eines Lückenbüßer-Gottes, wie die Kreationisten
ihn postulieren, bedarf es nicht.
Grundsätzlich sollten Glaubens- und Wissenskategorien strikt auseinander gehalten werden,
aber offenbar ist das nicht einmal in allen Kultusministerien anerkannt (siehe die durch die KM
Karin Wolff entfachte curriculare Diskussion in
Hessen). Theologische Erklärungen dieser Welt,
d.h. Schöpfungstheorien, religiöse Glaubensvorstellungen, bedürfen keines wissenschaftlichen
Beweises, da die Gläubigen die Gewissheit über
die Schöpfungskraft ihres Schöpfers in sich tragen
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 1-23
Bulletin de la Société Suisse1d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Winfried Henke
(vgl. LÜKE ET AL. 2004; SÖLING 2004; HENKE 2006c).
Es bleibt damit fraglich, ob es überhaupt ein gegenseitiges Anerkennen von Glauben und Wissenschaft geben kann, aber, so betonen STORCH ET
AL. (2007) wohl mit Recht, ein kritischer Dialog
über die jeweils andere Art des Umgangs mit der
Wirklichkeit muss möglich sein – und sie fügen
hinzu: „Beiden Bereichen, Glauben und Wissenschaft, ist gemeinsam, dass sie – auf unterschiedliche Weise – in einem Spannungsfeld zwischen
Gewissheit und Zweifel stehen.“ Der Biochemiker Erwin CHARGAFF (2002, S. 9) fasste die Feststellung, dass Naturwissenschaft immer konjektural
bleiben wird, bestechend feinsinnig: „Ich kenne
einige Vorgänge, die zum Leben beitragen, aber
ich kenne sie nur insoweit, als die von mir verwendeten Methoden zugänglich sind.“
Wir modellieren nur! – und die in der Darwinschen Evolutionstheorie formulierten generellen
Evolutionsprinzipien sind das Fundament der biologischen Modellbildungen (Abb. 1), die sowohl
unseren Ursprung als auch unsere phylogenetische Entwicklung betreffen. Der durch den Darwinismus induzierte Paradigmenwechsel liegt im
Verwerfen der Vorstellung „…einer auf Vollkommenheit angelegten und geplanten, gütigen Natur“ (vgl. MAYR 1994) zugunsten der Konzeption
des ‚struggle for life’. Nach Günter ALTNER (1982, S. 5)
besteht die hochgradig desillusionierende Wirkung der ‚Darwinschen Revolution’ gegenüber
Schöpfungsmythen darin, dass der „…Mensch
auf sich und sein Werden zurückgeworfen“ wurde. Natürliche Schöpfung ohne Schöpfer, das
scheint uns, die wir die Natur als „zweckmäßig“
erfahren und unser Leben bewusst planen – oder
zumindest einem Lebensentwurf folgen – , kaum
begreifbar; es brauchte deshalb auch lange, um die
Teleologie (Lehre der ziel- und zweckbestimmten
Ordnung) gänzlich aus der empirischen Biologie
zu verbannen, wie Konzepte der ‚idealistischen
Morphologie’, des ‚Vitalismus’ oder Teilhard de
Chardins‚naturwissenschaftlich-theologisches
Mischkonzept’ zeigen (vgl. VOGEL 1982).
Das offenbar für Viele Unvorstellbare ist, die
evidente Zweckmäßigkeit der Welt durch ‚reinen
Zufall’ zu erklären. Um deutlich zu machen, dass
die Evolution im Sinne Darwins, stochastisch
betrachtet, nicht ‚rein’ zufällig und ‚ungerichtet’
verläuft, sondern selbstorganisatorisch ‚kanalisiert’, sprach der Freiburger Genetiker Carsten
BRESCH (1977) pointiert vom „schmutzigen“ Zufall, „… weil jede via anpassende Selektion erzwungene „Entscheidung“ auf dem Wege einer
organismischen genealogischen Stammlinie zugleich bestimmte Begrenzungen und Vorgaben
aktuell
Abb. 1 Systemansatz zur Analyse der Stammesgeschichte
des Menschen [aus HARDT et al. (2006)
nach FOLEY (1987), modifiziert).
für zukünftige ‚Entscheidungsspielräume’ setzt“
(vgl. VOGEL 1982, S. XV). Evolution ist offen, ihre
Produkte erweisen sich nur im Nachhinein betrachtet als zweckmäßig. Die evolutionsbiologische Herausforderung besteht daher darin, die
Entwicklung der Organismen als selbstorganisatorischen Anpassungsprozess via Mutations- und
Selektionsmechanismen zu verstehen, und zwar
ohne inkonsistente Spekulationen aller Art. Das
Hominisationsproblem ist damit nicht die Frage nach dem ‚großen Entwurf’ der Natur, denn
die Anthropogenese verlief nicht zielgerichtet.
Bereits Charles DARWIN hatte in seinem Erklärungsansatz zur Zweckmäßigkeit der Natur die
‚äußere’ Sinngebung aus der Verklammerung mit
der ‚inneren’ Sinngebung gelöst, was PITTENDRIGH
(1958) schließlich in dem Begriff Teleonomie in Abgrenzung zur Teleologie aristotelischer Tradition
zum Ausdruck brachte.
Auf den Menschen bezogen heißt das aber
auch, sich nicht nur auf die Analyse und Interpretation des morphologischen Formenwandels
zu beschränken, sondern auch unsere spezifische
psycho-physische Konstitution evolutionsbiologisch zu erklären und die besonderen Rahmenbedingungen der Menschwerdung zu erfassen. Es
gilt nicht nur, die den Menschen kennzeichnende
Morphologie, wie z.B. die habituelle Bipedie so-
2
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
wie die omnivore Ernährungsweise und exzessive Cerebralisation, am Fossilmaterial nachzuweisen und selektionstheoretisch zu erklären, sondern auch die Kulturfähigkeit, wie z.B. komplexe
Werkzeugherstellung und -verwendung, gesteigertes tradigenetisches Verhalten, Symbolsprache, Geschichtlichkeit und soziale Verantwortung, als Adaptationsmuster zu verstehen (OSCHE
1983; VOGEL 1975, 1983, 2000; HENKE UND ROTHE
1999a; ROTHE UND HENKE 2005). Dabei kommt hinsichtlich der Erklärung der Hominisation das Problem der Objekt-Subjekt-Identität erschwerend
hinzu, denn der Mensch ist sowohl erklärendes
Subjekt als auch erklärtes Objekt. Das erfordert
den unverstellten Geist der Aufklärung und birgt
aufgrund zu großer Nähe zum ‚Objekt Mensch’
die Gefahr der subjektiven Fehleinschätzung, was
bereits Thomas H. Huxley als erkenntnistheoretisches Hindernis erkannte und deshalb vorschlug,
sich „… einmal in die Stelle wissenschaftlich gebildeter Bewohner des Saturns zu versetzen, die
hinreichend mit solchen Tieren, wie sie die Erde
bewohnen, bekannt sind“ (HUXLEY 1863, s. Nachdruck 1963, S. 110), um die Verwandtschaftsbeziehungen unvoreingenommen und leidenschaftslos
aus der Distanz zu bewerten.
Außenstehende den Eindruck gewinnen, dass
die Paläoanthropologie eine prinzipienlose Wissenschaft sei. In der Tat besitzen phylogenetische
Hypothesen aufgrund neu entdeckter Fossilfunde und innovativer Methodenansätze eine kurze
‚Halbwertszeit’ respektive hohe Verfallsrate. Es
wäre aber völlig verfehlt, die Paläoanthropologie
bei voller Ausschöpfung der methodischen Möglichkeiten sowie Respektierung der Grenzen des
Methodeninventars deshalb als wenig seriöse Disziplin abzuwerten. Man könnte den raschen Wandel der Modelle ja auch als Folge und Ausdruck
der besonderen Innovativität und Dynamik des
Faches werten, was aber blauäugig wäre, denn es
ist nicht zu bestreiten, dass Fossilfunde und paläoanthropologische Befunde bisweilen journalistisch voreilig ‚vermarktet’ werden, dass es sich
um eine hochgradig fossil and media driven science
handelt. Schlagzeilen in Der Spiegel wie: „Großer
Kampf um kleine Kerle. War der berühmte „Hobbit“ von der Insel Flores ein Krüppel oder der
Vertreter einer neuen Menschenart? Der Forscherstreit geht in die nächste Runde“ – oder: „Fossilien
lassen menschlichen Stammbaum wackeln“ […].
Nicht direkt aus Afrika, wie zuvor angenommen,
sondern über Asien wanderten die ersten Europäer ein“, belegen angebliche oder tatsächliche
Fehleinschätzungen, ständigen Wandel und harte Kontroversen. Letztere prägen das Image einer
‚flüchtigen’ Wissenschaft und diskreditieren die
‚Glaubwürdigkeit’ (engl. credibility) der Paläoanthropologie. Sie vermitteln in der Öffentlichkeit
den Eindruck, die Paläoanthropologen hätten
– in wissenschaftlicher Hinsicht – „Prinzipien wie
Segelschiffe“, soll heißen, dass sie sich mit jedem
neuen Fossil und jeder neuen Datierung in die
Richtung bewegen, in die der „öffentliche Wind“
bläst. „Simple curiosity“ sensu Gaylord G. Simpson
(vgl. WHITE 2000) ist keine hinreichende Basis für
anerkannte paläoanthropologische Wissenschaft,
wohl aber für Karrieristen, die dieses Fach offenbar stärker anzieht als andere Disziplinen. Deren
maximale persönliche Bedrohung lautet offenbar:
„Du kommst nicht ins Fernsehen!“ Die gegenwärtigen Wissenschaftsstrukturen sind an dieser
Entwicklung nicht ganz schuldlos, denn die Gratwanderung zwischen Elfenbeinturm und Öffentlichkeit wird zunehmend schwieriger, zumal die
die Forschung finanzierenden Institutionen die
intensive mediale Umsetzung wissenschaftlicher
Befunde als evaluationsrelevant werten. Im Informationszeitalter ist es deshalb nicht unerwartet,
dass die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“ sensu
Stephan FRANCK (1998) diejenige biologische Disziplin, die unser eigenes Werden und Sein betrifft,
Seitdem uns bewusst ist, dass auch der Mensch
Geschichte hat, lauten die Kernfragen der Paläoanthropologie nach wie vor:
• wer sind unsere nächsten lebenden Verwandten in der Primatenordnung,
• wann und wo, d. h. an welcher Stelle im Primatenstammbaum, zweigte die zum Menschen
führende Stammlinie ab,
• welche speziellen evolutionsökologischen Rahmenbedingungen ermöglichten den Prozess
der Menschwerdung;
• wie viele fossile hominine Vorläuferformen gab
es, und
• wie verlief die evolutive Entstehung unseres
spezifisch menschlichen Merkmalgefüges (insbesondere Geschichtlichkeit, Sprache, Moral)?
Zielsetzung des vorliegenden Beitrags ist es, in
aller gebotenen Kürze einige Prinzipien und Methoden der Paläoanthropologie darzulegen und
das Natur-Kultur-Wesen Mensch als „another unique species“ sensu Robert FOLEY (1987) – eine andere einzigartige Spezies der Ordo Primates – zu
kennzeichnen.
Aufgrund des rapiden Methodenfortschritts
der letzten Jahrzehnte und des Wechsels des
stammesgeschichtlichen ‚Jeweilsbildes’ könnten
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aktuell
Winfried Henke
besonders prägt; es verwundert nicht, dass die Paläoanthropologie aufgrund übermäßigen populärwissenschaftlichen Interesses und der Neigung
seiner Vertreter, dieses intensiv zu bedienen, von
außen häufig als das wahrgenommen wird, was
sie bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts auch
weitestgehend war, eine ideographische, narrative Wissenschaft (vgl. auch WHITE 2000; HENKE UND
ROTHE 2006; HENKE 2007).
Eine detaillierte ‚Innenschau’ des Faches
kommt jedoch zu einem ganz anderen Befund,
denn der wissenschaftliche Fortschritt der letzten Dezennien kennzeichnet die Paläoanthropologie als eine faktenreiche, höchst innovative,
theoriengeleitete Wissenschaft, als „begründete“
Stammesgeschichtsforschung, was nachfolgend
verdeutlicht werden soll (HENKE UND ROTHE 1994,
1999a, 2003; HENKE UND TATTERSALL 2007).
sensalamanders herausstellte, ferner die für die
Konstituierung der Paläoanthropologie so folgenschwer fehldiagnostizierte Piltdown-Fälschung
(‚Eoanthropus dawsoni’; vgl. SPENCER 1990a, b) oder
Noel Boaz’ Fehlinterpretation einer Delfinrippe
aus Nordwest-Afrika als hominoide Clavicula,
von Tim White hämisch als „Flipperpithecus“ bezeichnet. Phylogenese ist also nie an den Funden
selbst abzulesen, und auch der Zuwachs an Fossilien bringt nicht automatisch mehr Klarheit über
stammesgeschichtliche Abläufe, sondern bewirkt
bisweilen sogar das Gegenteil, d.h. lange Zeit für
‚wahr’ gehaltene phylogenetische Vorstellungen
mussten aufgrund neuer Funde und Befunde
verworfen werden. Menschen sind ständig nach
„Wahrheiten“ suchende, auch in der Paläoanthropologie.
Wer als Paläoanthropologe etwas über die
Menschwerdung erfahren will, hat im Rahmen
der Darwinschen Evolutionstheorie bzw. des
seither stetig fortentwickelten Gebäudes der Systemtheorie der Evolution Hypothesen zu formulieren, und er hat auf der Basis geeigneten Methodeninventars den Versuch zu unternehmen, die
Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren.
Selbstverständlich ist auch der quantitative Aspekt, die Anzahl fossiler Fundstücke, für die
phylogenetische Rekonstruktion wesentlich. Man
kann aber zuverlässig prognostizieren, dass der
Fossilreport stets defizitär bleiben wird; darüber
hinaus ist die Suche nach dem ‚missing link’, dem
Bindeglied zwischen Menschenaffen und Mensch,
ein überaus fragwürdiges Konzept, und zwar in
der Hinsicht, als es paläoanthropologisch nach
kladistischen Vorstellungen nur um den „most
recent common ancestor“ (MRCA), den letzten gemeinsamen Vorfahren, und die Bestimmung des
Gabelungspunktes der zu den Schwestertaxa
(Adelphotaxa) führenden Stammlinien von afrikanischen Menschenaffen und Menschen gehen
kann (ROTHE UND HENKE 2006).
Der rapide Anstieg von Hominidenfossilien ist
nicht zufällig; er geht auf eine präzise geologische
und archäologische Exploration und Planung von
Feldstudien in fundträchtigen Regionen zurück.
Dennoch hängt der Erfolg jeder Grabungsexpedition, insbesondere das Auffinden von Homininenfossilien, d. h. der ‚Nuggets’ jeder Grabung,
von vielen Zufallsfaktoren ab. Grabungskompetenz, Fleiß und Ausdauer sind zwar wichtige
Voraussetzungen für den Erfolg, aber keineswegs
eine Erfolgsgarantie. Was die wissenschaftliche
Analyse und Interpretation von Fossilien betrifft,
so ist das Vorurteil zu widerlegen, dass Laborarbeit die gegenüber Feldstudien entschieden
2. Prinzipielles und Methodisches
2.1 Fachliche Vernetzung und innovative
Trends
Wissenschaftshistorische Trends in der Paläoanthropologie sind der sprunghafte Anstieg neuer
Fossilfunde aufgrund systematisch geplanter und
durchgeführter Grabungen (Stichwort GPS – Global Positioning System), die zunehmend fächerübergreifende Bearbeitung stammesgeschichtlicher Probleme (Multi- und Interdisziplinarität)
mit positiven Konsequenzen für die Methodologie und empirische Forschung sowie die sprunghaften Innovationstrends und die wachsende
Bedeutung zahlreicher Disziplinen wie Taphonomie, phylogenetische Systematik, Funktionsund Evolutionsmorphologie, Paläoökologie, Soziobiologie, Paläogenetik und Archäometrie für
die Lösung evolutionsbiologischer Fragen (vgl.
HENKE UND ROTHE 1994, 2003; HENKE 2005, 2006a, b,
2007; HENKE UND TATTERSALL 2007).
Entgegen landläufiger Meinung ist die Stammesgeschichte an Fossilien, also an versteinerten Überresten früherer Lebewesen, nicht direkt
erfahrbar. Fossilien sind zwar – trotz molekularbiologischer Befunde – unerlässliche Belege
für stammesgeschichtliche Prozesse, sie liefern
jedoch keine unmittelbare faktische Information
über den Ablauf der Evolution. Das wird insbesondere dadurch deutlich, dass Fossilien in der
Vergangenheit häufig verkannt oder eklatant
missinterpretiert wurden; man denke nur an den
‚Homo diluvii testis’, Johann Jakob Scheuchzers
‚armen Sünder’, der sich als Skelett eines Rie-
aktuell
4
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Modellen kommen, die über eine sog. Mittlertheorie aufgrund empirischer oder quasi-empirischer
Tests „Fenster zur Vergangenheit“ öffnen. Da die
Ansprüche der Paläoanthropologie hoch gesteckt
sind, ist das Fach auf die intensive Kooperation
mit Nachbardisziplinen (Abb. 2) angewiesen.
Eine intensive interdisziplinäre Vernetzung kennzeichnet deshalb die wachsende Attraktivität des
Faches, das weit über eine reine Fossilkunde hinausgeht (HENKE UND ROTHE 2006; HENKE 2007).
Was die aktuellen Wissenschaftstrends betrifft,
die innovativen Felder der Paläogenetik (HUMMEL
2003, 2007; BURGER 2007) und Archäometrie (WAGNER 2007b), so befindet sich die gegenwärtige
Forschung in einem sehr dynamischen Prozess.
Es bleibt jedoch abzuwarten, ob es uns gelingen
wird, taxonomische Fragen der Homininen-Evolution mittels alter DNA (aDNA) zweifelsfrei zu
lösen, das Ticken der „Molekularen Uhr“ zuverlässig zu erfassen oder den „Speiseplan“ und die
Abb. 2 VENN-Diagramm, das die Beziehungen jener Disziplinen aufzeigt, die an der Erforschung der Stammesgeschichte mitwirken [nach HENKE und ROTHE (1994), und HENKE und TATTERSALL (2007), modifiziert].
weniger anspruchsvolle Art der Forschung sei;
sicherlich ist sie meist die weniger spektakuläre.
Wer als Paläoanthropologe Ruhm ernten will,
muss offenbar graben – nur dann erlangt er die
gewünschte Aufmerksamkeit, die „unwiderstehlichste aller Drogen“ (FRANCK 1998). Um es salopp
zu formulieren: „Adventure sells“; – aber bei näherem Hinsehen nehmen sich die Abenteuer im
3. Jahrtausend als kalkulierbar und risikofrei aus,
es sei denn, man kommt – wie zu Goldgräberzeiten – seinen Kollegen in den Claims in die Quere
(vgl. WHITE 2000; KALB 2001). Offenbar bedarf es
sowohl höchst effizienter Feldstudien als auch
exzellenter Laborstudien, um dem Prozess der
Menschwerdung nachzuspüren.
Der Systemansatz zur Analyse der Stammesgeschichte des Menschen (vgl. Abb. 1) verdeutlicht, dass wir, ausgehend von einer Kontrolltheorie, d. h. den allgemeinen Evolutionsprinzipien,
über eine operationale Theorie zu biologischen
5
aktuell
Winfried Henke
Klassifikation der zu ordnenden Organismen
(oder Objekte) voraus, d. h. die genaue Analyse
ihres Erscheinungsbildes. Diese fußt auf Merkmalen, also auf gesondert erfassbaren, abgrenzbaren
Eigentümlichkeiten oder Eigenschaften, die ihren
Träger kennzeichnen und ihn zu beschreiben erlauben. Eine fundamentale Methode biologischer
Forschung ist der Vergleich anhand deskriptiver
oder messbarer morphologischer, anatomischer,
physiologischer, serologischer, molekularbiologischer oder ethologischer Eigenschaften oder
„Merk-Male“, die man 1. bemerkt, 2. sich merkt
und auf die man 3. auch andere aufmerksam
macht – mit anderen Worten: eine Einheit, die man
beobachtet, festlegt und mitteilt (WERNER 1970).
Erst die Kenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Organismen bzw. systematischen Gruppen ermöglicht die Konstruktion von
Stammbäumen bzw. phylogenetischen Verwandtschaftsdiagrammen (ROTHE UND HENKE 2006; WIESEMÜLLER ET AL. 2003). Da die unüberschaubare
Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen
Organismen in der Phylogenese über die fortlaufende Spaltung von Arten entstand, ist die Vielfalt
der Organismen Ausgangspunkt der Systematik.
Grundeinheit der Evolution ist die Art. Die kontroverse Diskussion über Artbegriff und Evolutionsvorstellungen kann hier nicht vertieft werden,
ebenso wenig wie Ansätze der unterschiedlichen
Schulen biologischer Klassifikation (WÄGELE 2000;
ROTHE UND HENKE 2001, 2006; WIESEMÜLLER ET AL.
2003). Sie sind aber essentiell, um die Vielfalt der
hypothetisierten Speziationsprozesse während
der Hominisation zu verstehen, denn erst auf
dieser Ebene werden die gravierenden Diskrepanzen in den Stammbaummodellen transparent
und nachvollziehbar (HARDT UND HENKE 2007).
Lästerzungen behaupten, Stammbäume seien wie
Blumensträuße – schön anzusehen, aber schnell
verwelkt. Recht haben sie – und das wusste schon
Darwin (1871, dt. Übersetzung 1982, S. 262): „Falsche Tatsachen sind äußerst schädlich für die Wissenschaft, denn sie erhalten sich oft lange; falsche
Theorien dagegen, die einigermaßen durch Beweise gestützt werden, tun keinen Schaden, denn
jedermann bestrebt sich mit löblichem Eifer ihre
Unrichtigkeit zu beweisen. Und wenn die Arbeit
getan ist, so ist der Weg zum Irrtum gesperrt, und
der Weg zur Wahrheit ist oft in demselben Moment eröffnet.“ Der Ansatz ist wegweisend, aber
es bedarf unter Wissenschaftlern keines Hinweises, dass das Wort Wahrheit als philosophischer
Begriff in den Registern der Werke aller Philosophen viel Raum einnimmt (vgl. hierzu auch CHARGAFF 2002).
Erkrankungsmuster fossiler Homininen mittels
molekularbiologischer, biochemischer und biophysikalischer Verfahren präzise zu rekonstruieren (KRINGS ET AL. 1997; TEMPLETON 2006; KRAUSE ET
AL. 2007). Die Konkurrenz, die die molekularbiologischen High-Tech-Laboratorien den bisweilen
etwas verstaubt anmutenden osteologischen Laboren machen, ist begrüßenswert und stimulierend – denn Konkurrenz belebt das Geschäft. Die
Leistungsfähigkeit „klassischer“ Disziplinen wie
die Morphologie – man denke nur an moderne
bildgebende Verfahren, z. B. RasterelektronenMikroskopie (REM), 3D-Computertomographie
(CT), Magnetresonanztomographie (MRT), Röntgen-Kinematographie, Virtuell Imaging (VI) (ULHAAS ET AL. 2005; ZOLLIKOFER UND PONCE DE LEON
2005; ULHAAS 2007), – aber auch die Systematik
mit ihren komplexen verwandtschaftsanalytischen Methoden (Phylogenetische Systematik,
Evolutionäre Taxonomie, Numerische Taxonomie) sollte man jedoch in ihrer Bedeutung nicht
unterschätzen (WIESEMÜLLER ET AL. 2003; HARDT ET
AL. 2006; HENKE UND TATTERSALL 2007; ROTHE UND
HENKE 2001a).
Ferner eröffnet nur der Vergleich mit rezenten Primaten, die den Vorzug der allseitigen Erforschbarkeit haben, Möglichkeiten, die stammesgeschichtlichen Adaptationen des Menschen adäquat zu interpretieren. Ethologische Freiland- und
Laborforschungen sind essentiell, um die Wechselbeziehungen zwischen den Komponenten der
Organismen und des Lebensraumes und damit
letztlich auch die hypothetische ökologische Nische der frühen Homininen zu rekonstruieren (BOESCH UND BOESCH-ACHERMANN 2000; KAPPELER 2005;
MEDER 2007). Um ein stammesgeschichtliches Szenario zu erstellen und evolutionsökologisch relevante Aussagen über Vorläufer unserer Spezies
zu treffen, gilt es, diese zunächst überhaupt erst
einmal aufgrund ihrer morphologischen Eigenheiten zu identifizieren. Damit erlangt die älteste
Disziplin der Biologie, die Systematik, die in den
1960er Jahren schon fast abgeschrieben schien,
wieder erhebliche Bedeutung (WÄGELE 2000; WIESEMÜLLER ET AL. 2003).
2.2 Zur Rekonstruktion phylogenetischer
Beziehungen
Systematik ist zunächst ein Mittel zur „Beherrschung der Mannigfaltigkeit der Organismen“
(aber auch unbelebter Dinge, wie z. B. Mineralien)
oder – bezogen auf die Biologie – die Theorie und
Praxis in der Aufdeckung und Wiedergabe der
Ordnung der lebenden Natur. Systematik setzt
aktuell
6
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Die phylogenetische Rekonstruktion nimmt
auf die definierten (jedoch in der Paläoanthropologie stark umstrittenen) Arten und deren
Merkmalsausprägungen Bezug und folgt einer
Serie logischer Schritte; einige sind in der Abb. 3
festgehalten. Zunächst werden Morphoklines, d. h.
Gradienten der Merkmalsentwicklung, ermittelt.
Dann wird die Richtung des Gestaltwandels, die
Polarität, bestimmt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Ausprägung verschiedener Merkmale von einem ursprünglichen Merkmalsstatus
über Zwischenstadien zu abgeleiteten Ausprägungen entwickelt. Alle Artbildungsmodelle setzen
für die Entstehung neuer Arten die Entwicklung
evolutiver Neuheiten – abgeleitete Merkmale oder
Apomorphien – voraus, weshalb die Stammbaumrekonstruktion allein auf diesen – im Gegensatz zu
den ursprünglichen Merkmalen, den Plesiomorphien – aufbaut.
In einem weiteren Schritt erfolgt die Konstruktion eines Kladogramms, d. h. einer Baumgrafik, wobei am einfachsten von einem polarisierten Morphokline ausgegangen wird und jene Arten, die
ein oder mehrere Merkmale gemeinsam haben, auf
demselben Ast des Kladogramms angeordnet werden. Damit wird angedeutet, dass sie miteinander
näher verwandt sind als mit Spezies, mit denen sie
keine Neuerwerbungen teilen.
Dass die Dinge in praxi weit komplexer sind,
zeigt sich immer dann, wenn sich mehrere Kladogramme ergeben, d. h. widersprüchliche Lösungen,
wobei dann nach dem sog. Sparsamkeits- oder Parsimonieprinzip die einfachste Lösung als die wahrscheinlichste angenommen wird. Das „Ockham’s
razzor“ nur ein methodischer Kompromiss in Ermangelung besser geeigneter Vorgehensweisen
ist, versteht sich von selbst.
Der nächste Schritt ist die Konstruktion des
Stammbaumes. Kladogramme sind keine Stammbäume! Um einen Stammbaum zu erhalten, bedarf es weiterer Analyseschritte. Das dabei anzuwendende Prinzip basiert auf der maximalen
Nutzung von Informationen, die nicht aus dem
Kladogramm selbst abzulesen sind. Dazu gehören
Angaben zur Stratigraphie, Chronologie und geographischen Verbreitung eines Taxon. Diejenige
Stammbaum-Hypothese, die die meisten Informationen kompatibel miteinander vereint, hat den
höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad. Aufgrund neuer Informationen „wackelt“ ein Stammbaum nicht
selten schon nach kurzer Zeit – das ist im Rahmen
der Erwartung.
Abschließend erfolgt die Erstellung eines Szenarios. Die Zeichnung eines umfassenden Lebensbildes unter Berücksichtigung des „life-history“Konzepts (HEMMER 2007) erfordert die konzertierte
Aktion aller paläoanthropologisch relevanten Disziplinen: So wird uns nur der Vergleich mit heute
lebenden Primaten zuverlässige Modelle über die
Fortbewegungsweise unserer Vorfahren ermöglichen; nur der ethnoarchäologische Vergleich
mit rezenten Wildbeutern kann uns hinreichende
Informationen zur Rekonstruktion früherer Lebensweisen liefern; nur mittels der Methoden der
Taphonomie – im Deutschen häufig etwas unzutreffend als „Begräbniswissenschaft“ bezeichnet
– werden wir die biostratinomischen Prozesse der
Fossilisation und Fossildiagenese nachvollziehen
können; d. h. mit elaborierten Verfahren wird der
Übergang eines Organismus von der Biosphäre in
die Lithosphäre, also in die Versteinerung, rekonstruiert. Nur die Paläogeologie und -geographie
Abb. 3 Von der Merkmalsanalyse zum Szenario;
Schritte der phylogenetischen Rekonstruktion:
a Bestimmung eines Morphokline,
b Konstruktion eines Kladogramms,
c Konstruktion eines Stammbaums,
d Erstellung eines Szenarios
(nach HARDT et al. 2006, aus HENKE u. ROTHE 1994, modifiziert).
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aktuell
Winfried Henke
Das Alter eines Fossils, das mit relativen (z.B.
Biostratigraphie; Fluormethode) und absoluten
Datierungsverfahren (radiometrische und nichtradiometrische Methoden; vgl. WAGNER 2007a, b)
bestimmt werden kann, ist eine zusätzliche Information gegenüber einem rezenten Fund; es
erlaubt die Korrektur der relativen Lage der Verzweigungen von Stammbäumen (RIEDL 1975).
Molekularbiologische Verfahren haben seit den
1960er Jahren (GOODMAN 1962, 1963; SARICH 1971;
JOBLING ET AL. 2004) unsere chronologischen Vorstellungen stark verändert (man denke nur an die
late divergence- versus early divergence-Kontroverse um die Abzweigung der zum Menschen führenden Stammlinie; vgl. HENKE und ROTHE 1994).
Nach heutigen Befunden der Molekularen Uhr
wird das Alter des letzten gemeinsamen Vorfahren von Menschenaffen und Homininen auf 5,5
bis 8 Millionen Jahre geschätzt, erfolgte gegenüber alternativen Vorstellungen (RamapithecusModell) also erst relativ spät. Die bislang ältesten
Fossilien, die – wenn auch höchst umstritten – der
Homininen-Linie zugeordnet werden, haben ein
Alter von ca. 6 Mill. Jahren und stammen aus Afrika, wo übrigens schon Darwin aufgrund der
verwandtschaftlichen Nähe des Menschen mit
den Gattungen Pan und Gorilla den Ursprung
vermutete. Die schon viele Dezennien währende
Suche nach dem ‚Urahnen’ der Stammlinien der
Hominini und Panini/Gorillini und die zahlreichen Propagierungen der ältesten Vertreter der
zum Menschen führenden Linie, angefangen 1924
beim Taung-Kind (Australopithecus africanus) über
„Lucy“ (Australopithecus afarensis) sowie Australopithecus garhi und Australopithecus anamensis
bis hin zu Ardipithecus ramidus kadabba, Orrorin
tugenensis oder dem höchst umstrittenen Sahelanthropus tchadensis (vgl. Abb. 4) demonstrieren einerseits, wie lückenhaft der Fossilreport ist, und
andererseits, wie uneinheitlich das verfügbare
Methodeninventar zur Kennzeichnung fossiler
Taxa und zur Rekonstruktion phylogenetischer
Prozesse appliziert wird (VRBA 2007). Auch hinsichtlich der molekularbiologisch ermittelten zeitlichen Tiefe unseres Eigenwegs besteht offenbar
aufgrund neuerer paläontologischer Daten Unsicherheit, wie die mit den molekulargenetischen
Gabelungshypothesen nicht im Einklang stehende Interpretation des jüngst entdeckten miozänen
Gorilla-Verwandten Chororapithecus abyssinicus
(SUWA ET AL. 2007) zeigt.
Während die Paläoanthropologen den meisten Australopithecus-Taxa heute nur noch eine
marginale Rolle im Rahmen der Hominisation
zuschreiben, d.h. sie als aufrecht gehende Men-
können die in vor- und frühgeschichtlicher Zeit
existierenden Migrationswege der Homininen in
Zusammenarbeit mit der Paläontologie und Zoogeographie aufzeigen, und in jüngerer Zeit schicken
sich auch Molekularbiologen an, diese Aufgabe
tatkräftig mit populationsgenetischen Vergleichsanalysen zu unterstützen (RICHARDS 2002; JOBLING ET
AL. 2004; BURGER 2007). Nur in der Paläopathologie
und Epidemiologie Geschulte werden in der Lage
sein, über die Krankheitsbelastungen unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren fundiert zu urteilen
und erste Hinweise auf soziale und medizinische
Hilfe sowie auf Seuchen und ihre selektiven Wirkungen finden; nur mittels ausgefeilter Verfahren
der Archäometrie, d. h. mikro- und makromorphologischer sowie biophysikalischer und -chemischer
Ansätze, werden wir die Fossilien differentialdiagnostisch richtig deuten und Fehlurteile minimieren
können. Noch viele weitere Disziplinen wären hier
zu kennzeichnen (vgl. Abb. 2), eines sollte aber bereits deutlich geworden sein: Nur durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Disziplinen der
Feld- und Laborforschung werden wir der Herausforderung der Evolutionsbiologie gewachsen sein, den
einmalig abgelaufenen, realhistorisch-genetischen
Prozess der Menschwerdung angemessen, d. h.
nachhaltig und dauerhaft, zu rekonstruieren.
2.3 Raumzeitliche Verortung homininer
Fossilien
Die Verortung des Hominisationsprozesses in
Raum und Zeit kann auf zwei Wegen erfolgen, einerseits durch die vergleichende Analyse lebender
Primaten, andererseits durch die Analyse und Interpretation von Hominidenfossilien. Da Primaten
in den ihnen angestammten Lebensräumen relativ
selten fossilisierten, gehören Sie zu den seltenen
paläontologischen Funden. Die Wahrscheinlichkeit für den Übergang von der Biosphäre in die
Lithosphäre hängt von der Sequenz biologischer,
chemischer und physikalischer Transformationsbzw. Dekompositionsvorgänge ab, die Gegenstand der Taphonomie sind (SHIPMAN 1981; ROTHE
und HENKE 2001b; HARDT ET AL. 2007). Die systematische Dekodierung umfasst alle postmortalen biostratinomischen und fossildiagenetischen Veränderungen des Individuums von seiner definitiven
Einbettung bis zur Entdeckung. Die Paläoökologie
analysiert all jene Prozesse, die einen Organismus
während seiner Lebensspanne beeinflusst haben;
sie rekonstruiert die ökologische Nische, wobei die
Taphonomie als integraler Bestandteil der Paläoökologie verstanden wird (PIANKA 1988; ETTER 1994;
NENTWIG 2007a, b).
aktuell
8
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Abb. 4 SplitterStammbaummodell aus
HENKE und ROTHE (2003),
modifiziert (vgl. HARDT ET
AL. 2006).
schenaffen betrachten (z.B. TATTERSALL 2005),
schließen andere diese und selbst die Habilinen
(Homo habilis, Homo rudolfensis) mit hoher Wahrscheinlichkeit (WOOD 1996, 2006; WOOD und COLLARD 1999a, b, 2001; WOOD und CONSTANTINO 2006;
COLLARD und WOOD 2007) oder gänzlich aus unserer Vorfahrenschaft aus (vgl. SENUT 2007). Dabei hatte Tobias (1989a, b) so zahlreiche und z.T.
auch sehr glaubwürdige Argumente für den Homininenstatus von Homo habilis geliefert, bis hin
zur Annahme „that he could say and do“. Aber die
credibility von Homo habilis bröckelte schon seit
Langem (STRINGER 1986) und auch der Eigenweg
innerhalb des Genus Homo wird sehr kontrovers
diskutiert (Übersicht in HARDT und HENKE 2007).
Eine nähere Betrachtung der den Analysen zugrunde liegenden Verfahren zeigt, dass sehr
häufig unterschiedliche Artbegriffe (Biospezies,
evolutionäre Spezies, Morphospezies, Chronos-
pezies) verwendet werden (vgl. u.a. HENNIG 1950,
1966; MAYR 1975, 1991; TATTERSALL 1986; MCHENRY 1996; WOLPOFF und CASPARI 1997; WHEELER und
MEIER 2000; FUTUYAMA 2007), die voneinander abweichende kladistische und gradualistische Modelle prägen (Methodenübersicht in WÄGELE 2000;
WIESEMÜLLER ET AL. 2003; ROTHE und HENKE 2001a,
2006). Während die archäometrischen Datierungverfahren bei hinreichenden materiellen Voraussetzungen eine präzise zeitliche Zuordnung
von Fossilien erlauben, bieten die phylogenetischen Rekonstruktionsverfahren eine erhebliche
Breitseite für kritische Einwände. Dabei handelt
es sich keineswegs nur um semantische Probleme, wie manche meinen, sondern um massive
Schwierigkeiten, die „Ordnung des Lebendigen“
aufgrund morphologischer und selbst molekularbiologischer Merkmalsmuster (z.B. mtDNA)
zu rekonstruieren.
9
aktuell
Winfried Henke
Die Merkmalsanalyse von Fossilien erfasst
sog. Form-Funktion-Komplexe (Fakultäten) und
deren Beziehungen untereinander, aus denen
jedoch nur hypothetisch auf die biologische Rolle
geschlossen werden kann. In der praktischen Arbeit ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten, die
Anpassungen von Merkmalen zweifelsfrei nachzuweisen. Hierzu ist immer der Abgleich mit lebenden Organismen notwendig (Abb. 5), da über
die Adaptationen (Prozesse und Zustände) nur
Hypothesen formuliert werden können. Einige
Beispiele: So lässt sich aus dem auffällig tiefen
Handwurzelkanal von Australopithecus anamensis
auf eine extrem starke Greiffunktion schließen.
Da diese pliozäne Spezies bereits habituell biped
2.4 Funktions- und evolutionsmorphologische
Kennzeichnung fossiler Hominini
Ziel paläoanthropologischer Forschung ist es,
die Hominisation als evolutive Anpassung großwüchsiger, terrestrisch lebender, omnivorer Primaten an die ökologischen Herausforderungen
saisonaler tropischer Landschaften im trans-, inter- und intraspezifischen Wettbewerb zu verstehen. Nach den fossilen Quellen zeichnet sich eine
Mosaikevolution ab: zunächst erfolgte – offenbar
mehrfach – die Entwicklung der habituellen Bipedie, dann die Umgestaltung des Kauapparates auf Omnivorie und schließlich die exzessive
Hirnentfaltung (Cerebralisation).
Abb. 5 Vergleichendmorphologischer Ansatz
der Paläoanthropologie,
illustriert am Beispiel
der Analyse der Kranialmorphologie fossiler
und rezenter Homininen
(nach HARDT und HENKE
2007, modifiziert).
Homo
ergaster
aktuell
10
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
war, ist zu vermuten, dass anamensis noch teilweise arborikol lebte. – Verhaltensfossilien wie die
Fußspuren in der vulkanischen Asche von Laetoli
lassen Rückschlüsse auf Schrittlänge und Körpergewicht von Australopithecus zu. – Computertomographisch gemessene Kompaktadicken der
Extremitätenknochen bei Neandertalern belegen
deren enorme körperliche Stärke. – Außer der
Makromorphologie (Kauflächen, Höckerstruktur) geben z.B. mikromorphologische Befunde an
Zähnen (z.B. Abkauungsspuren, Zahnschmelzdicken) Aufschluss über Ernährungsweisen (HENKE
und ROTHE 1997; ULHAAS ET AL. 2004; ULHAAS 2007)
und Habitatpräferenzen. – Sexualdimorphismen
erlauben Rückschlüsse auf Verhaltensmuster der
Geschlechter und Vergesellschaftungsformen
früher Hominini. – Ausgeheilte Pathologien und
intentionale Bestattungen lassen auf entwickelte
Kooperationsstrukturen und soziale Kompetenz
schließen. – 3D-analytische Verfahren und das
Arsenal bildgebender Diagnostik (ZOLLIKOFER und
PONCE DE LEON 2005; ULHAAS 2007) eröffnen die
Möglichkeit, wie Preziosen gehütete, rare Fossilien durch digitale Modelle einem breiteren Untersucherkreis zugänglich zu machen. Aufgrund der
damit gegebenen Kontrolle sollte das kein Desiderat bleiben! Ansätze wie das Verbundsystem TNT
(The Neanderthal Tools) inkl. NESPOS - Neanderthal Studies Professional Online Service sind
aussichtsreiche Perspektiven, um zu einer intersubjektiven Beurteilung des Fossilreports zu gelangen (http://www.the-neanderthal-tools.org/
?page_id=13).
In jüngerer Zeit gewinnt in der Paläoanthropologie die integrierte Betrachtung von ‚evolution
and development“ (Abk. Evo-Devo) verstärkt Beachtung. So genannte Life-history-Analysen können potenzielle Ursachen für Fitnessunterschiede
detektieren. Die Erfassung ontogenetischer Variablen (z.B. Größe bei Geburt, Wachstumsverlauf
und -geschwindigkeit, Alter und Größe bei Fortpflanzung, Sexualproportionen, Mortalitätsmuster) ermöglicht die Ermittlung artspezifischer Parameter und diachroner Trends. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob z.B. die Reifung von
Homo erectus in ähnlichem Tempo oder deutlich
akzelerierter als bei Homo sapiens verlief (MINUGHPURVIS und MCNAMARA 2002).
Die Synopsis aller paläoanthropologischen
Befunde führt schließlich zur Rekonstruktion der
ökologischen Nische früher Hominini, zu der alle paläobiologischen Disziplinen mit ihren Analysen,
z.B. Faunen- und Florenzusammensetzung, Landschafts- und Klimarekonstruktion (u. a. Paläosole;
ALVERSON 2007; RETALLACK 2007), Nahrungsres-
sourcen (Abkauungsmuster, Dentolithen, stabile
Isotope; RICHARDS ET AL. 2000; GRUPE 2007; HARDT ET
AL. 2007; SPONHEIMER und LEE-THORP 2007), Vergesellschaftungsformen (Sexualdimorphismus; SUSSMAN und HART 2007) beizutragen vermögen, jedoch
sollte man stets L. P. Hartleys Warnung eingedenk
sein: „… the past is a foreign country, they do things
differently there“ (zit. nach FOLEY 1987, S. 78).
3. Stammbäume mit baldigem Verfallsdatum
- Jeweilsbilder
3.1. „Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an
Unruhe“ (J. W. Goethe)
Aufgrund intensiver Feld- und Laborforschung
wurde das Jeweilsbild unseres phylogenetischen
Eigenwegs stetig modifiziert. Das gilt insbesondere für die Anzahl der Speziationsereignisse.
Während Splitter über 20 hominine Arten annehmen, gehen extreme Lumper von weitaus weniger
Spezies aus, ja einige schließen Artspaltungen
in der pleistozänen Homo-Linie sogar aus (Übersicht in WOLPOFF 1996-1997, 1999; HENKE 2003a, b,
2005, 2006; HENKE und ROTHE 1999a, b, 2005). Das
Splitter-Stammbaummodell (Abb. 4; TATTERSALL
2006) macht deutlich, daß Sahelanthropus tchadensis
(BRUNET ET AL. 2002) eng an der Basis der Homininen-Linie steht; aufgrund des Merkmalsmosaiks
ist die Einbeziehung in unsere Stammlinie fraglich, denn nach WOLPOFF ET AL. (2002) liegen wenig
überzeugende Befunde vor. Die Klassifikation von
Orrorin tugenensis (SENUT ET AL., 2001) an der Homininenbasis „dehumanisiert“ dagegen die Australopithecus-Spezies. Selbst die Glaubwürdigkeit des
generischen Status von Homo habilis (L.S.B. LEAKEY
ET AL., 1964) und Homo rudolfensis (ALEXEEV 1986;
WOOD, 1992) steht in Frage (WOOD und COLLARD
1999a, b), so dass H. ergaster (GROVES und MAZÁK,
1975) als derzeit ältester, anerkannter Vertreter
unserer Gattung gilt. Dass mit dem stark gewachsenen Umfang der Hypodigmata die paläoanthropologischen Probleme nicht kleiner werden, belegt
das Neandertaler-Problem. Weder morphologisch
noch aufgrund der mtDNA-Befunde ist endgültig
geklärt, ob die Neandertaler eine eigene Art waren
– und dass sie „eigenartig“ waren, ist hinlänglich
bekannt (HENKE und ROTHE 1994, 1999b TATTERSALL
1995a, b, 1999, 2007; HENKE ET AL. 1996; RELETHFORD
2001; HENKE 2005; ZILHÃO 2006).
Molekulargenetische Befunde haben seit den
1960er Jahren die paläoanthropologische Modellbildung erheblich beeinflusst (s.o.), aber erst mit
den mtDNA-Analysen an rezenten Populatio-
11
aktuell
Winfried Henke
nen (CANN ET AL. 1987; STONEKING ET AL. 1989) und
schließlich mit der erfolgreichen Beprobung der
Fossilien aus der Kleinen Feldhofer Grotte (KRINGS
ET AL. 1997) und weiterer Neandertaler sowie jungpaläolithischer Skelette (u.a. OVCHINNIKOV ET AL.
2000; SERRE ET AL. 2004) gelang mit der Analyse alter DNA ein entscheidender methodischer Durchbruch (RELETHFORD 1999, 2001a, b; JOBLING ET AL.
2004; TEMPLETON 2002, 2006). Die ‚klassische’ CellArtikel von 1997 mit dem Titel „Neandertals were
not our ancestors“ belegt jedoch nur die Divergenz
der mt-DNA-Linien, schließt entgegen der vermeintlich klaren Aussage des zitierten Covertitels
die Neandertaler nicht gänzlich aus unserer Vorfahrenschaft aus (zur Diskussion siehe RELETHFORD
2001a; HENKE 2005).
Aufgrund der Degradation und Dekomposition alter DNA (BURGER ET AL. 1997; BURGER 2007)
blieben weitere spektakuläre Befunde an noch älteren Homo-Fossilien bislang aus, aber man darf
gespannt sein, ob zukünftig Befunde an der heidelbergensis- und erectus-Gruppe vorgelegt werden.
Die Wahrscheinlichkeit dafür ist jedoch minimal.
Gegenwärtig ist das Neandertaler-Genom-Projekt mit ersten Befunden auf dem ‚Wissenschaftsmarkt’ und liefert aufgrund des Nachweises der
Identität des FoxP2-Gens beim anatomisch-modernen Menschen und beim Neandertaler die
ersten als spektakuläre paläoanthropologische
Erkenntnisse publizierten Befunde (KRAUSE ET AL.
2007). Die Erwartung, dass genomische Analysen
nukleärer DNA möglicherweise eine mangelnde
Sprachfähigkeit der Neandertaler auf der Basis
plesiomorpher FoxP2-Varianten bescheinigen
würden (ENARD 2005), konnten durch jüngere Befunde nicht gestützt werden, denn die abgeleitete
FoxP2-Variante des modernen Menschen besaßen
auch schon die Neandertaler (KRAUSE ET AL. 2007)
– aber wer glaubte eigentlich daran, dass Neandertaler noch nicht einer Sprache mächtig waren,
wenn schon der Homo heidelbergensis, den einige
als archaischen Homo sapiens, andere als Ante-Neandertaler betrachten, schon aufwändige Holzspeere für die Distanzjagd fertigte (THIEME 2005).
Zur jüngeren Diskussion kognitiver Leistungen
der Gattung Homo siehe auch CONARD (2006a, b,
2007) und HAIDLE (2006, 2007).
POFF ET AL.
1994a, b; WOLPOFF und CASPARI 2000)
gehen davon aus, dass sich die Gattung Homo
vor knapp 2 Mill. Jahren in Afrika entwickelte
und dann sukzessive den asiatischen und europäischen Kontinent besiedelte. Ende des letzten
Jahrhunderts entdeckte Fossilien aus Dmanisi
(Georgien) belegten erstmals unzweifelhaft eine
sehr frühe Auswanderung in die nördlichen Breiten Westasiens und deutlich später auch nach Europa (BRÄUER ET AL. 1995; ULLRICH 1998; SCHWARTZ
und TATTERSALL 2002; VEKUA ET AL. 2002; TATTERSALL und SCHWARTZ 2003; RIGHTMIRE ET AL. 2005).
Damit stellte sich die Frage nach der Anzahl der
Speziationsprozesse innerhalb der Gattung Homo
neu (FOLEY 1991; TATTERSALL 2000b; TATTERSALL
und SCHWARTZ 2000). Die Antworten fielen sehr
vielfältig aus. Die einfachste Lösung bieten nach
wie vor die „Multiregionalisten“ und begründen
das wie folgt: Da die Mehrzahl der Homo ergaster/
erectus-Kennzeichen auch H. sapiens teilt und die
wenigen Merkmalsmuster die H. sapiens nicht mit
H. ergaster/erectus gemeinsam hat, als Reaktionen
auf Entwicklungstendenzen in Richtung auf eine
zunehmende Cerebralisation (Hirnentwicklung)
und kulturelle Vielfalt, d.h. fortschreitende tradigenetische Entwicklung, zu interpretieren ist,
lässt sich dem ‚multiregionalen Entwicklungsmodell’ zufolge nur ein einziger Speziationsprozess
annehmen. H. ergaster/erectus geht in der Art H.
sapiens auf, da es keine deutliche Grenze, weder
räumlich noch zeitlich, zwischen beiden Spezies
gibt. Ständiger Genfluß und Migrationen verhinderten Speziationen, so dass die offensichtlichen
zeitlichen und regionalen Bevölkerungsunterschiede der polytypischen Art H. sapiens anagenetisch als intraspezifische Adaptationen erklärt
werden (vgl. auch Abb. 6a). H. heidelbergensis
wäre in diesem extremen gradualistischen Modell nur eine Chrono- oder Morphospezies, eine
mittelpleistozäne Entwicklungsstufe, eine regionale Variante oder Subspezies des H. sapiens (vgl.
WOLPOFF 1999).
3.2.2 Out-of-Africa-Modell mit Hybridisierung
Aufgrund der nachweislich graduellen Veränderungen in der europäischen Linie vom frühen Präneandertaler zum klassische Neandertaler (vgl.
Abb. 6b) - sowie der von BRÄUER (1984, 1994, 2006,
2007) als Protagonist der out-of-Africa-Hypothese
immer wieder an neuen Fossilien mit neuen vergleichend-morphologischen Befunden nachgewiesenen stufenweisen Modernisierung innerhalb
der afrikanischen Linie (grades vgl. Abb. 7) und
eventuell auch spät-archaischer Gruppen in Chi-
3.2 Die Phylogenie des Genus Homo
– ein ewiges Puzzle?
3.2.1 Multiregionales Evolutionsmodell
Extreme ‚Lumper’ (THORNE und WOLPOFF 1981,
1992; FRAYER ET AL. 1993; WOLPOFF 1992, 1999; WOL-
aktuell
12
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Abb. 6 Alternative Evolutions- und Migrationsszenarien:
a Multiregionales Evolutionsmodell (n. WOLPOFF 1999, modifiziert, vgl. HARDT und HENKE 2007)
b Out-of-Africa-Modell mit Hybridisierung nach BRÄUER (2006)
c Splitter-Modell mit einer afrikanischen Linie zum H. sapiens über H. rhodesiensis und einer europäischen Linie
über H. heidelbergensis zum H. neanderthalensis (n. STRINGER 2003)
d „gemäßigtes“ Splitter-Modell mit H. heidelbergensis als afro-europäischer Vorläufer
der afrikanischen und europäischen Linien (RIGHTMIRE 1998).
H. sapiens und der europäischen und nahöstlichen
Neandertaler-Populationen vertreten hat, ist die
taxonomische Kennzeichnung der letzten als H.
sapiens neanderthalensis nur konsequent, wenn
auch die deutliche Annäherung an die Multiregionalisten gerade im Hinblick auf die seitens der
Archäometrie und Molekulargenetik eingebrachten Argumente etwas irritiert, denn ein Hybrisierungsnachweis konnte bislang nicht glaubwürdig
erbracht werden. Da aber nach Auffassung vieler
Paläoanthropologen die mtDNA-Befunde hinsichtlich ihrer taxonomischen Aussagekraft weit
überschätzt wurden (pro: KRINGS ET AL. 1997; PÄÄBO ET AL. 2004; SERRE ET AL. 2004; contra: RELETHFORD
2001a, b) stimmt Bräuers Modell sehr gut mit dem
na (Dali, Dingcun, Maba; vgl. BRÄUER 2006, 2007;
BRÄUER und SMITH 1992) erscheint die Annahme gut
begründet, für die letzten 700 000 Jahre nur eine
einzige Speziation zwischen H. erectus und H. sapiens anzunehmen. In diesem Modell (vgl. Abb. 6b)
würde das Taxon H. heidelbergensis gänzlich “geschluckt” werden, denn innerhalb der polytypischen Spezies H. sapiens käme ihm kein Status
einer Biospezies oder evolutionären Spezies zu.
Als mittelpleistozäner „früh-archaischer“ Typus
nimmt er nur eine marginale Übergangsrolle in
der gradualistischen Entwicklung an. Da BRÄUER
(1984) stets die Hypothese einer potenziellen Hybridisierung der sich graduell in Afrika entwickelnden Stammlinie zum anatomisch-modernen
13
aktuell
Winfried Henke
Abb. 7 Wichtige afrikanische Funde in ihrer zeitlichen Abfolge und Zuordnung zu bestimmten Taxa
bzw. den graduellen Stadien des „archaischen“ H. sapiens nach BRÄUER (1984, 2006).
von dem Molekulargenetiker RELETHFORD (2001b)
propagierten mostly-out of Africa-Modell überein
(vgl. auch SMITH 2002).
hatte. Während sich der europäische Zweig sukzessive zum Neandertaler entwickelte (AccretionModell; DEAN ET AL. 1998 HUBLIN 1998; HARVATI
2007; contra: HAWKS und WOLPOFF 2001), bildete
sich in Afrika – ebenfalls gradualistisch – der H.
sapiens heraus. Dieser gelangte im Spätpleistozän
via Naher Osten nach Europa und löste die neanderthaliden Populationen ab. In diesem Modell
nimmt H. heidelbergensis eine zentrale Rolle als
anzestrale afrikanisch-europäische Stammart der
Neandertaler und des modernen Menschen ein
(vgl. auch Abb. 8).
3.2.3 Gemäßigte und extreme Splitter-Modelle
In dem von RIGHTMIRE (1998, 2001a, b, 2007) vertretenen ‚gemäßigten’ Splitter-Modell (Abb. 6c)
entstand H. heidelbergensis durch Speziation aus
H. ergaster/erectus in Afrika und wanderte nach
Europa und eventuell auch in den Fernen Osten
aus, den H. erectus schon seit langem besiedelt
aktuell
14
Paläoanthropologie – Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
Abb. 8 Kartierung der wichtigsten europäischen Fossilfunde in ihrer zeitlichen Abfolge und Zuordnung zu bestimmten Taxa
bzw. Stufen (grades) des Accretion-Modells nach DEAN ET AL. (1998) und BRÄUER (1998), aus HARDT und HENKE (2007).
nach kladistischen Prinzipien äußerst problematisch, da es keine Artspaltung, sondern sukzessive Artbildungen in Europa und Afrika annimmt
(STRINGER 1982, 1986, 1992, 1996; 2001, 2002; STRINGER und GAMBLE 1993; ARSUAGA ET AL. 1997). Schlösse man diese aus und nähme für die europäische
Entwicklungslinie einen anagenetischen Prozess
an, so wäre es nur konsequent, den europäischen
H. heidelbergensis als H. neanderthalensis zu führen
Entsprechend wäre auch in Afrika H. rhodesiensis
nicht zu halten, sondern in das Taxon H. sapiens
einzubeziehen.
Ein extremes Splitter-Modell (vgl. Abb. 6d)
geht von weiteren Speziationen in Afrika aus. Danach soll sich die bislang nur in Spanien nachgewiesene, umstrittene Spezies H. antecessor schon
in Afrika vom H. ergaster abgespalten haben und
sehr bald nach Europa migriert sein. Diese hypothetische Art wird als Stammform von zwei
Entwicklungszweigen angenommen: einerseits
dem H. heidelbergensis, der in Afrika evolvierte
und kurz darauf nach Europa gelangte, wo durch
einen weiteren Speziationsprozess H. neanderthalensis entstand, und andererseits dem H. rhodesiensis, der eine ausschließlich afrikanische Spezies
war und aus dem H. sapiens speziiert sein soll,
der dann als anatomisch-moderner Mensch alle
Kontinente besiedelte und die archaischen Populationen der Alten Welt ablöste. Das von STRINGER
(2002) kürzlich vorgestellte Speziationsmodell ist
3.3. Resümee
Wie der wissenschaftsgeschichtliche Abriss zur
Taxonomie und Systematik der Gattung Homo
(vgl. auch HENKE 2005, 2006a; HARDT und HENKE
15
aktuell
Winfried Henke
rer Analyse bereitsteht, sollte sich die „moderne
Fossilienkunde“ ihrer Möglichkeiten – aber auch
ihrer Grenzen – bewusst sein und die neue Sachlichkeit und Glaubwürdigkeit ihrer Befunde nicht
als fossil- und journalism-driven science gefährden
(WHITE 2000). Es geht nämlich um uns und unsere
Wurzeln und den Imperativ gnôthi seautón. Fossilarchive der Hominisation bieten diesbezüglich
eine einzigartige Chance. Stammesgeschichtliche
Beweise im engeren Sinne gibt es jedoch nicht – es
bleiben stets Modelle, so dass nur die aphoristische Homo-Definition der Times Kontinuität hat:
„Humans are animals who wonder intensively and
endlessly about their origin“.
Die Paläoanthropologie – soviel sollte hier
deutlich geworden sein – fragt nicht nur nach
dem Erscheinungsbild der fossilen Homininen,
danach, wann und wo wir entstanden sind, sondern sucht nach Antworten auf die fundamentale
Frage, wie wir wurden, was wir sind. Sie ist theoriegeleitetes Hypothesentesten im Rahmen eines
Forschungsansatzes, dessen Ziel eine dynamische
Darwinsche Erklärung der Menschwerdung in
ihren evolutionären, geschichtlichen und ontogenetischen Dimensionen ist (vgl. VOGEL 1983;
HENKE & ROTHE 1994, 2001, 2003, 2006; Übersicht
in HENKE und TATTERSALL 2007).
2007) zeigt, bestehen auch heute noch sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der phylogenetischen Rollen der ihr zugeschriebenen Spezies.
Es ist jedoch offensichtlich, dass diese zu einem
nicht unwesentlichen Anteil durch die angenommenen Prinzipien (grade- versus clade-Konzept)
und methodischen Ansätze (Evolutionäre Taxonomie versus Phylogenetische Systematik) verursacht werden – oder aber bedauerlicherweise
keinen erkennbaren systematischen Grundsätzen
folgen, was die Modelle unnötig kompliziert. Ingesamt zeichnet sich aber nach den harten Diskussionen der out-of-Africa-Protagonisten versus
Multiregionalisten der beiden vergangenen Dezennien eine unerwartete Annäherung ab, bei
der H. heidelbergensis als grade im europäischen
und/oder afrikanischen H. sapiens aufgeht – ein
Modell, dem ‚Splitter’ nach wie vor heftig widersprechen.
Dass der Fossilreport immer wieder Herausforderungen bereithält, zeigt die umstrittene Interpretation von 18000 Jahre alten Fossilien aus
Flores (Indonesien). Während BROWN ET AL. (2004)
sie als Homo floresiensis klassifizierten, halten andere den mit 417 cm³ extrem kleinhirnigen Homininen für einen nanowüchsigen Mikrozephalen.
HERSHKOVITZ ET AL. (2007) bekräftigten letztere
Auffassung aufgrund der Diagnose des LaronSyndroms. Träfe das wirklich zu, würde jede
Spekulation über einen langen Eigenweg der Flores-Linie seit Homo erectus oder gar Homo habilis
(BROWN ET AL. 2005; FALK ET AL. 2005; MARTIN ET AL.
2007) kippen.
Somit bleibt als generelles Resümee: „We don´t
know where the gene flow barriers were among the
sampled populations, nor do we know about unsampled populations/lineages. It is evident that new fossils continue to illuminate these evolutionary processes
more successfully than poorly constructed phenetic
analyses of individual specimens.“ (GILBERT ET AL.
2003, S. 259)
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4. Ausblick
Obwohl die Paläoanthropologie in den vergangenen Dezennien ihr Theorie-Defizit weitgehend
abgelegt und sich von einer vorwiegend deskriptiv-narrativen Disziplin zu einer theoriegeleiteten
Wissenschaft entwickelt hat, bestehen hochgradig kontroverse Stammbaummodelle der Hominisation. Da Homininen-Fossilien aufgrund ihrer
Seltenheit jeden paläontologischen und archäologischen Fundplatz „adeln“ und ein innovatives, höchst effizientes Methodeninventar zu ih-
aktuell
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Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h.c. Winfried Henke
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Fachbereich 10 Biologie
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
55099 Mainz
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fax: (0049) 06131/ 39-23799
Email: [email protected]
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23
aktuell
Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher
und frühneuzeitlicher Massengräber
Simone Kahlow
Zusammenfassung – Die Gründe für die Anlegung von Massengräbern sind äußerst vielgestaltig. Darum verwundert es zum Teil, dass
als Interpretation fast immer auf die „Wahrscheinlichkeit“ einer Seuche oder auf die Pest selbst zurückgegriffen wird. Die kurze Einführung
in die Problematik des Themas dürfte zeigen, dass andere Seuchen, Hungersnöte oder auch Feuersbrünste, die im Mittelalter und der
Frühen Neuzeit allesamt als pestis bezeichnet wurden, eine Ursache darstellen können, ebenso wie klimatische Auswirkungen und
Kriege.
Die Unsicherheit hinsichtlich der Interpretation könnte durch ein Verfahren gemindert werden, mit welchem es möglich ist, eine
spezifische DNA-Sequenz nachzuweisen, die dem Pestbazillus zugeordnet werden kann (PRECHEL 2002, 247).
Schlüsselwörter –
Abstract – The definition of mass or common graves from 14th to 17th century as well as the interpretation of the detected structures
remains problematic. Almost all discussed examples are referred to as „pest-graves“ by their authors, inspite of the frequent lack of any
adequate indices. The very fact of being faced with a grave revealing several burried individuals seems to be sufficiently for such an
interpretation.
But there are various reasons for the usage of common graves, which are evidence of an state of emergency of affected populations.
Historical documents attest to multiple disasters causing the death of many people all over Europe. They testify a famine in consequence
of crop failures (1315-1317) resulting from dramatic climate changes. Contemporaries reported on another remarkable high mortality in the
years 1339/1340. An epidemic infectious disease like anthrax appears imaginable.
Seventeenth century records document the interdependence of wars and the appearance of epidemic plagues. During the Thirty
Years’ War (1618-1648) many more people died from typhus or pest than from injuries caused by the military conflict, because hunger and
misery have a subtantial impact on the immune system. But of course mass graves with war victims are well-known like the battlefields of
Visby and Towton.
These disasters are mostly closely related to each other. A clear distinction between them is hardly possible if not impossible with
archaeological means.
Keywords –
Einleitung
Auch in jüngster Zeit werden immer wieder Gräber aus der Zeit des 14. bis 17. Jahrhunderts freigelegt, die mehrere Individuen beinhalten und
somit als Massengräber angesprochen werden.
Problematisch ist nicht nur die Definition dieses
Begriffes, sondern auch die Interpretation des Inhaltes der besagten Gräber. Eine stattliche Anzahl
der betreffenden Befunde wurde von den Bearbeitern als Pestgräber angesprochen, auch wenn
häufig jegliche Indizien hierzu fehlen. Oft scheint
allein die Tatsache, dass sie mehrere Individuen
beinhalteten, für die genannte Auslegung auszureichen.
Die Pest
Angaben zur Pest des 14. Jhs. sind sich im Allgemeinen recht ähnlich. Diese kontinentübergreifende Seuchenwelle kam aus Zentralasien,
traf 1342 in Genua ein und verbreitete sich von
dort aus über fast alle Regionen Europas. In den
Jahren 1349 bis 1351 wurde schließlich auch der
deutschsprachige Raum von ihr heimgesucht,
wo sie die Bevölkerung möglicherweise um ein
Drittel dezimierte, was 20 bis 25 Millionen Tote
bedeuten würde (GECKELER 1961).1
Zahlreiche Schriftquellen berichten von einem
unter der Bevölkerung herrschenden Ausnahmezustand. Zusehends wurde auf jegliches christliches Protokoll verzichtet und die Toten in Massengräbern bestattet.
Giovanni Boccaccio schreibt 1348 im Decameron: „Da für die große Menge Leichen … der geweihte
Boden nicht langte ... machte man … sehr tiefe Gruben
und warf die Hinzukommenden in diese zu Hunderten. Hier wurden die Leichen angehäuft wie Waren in
einem Schiff und von Schicht zu Schicht mit ein wenig
Erde bedeckt, bis die Grube bis zum Rand voll war.“
(Zit. nach WITTE 2001, 22-23).
Der Strassburger Chronist Fritsche Closener
führt 1349 weiterhin an, wo diese Gruben angelegt worden sind: „Daz sterbent [Pest 1349] war so
gros, das gemeintlich alle tage ein ieglichem kirspel liche worent 7 oder 8 oder 9 oder 10, oder noch danne
me, one die man in klöstern begrub un ene[ohne] die,
die man in den spital drug: der was unzelich vil, das
man die spitelgrube, die bi der kirchen stunt, muste in
einen witen garten setzen, wann die alte grub zu enge
und zu klein was.“ (Zit. nach ILLI 1992, 58).
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 97-104
Bulletin de la Société Suisse97d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Simone Kahlow
Im jüngeren Horizont wurden zwei Gruben
geöffnet (Bef.-Nr. 4528 und 4529), die, trotz einer
Störung, insgesamt 696 Individuen erbrachten
und als Pestopfer angesprochen wurden (PRECHEL 1996, 325). Die Körper lagen dicht an dicht in
fünf bis sechs Schichten übereinander. Ebenfalls
in diesem Horizont befanden sich zwei kleinere
Massenbeisetzungen (Bef.-Nr. 4562 und 4571) mit
insgesamt 120 Bestattungen.
Zwischen den einzelnen Körperlagen des
„Pestgrabes“ soll Erde gestreut worden sein, da
aus den einzelnen Skelettschichten Keramikscherben geborgen werden konnten. Hier deckt
sich der archäologische Befund mit den schriftlichen Quellen, beispielsweise der Erwähnung
Boccaccios.
Die Keramikscherben des „Pestgrabes“ sollen
in das 13./14. Jahrhundert datieren, was zunächst
mit dem C14-Ergebnis des Knochenmaterials von
1260 bis 1390 übereinstimmt. Prechel äußert daraufhin, dass „die Bestattungsgruben tatsächlich
im Jahre 1350 ausgehoben wurden“ (PRECHEL 1996,
325). Diese Sicherheit ist keineswegs gegeben, da
Problemstellung
Um die Problematik bezüglich der Interpretation
von Massengräbern zu verdeutlichen, sollen im
Folgenden die vom Heiligen-Geist-Hospital zu
Lübeck (Abb. 1) diskutiert werden (PRECHEL 1996;
2002).2
Ihren Bekanntheitsstatus dürften sie erlangt
haben, da auf dem untersuchten Areal zum einen
gleich mehrere Massengräber zutage traten, diese
weiterhin eine enorme Anzahl von mehr als 600
Individuen aufgenommen hatten und zudem anthropologische Untersuchungen vorgenommen
worden sind.
Die besagten Gräber, die im Jahr 1990 an
der Südwand des besagten Hospitals freigelegt
werden konnten, gehören stratigraphisch zwei
unterschiedlichen Zeitstufen an. Aus mehreren
Grabgruben des älteren Bestattungshorizontes
konnten insgesamt 158 Skelette geborgen werden.
Eine C14-Datierung des Knochenmaterials ergab
einen Zeitraum der Niederlegung zwischen 1280
und 1390 (PRECHEL 1996, 325).
Abb. 1 Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck: Massengrab, Befund-Nr. 4529 (aus PRECHEL 1996, Taf. 11,2).
aktuell
98
Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Massengräber
jedes einzelne Jahr des angegebenen Zeitraums,
das „gesuchte“ sein könnte.
Aus den Chroniken, so PRECHEL (1996, 325),
ist wohl tatsächlich überliefert, dass die Pest
1349/1350 in Lübeck grassiert und ca. 5000 Menschen ihr Leben lassen mussten. Auch der absolute Sterbegipfel bei den Jungerwachsenen (Abb. 2),
der bei den Individuen aus dem „Pestgrab“ nachgewiesen wurde, könnte auf den ersten Blick für
Pestopfer sprechen. So schrieb schon Gisela Grupe
(GRUPE 1986, 32): „Sicheres Zeugnis dafür, daß die
Pest eine neue Krankheit war, die eine Bevölkerung ohne Immunitätsschutz traf, ist der Befund,
daß bevorzugt die jüngeren Erwachsenen starben.
Dafür gibt es physiologische Gründe. Nach dem
Abklingen dieser ersten Welle war die überlebende Bevölkerung hinreichend immunisiert, so daß
die folgende Welle erst nach etwa 12 Jahren wieder viele Opfer forderte. Doch dieses Mal wurden
bevorzugt die nachgewachsenen Kinder und Jugendlichen hinweggerafft...“.
Leider ist diese Feststellung hinsichtlich der
Interpretation keine Hilfe. Zum einen ist es nicht
möglich, die Skelette auf das Jahr genau zu datieren, um sie dann mit den schriftlichen Erwähnungen einzelner Pestwellen abzugleichen. Zum
anderen scheint sich die Pest nicht überall gleich
verhalten zu haben. Es gibt zahlreiche Regionen,
die von dieser Krankheit fast unberührt geblieben sind, wie ein „Großteil der Auvergne oder
des nördlichen Flandern, Teile Frankens und weitere Gebiete Europas“ (RUFFIÉ/SOURNIA 2000, 36).
Warum dies so war, kann nur vermutet werden.
Bereits Erkrankte sind möglicherweise wieder
genesen, da sie „jenes Genmaterial schon in sich
trugen, das unerlässlich ist, um dem Bazillus zu
widerstehen..., oder weil sie es erwarben, indem
sie später an einer regelrechten natürlichen Imp-
fung teilnahmen. Diese widerstandsfähige Gruppe wurde zum Bollwerk der Gemeinschaft gegen
die wiederholten Attacken der Seuche“ (ebd).
Weiterhin wird von Ruffié und Sournia vermutet,
dass sogar die Nachkommen der Betroffenen eine
genetische Resistenz geerbt haben könnten. Jedoch dürften die Gene nicht der alleinige Grund
für das Fernbleiben dieser Seuche gewesen sein,
abgesehen davon, dass diese „natürliche Impfung“ nur gut 12 Jahre anhielt. Es scheint doch so,
dass mehrere Faktoren dafür verantwortlich sind,
ob ein Land oder eine Stadt von der Pest heimgesucht wurde. In diesem Fall beziehe ich mich
nicht auf Äußerungen, nach welchen bestimmte
Blutgruppen für den Erreger als bevorzugt angesehen wurden, sondern auf die nüchterne Erkenntnis, dass ein vermehrtes Rattenvorkommen,
unhygienische Zustände und klimatische Einflüsse eine große Rolle spielten, so wie es auch VASOLD
(2003) völlig überzeugend darlegen konnte.
Jedoch halte ich auch eine Variation bzw. Mutation des Erregers nicht für unwahrscheinlich. Es
ist anzunehmen, dass sich der Erreger verändern
musste, um wirksam zu bleiben. Schließlich kam
der Floh ursprünglich aus einer warmen Zone,
bevorzugte 20 bis 25 Grad Celsius und traf in Europa schließlich auf ein kühl-gemäßigtes Klima.
Zudem musste die Luftfeuchtigkeit stimmen (VASOLD 2002, 174). Die Annahme einer Variation des
Erregers könnte auch von Aussagen mittelalterlichen Chronisten gestützt werden, welche eine
andere Sterbeverteilung, als die eben angesprochene, innerhalb der einzelnen Pestwellen beobachteten. Diepold Schilling schilderte für Bern die
kurz aufeinanderfolgenden Epidemiewellen des
15. Jhs. „Allein die drei schweren Epidemien zwischen 1478 und 1493 forderten über 2000 Opfer,
beim ersten Seuchenzug vor allem Kinder“ (ULRICH-BOCHSLER 1999, 105), beim zweiten Seuchenzug 1482 „vor allem Frauen, und Hunderte von
Kranken“ (GERBER 1999, 100). Als ein Jahr später
wieder ein Seuchenzug durch das Land ging,
scheinen alle Bevölkerungsteile betroffen gewesen
zu sein (ebd.). Es kann sich in diesem Fall jedoch
nicht um besagte die „Kinderpest“ gehandelt haben, hierfür müsste der vorherige Pestausbruch
ca. 12 Jahre zurückliegen. Laut den Schriftquellen
hatte dieser jedoch 1439 stattgefunden, was eine
Differenz von 39 Jahren bedeuten würde.
Angesichts dieser Beobachtungen muss die
Frage gestellt werden, inwiefern bestimmte Sterbemaxima der Skelette aus Massengräbern auf
Pestgräbern deuten sollen? So ist der maximale
Sterbegipfel der „robusten“ (PRECHEL 1996, 327)
Jungerwachsenen auch anderorts nachweisbar, so
Abb. 2 Heiligen-Geist-Hospital zu Lübeck: Relative Anzahlen der
Verstorbenen nach Altersklasse (aus PRECHEL 1996, Abb. 2).
99
aktuell
Simone Kahlow
z.B. auf dem Heidelberger Spitalfriedhof (Abb. 3),
auf dem keine Massengräber ergraben wurden
(WAHL 1993, 481). Als modernes Beispiel wäre
die Spanische Grippe von 1918 heranzuziehen,
bei der vorrangig diese Altersgruppe gestorben
ist (SCHUH 2003). Nach neuesten Schätzungen sollen ihr 25 bis 40 Millionen Menschen zum Opfer
gefallen sein. Bei dieser Größenordnung scheint
es nicht verwunderlich, dass auch in diesem Fall
Massengräbern angelegt worden sind, so beispielsweise in dem Dorf Brevig in Alaska (ebd.).
Grab 506 (Abb. 4) ist für diese Arbeit besonders
relevant, da es von dem münzdatierten Grab 525
mit den Denaren des Markgrafen Waldemars
(1305-1319) überlagert wurde. Nach LANGE (1997,
116-117) muss das Massengrab 506 somit noch
ins frühe 14. Jh. datiert werden, wobei es wohl zu
Zeit der Pest angelegt worden sein kann, da diese
im Jahr 1348 auch Berlin heimsuchte. Diese Bestätigung findet sich in den Schriftquellen jedoch
nicht. So äußerte auch schon Christian Popp 2006
als These seiner Disputation die Vermutung, dass
Berlin nicht von der Pest heimgesucht wurde,
was möglicherweise auch auf das angrenzende
Brandenburg zutrifft. Denn trotz „dichter Urkunden- oder Stadtbuchüberlieferung wie [in] Stendal und Berlin/Cölln lassen sich keine Belege für
ein Übergreifen der Pest finden“.3
Da der Friedhof des Berliner Heilig-Geist-Spitals bereits im 13. Jh. angelegt worden ist, könnte
auch Grab 506 durchaus noch in diesen Zeitraum
datieren und die Opfer einer anderen Seuche
beinhalten. Hesse verwies hierzu auf den sogenannten Schneiderbrief von 1288 aus dem Berliner Stadtbuch4; welches von Martin Ohm (OHM
1954, 76-77) übersetzt wurde: „Jetzt wo der Tod
anstürmt, sich nicht beruhig sondern tobend alles
zum Einsturz bringt ist es nützlich, vorsichtig aufzuzeichnen solche zutreffenden Tatbestände und
Schriftstücke (darüber) anzufertigen, die zu gegebener Zeit die Wahrheit mit Sicherheit erweisen
sollen, wodurch sich Zweifelsfragen widerlegen
lassen.“ Ohm merkt hierzu an: „Der Vorspruch
zu dieser Urkunde läßt erahnen, daß um 1288
schwere Seuchen in Berlin herrschten“. Im allgemeinen wird die These einer hier zur Sprache gebrachten Seuche jedoch, aufgrund der Wortwahl,
eher verworfen.
Dies ist jedoch kein Beweis dafür, dass nicht
doch die Opfer einer Seuche in das besagte Massengrab gelangt sind.5 Respekt wurde ihren
sterblichen Überresten offenkundig nicht entgegengebracht. So wurden alle 20 Individuen in
die Gruben geworfen, so dass sie zum Teil mit
völlig verrenkten Gliedern liegen geblieben sind.
Tatsächlich ist dies ein eher seltenes Phänomen
bei Massengräbern, und konnte beispielsweise
auch am Stadelhof in Paderborn (Abb. 5) beobachtet werden (WITT-STUHR/WIEDMANN/SPIONG
2007). Insgesamt scheint jedoch ein pietätvoller
Umgang häufiger. Als Beispiel sollen die Gruppenbestattungen an der Bartholomäuskirche in
Erfurt genannt werden (Abb. 6). Hier lagen bis
zu 10 Individuen in „sorgsamer Verschränkung“
übereinander. „Die beiden größten Individuen
bildeten stets die unterste Lage auf der Sohle der
Alternative Interpretationen
Dieses Beispiel soll als Überleitung zu anderen Interpretationsmöglichkeiten dienen. Viele mir bekannte Nachweise von Massengräbern, werden
von den Bearbeitern entweder direkt als Pestgräber oder aber als Gräber, die zu Epidemiezeiten
angelegt worden sind, gedeutet. Zu diesen Epidemien könnten auch die Grippe, der Milzbrand,
die Pocken oder Typhus gehören. Möglicherweise bezeugen auch Schriftquellen Epidemien noch
vor der Pandemie des „Schwarzen Todes“.
Im Jahr 1995 wurden auf dem Gelände des
ehemaligen Heilig-Geist-Spitals in Berlin mehrere Massengräber freigelegt, die in die Zeit des 14.
bis 17. Jahrhundert datiert werden (LANGE 1996)
und von den Bearbeitern Heinrich Lange (LANGE
1996) und Henrike Hesse (HESSE 1996) zunächst
allgemein als Pestgräber interpretiert wurden.
Abb. 3 Heidelberger Spitalfriedhof: Relative Altersverteilung der
verstorbenen Individuen (aus WAHL 1993, 481).
aktuell
100
Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Massengräber
Abb. 4 Heilig-Geist-Spital Berlin: Grab 506 (aus LANGE 1997, 117).
Grabgrube. Daraufhin lagen mit den Köpfen etwa
auf Schulterhöhe die nächstgrößeren Individuen.
Extrem stark belegte Grabgruben wiesen eine
dritte Lage mit ebenso sorgsam niedergelegten
Kleinkindern bzw. Säuglingen auf.“ (WULF 2005,
54).
Die Unregelmäßigkeit der Grabgrube, aber
auch eine geringe Tiefe dieser, könnten darauf
hindeuten, dass ein Massengrab im Winter angelegt worden ist. In diesem Fall sind neben der
Deutung als Seuchenopfer auch solche von klimatischen Einflüssen vorstellbar. Dass besonders die ärmere Bevölkerung unter den strengen
Wintern, ganz besonders in der Frühen Neuzeit
während der kleinen Eiszeit, leiden musste, ist
ebenfalls durch Schriftquellen bewiesen. Ferner
ist bekannt, dass im 12./13. Jahrhundert eine
Knappheit an Holz herrschte (GRUPE 1986, 29).
Somit wäre es durchaus denkbar, dass die Opfer des Winters, sei es, dass sie an der Kälte, an
Unterernährung oder an daraus resultierenden
Erkrankungen gestorben sind, in diesen Gräbern
bestattet wurden. In dem Fall ist sicherlich auch
der Begriff Armengräber angebracht. Spuren von
Mangelerscheinungen wie Cribra orbitalia, transversale Schmelzhypoplasien oder Harris-Linien, um
nur einige zu nennen, wären dann ein zu erwar-
Abb. 5 Paderborn „Am Stadelhof”, Gruppenbestattungen (aus
WITT-STUHR/WIEDMANN/SPIONG 2007, Abb. 1).
101
aktuell
Simone Kahlow
rum ein solcher Hungerstod nicht auch auf die
anderen Individuen der Lübecker Massengräber
zutreffen sollte. Einmal abgesehen von der unterschiedlichen Sterbeverteilung, die dadurch
erklärt werden könnte, dass zu Beginn die schwachen und dann erst die stärkeren Individuen
verstarben, konnte PRECHEL nämlich feststellen,
dass der Gesundheitszustand der Individuen
aus allen Gruben „als ungewöhnlich schlecht bezeichnet werden muss“ (PRECHEL 2002, 284). Nur
die Toten aus den kleineren Gräbern des oberen
Bestattungshorizontes wiesen weniger Gelenkerkrankungen und Mangelerscheinungen auf als
die übrigen Untersuchten. Im Vergleich zu einer
normalen Lübecker Population des Mittelalters
war jedoch auch dieser Grad an pathologischen
Veränderungen zu hoch (ebd.).
Als ein an dieser Stelle letzter Lösungsvorschlag ist an die Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen und Kriege zu denken. Sicherlich
wären in diesem Fall mehrheitlich Verletzungserscheinungen anzutreffen, wie sie beispielsweise
von den Toten aus der Schlacht von Visby 1361
(THRODEMAN 1939) oder der von Towton 1461
(Abb. 7) bekannt sind (FIORATO/BOYLSTON/KNÜSEL
2000). Doch auch hier sind Parallelen zu anderen Ursachen für die Anlage von Massengräbern
möglich. Zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges
(1618-1648) beispielsweise, starben die Menschen
weniger an Verwundungen, als an Fleckenfieber
oder an der Pest.
Abb. 6 Erfurt; Anger 53: Gruppenbestattung
(aus WULF 2005, 54).
tendes Bild, sollte ein Zustand aus adäquater und
unzureichender Ernährung über einige Zeit angehalten haben.
An einer Hungersnot könnten auch die Individuen aus dem unteren Bestattungshorizont
des Lübecker Heiligen-Geist-Hospitals gestorben
sein. So nimmt es Prechel an, die eine hohe Anzahl an Mangelerscheinungen feststellen konnte.
Zudem ist für die Jahre 1315/1317 eine Hungersnot in Lübeck überliefert, ebenso wie der Ort, an
dem die Opfer bestattet wurden: „Binnen den twen
Jaren starf to dene hilghen gheste 2300 volkis unde
de hunger was so grot“ (PRECHEL 1996, 327-328). Es
stellt sich jedoch dem Betrachter die Frage, wa-
aktuell
102
Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Massengräber
Abb. 7 Towton (England): Massengrab (FIORATO/BOYLSTON/KNÜSEL 2000, Fig. 4.14).
Anmerkungen
Literatur
1
Diese, in der Literatur häufig anzutreffende Angabe
wird jedoch öfter als übertrieben bezeichnet. So beispielsweise Johannes Nohl (NOHL 1924, 40) sowie in
jüngerer Zeit Manfred Vasold. Seiner Meinung nach
kann die Pest nicht solch hohe Verluste verursacht
haben. Die Zahlen müssen entweder zu hoch gegriffen
sein oder es handelte sich um eine oder mehrere andere Seuchen, unter der selbstverständlich auch die Pest
grassiert haben könnte (VASOLD 2003, 11, 116, 118, 123).
FIORATO, V./BOYLSTON, A./C. KNÜSEL (Hrsg.) (2000):
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from the Battle of Towton AD 1461. Oxford 2000.
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Februar 1961. Mittelalterlicher Kieler Pestfriedhof
gefunden: http://www.kiel.de/kultur/stadtarchiv/
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Bevölkerungsentwicklung im 15. Jahrhundert. In:
Berns grosse Zeit. Das 15. Jahrhundert neu entdeckt.
Bern 1999, 97-102.
2
Die Vorstellung weiterer mir bekannter Massengräber, die eine Interpretation als Seuchengräber erfuhren, kann hier nicht vorgenommen werden, was jedoch an anderer Stelle in Kürze nachgeholt wird.
3
GRUPE, G. (1986): Umwelt und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter. In: B. Herrmann (Hrsg.),
Mensch und Umwelt im Mittelalter. Stuttgart 1986,
24-34.
Frdl. schriftliche Mitteilung vom 12.07.2007.
4
H. Hesse, Die anthropologischen Untersuchungen
des Friedhofs des Heiliggeist-Spitals. Vortrag zum
Landesgeschichtlichen Kolloquium von Prof. Winfried
Schich am 6.12.2005 in Berlin.
HESSE, H. (1998): Der Friedhof des Berliner HeiligGeist-Spitals – ein anthropologischer Zwischenbericht.
Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 19, 1998, 75-86.
5
Auch der Nachweis einer Feuersbrunst in Berlin
bringt bei Grab 506 keine weitere Interpretationsmöglichkeit. Dieses Feuer hatte erst im Jahr 1380 innerhalb einer Nacht fast ganz Berlin zerstört: „Alle öffentlichen Gebäude, zahlreiche Bürgerhäuser und alle Kirchen, außer der Klosterkirche, wurden zerstört. Wieviele Einwohner den Flammen zum Opfer fielen, ist
unbekannt.“ (RIBBE/SCHMÄDEKE 1994, 1). Die Anlage
von Massengräbern wäre aber somit auch in diesem
Fall möglich, wenngleich mir archäologische Nachweise hierzu bisher fehlen.
ILLI, M. (1992): Wohin die Toten gingen. Begräbnis und
Kirchhof in der vorindustriellen Stadt. Zürich 1992.
KAHLOW, S. (2005): Krankheiten im Mittelalter und
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Unpublizierte Magisterarbeit, Philosophische Fakultät
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103
aktuell
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aktuell
104
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus
dem Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg (5./6. Jh. n. Chr.)
Fabian Link
Zusammenfassung – Der vorliegende Aufsatz behandelt drei Gesichtsrekonstruktionen von frühmittelalterlichen, alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg (alter Gotterbarmweg, heute Schwarzwaldallee, BS), das vom 5. bis ins beginnende 6.
Jh. n. Chr. datiert. Drei der 34 Individuen weisen als einzige einen mehr oder weniger kompletten Schädel auf. Bis dahin konnte von zwei
der Individuen nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt. Der dritte Schädel wurde als
eindeutig weiblich identifiziert, was sowohl die neueste anthropologische Geschlechtsbestimmung, als auch die Gesichtsrekonstruktion
untermauern. Die zweite anthropologisch interessante Frage ist mit der erstaunlichen Tatsache verbunden, dass das vermutete weibliche Individuum (Individuum 1) ein äusserst kleines Schädelvolumen aufweist. Zudem konnte an den Individuen 1 und 2 eine auffällige
alveolare Prognathie beobachtet werden. Eine ikonographische und eine morphologische Frage stehen demnach in der vorliegenden
Untersuchung im Vordergrund: 1) eine mögliche Geschlechtsbestimmung und 2) eine Erklärung der auffälligen Prognathie und des kleinen
Schädelvolumens des erwähnten Individuums. Die drei Gesichtsrekonstruktionen wurden mit der Methode Skultety gefertigt, die sich in
ihren Hauptcharakteristika nach der Methode von Michail M. Gerassimow und den Weichteildickenmessungen von Gerassimow, Kollmann
und Skultety richtet.
Schlüsselwörter – Gesichtsrekonstruktion – Frühmittelalter – Alamannen – Prognathie – Bevölkerungsstruktur
Abstract – The present article discusses three facial reconstructions of 5th and early 6th century alamanic individuals of the graveyard
at Gotterbarmweg (old Gotterbarmweg, today Schwarzwaldallee, BS) in Basel, which I would like to discuss. Only three of 34 individuals
have a more or less complete skull. Up until now it could not be defined if two of the alamanic individuals were females or males, whereas
the third skull is definitely female. The second anthropologically interesting question is the observation that one individual has an unusual
cerebral volumina and a conspicuous Prognathism (individual 1). Resumtive there is an icongraphical and a morphologically interesting
question in the foreground: 1) the definition of the sex and 2) an explanation of the conspicuous Prognathism and of the »small grown«
skull of the one individual. The three facial reconstructions have been done using the Skultety method which is based on the method that
developed by Michael M. Gerassimow and the measurings of the soft tissues by Gerassimow, Kollmann and Skultety.
Keywords – Facial reconstruction – Early medieval age – Alamanics – Prognathism – Population structure
Einleitung
Das Gebiet um Basel hat eine bewegte und dynamische Geschichte im Frühmittelalter gehabt.
Dies bezeugen die zuerst vorwiegend alamannischen1, später dann fränkischen Gräberfelder, die
auf Archäologen und interessierte Laien schon
seit dem 18. und vor allem dann im 19. und beginnenden 20. Jh. grosse Faszination ausübten (vgl.
FINGERLIN [A] 1997, 45; 46). Doch verursachte die
archäoanthropologische Laientätigkeit – und die
drei rekonstruierten Individuen aus dem Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg (alter Gotterbarmweg,
heute Schwarzwaldallee, BS) scheinen paradigmatisch hierfür zu sein – ein aus heutiger Sicht
unzureichendes Mass an ungesichertem und nur
teilweise nachvollziehbarem Wissen (vgl. WAHL
ET AL. 1997, 337). Sind die Grabbeigaben und die
Lokalisierung der Gräber für den damaligen Forschungsstand des frühen 20. Jh. recht fortschrittlich publiziert (vgl. VOGT 1930), so wurden die
menschlichen Überreste des Gräberfelds mehr
geplündert als sorgfältig ausgegraben. Wichtige
Knochenreste und ganze Schädel gingen auf diese
Weise verloren und wurden nicht dokumentiert.
Erfreulicherweise wurde dieses frühe rechtsrheinische Gräberfeld neu von Lic. Phil. Stefan Leh-
mann im Rahmen eines Dissertationsprojekts
bearbeitet und sollte in absehbarer Zeit publiziert
werden. Soviel als kritische Vorbemerkung.
Drei der 34 Individuen weisen als einzige einen mehr oder weniger kompletten Schädel auf,
bei Individuum 3 konnten die teils ausgebrochenen oberen und unteren Augenbögen mit Bienenwachs ergänzt werden. Bis dahin, trotz früherer
anthropologischer Untersuchungen, konnte von
zwei der Individuen (Individuum 1 und 3) nicht
mit Sicherheit gesagt werden, ob es sich dabei um
eine Frau oder um einen Mann handelt. Der dritte Schädel (Individuum 2) wurde als eindeutig
weiblich identifiziert, was sowohl die neueste anthropologische Geschlechtsbestimmung, als auch
die Gesichtsrekonstruktion untermauern. Die
zweite anthropologisch interessante Frage ist mit
der erstaunlichen Tatsache verknüpft, dass das
vermutete weibliche Individuum (Individuum 1)
ein äusserst kleines Schädelvolumen aufweist.
Da eine Verwechslung im Naturhistorischen Museum Basel (NMB) ausgeschlossen werden kann,
muss das Phänomen anderweitig erklärt werden.
Bei den Individuen 1 und 3 konnte zudem eine
auffällige alveolare Prognathie (nach KROMER
1938, 9, vorstehende Zahnhälse, die zu einer ausladenden Gesichtsbildung der Mundpartie führt)
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 81-96
Bulletin de la Société Suisse81d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Fabian Link
festgestellt werden, was zur Frage nach der sogenannten, in der frühen historischen und archäoanthropologischen Forschung vermeintlich festgestellten »alamannischen Prognathie« führt; ein
angeblich anthropologisches Phänomen, das die
zwei Schädel des Gräberfelds Basel–Gotterbarmweg augenscheinlich betonen.
Eine ikonographische und eine morphologische Frage bezüglich dieser alamannischen
Individuen stehen also in der vorliegenden Untersuchung im Vordergrund: a) die eindeutige
Geschlechtsbestimmung und b) eine Erklärung
der auffälligen Prognathie der Individuen 1 und
3 und des auffällig kleinen Schädelvolumens des
Individuums 1. Diese Fragen möchte ich mittels
folgender Gliederung des Textes diskutieren: Ein
erster und kurzer Überblick soll das Gräberfeld
Basel–Gotterbarmweg in die frühmittelalterliche
Besiedlungsgeschichte des süddeutschen und
nordwestschweizerischen Raums eingliedern.
Eine darauf folgende forschungsgeschichtliche
Skizze bettet die Gesichtsrekonstruktion als wissenschaftlich–artifizielles Betätigungsfeld in die
Anthropologie ein, das daran anschliessende Kapitel legt in grober Weise die Grundzüge der angewandten Methode (Methode Skultety) ad exemplum der drei alamannischen Individuen dar. Die
Ergebnisse, die aus der Untersuchung resultieren,
werden in einem abschliessenden Teil in Verbindung mit den formulierten Fragestellungen erläutert.
rigen Forschungen ist zu entnehmen, dass es sich
bei den sogenannten Alamannen um eine freie
Vereinigung germanischer Stämme und Splittergruppen handelte (MOOSBRUGGER–LEU 1982, 10). Es
darf aber davon ausgegangen werden, dass sich
Unterschiede in der Grabbeigabenkultur von alamannischen zu z. B. fränkischen Gräberfeldern
feststellen lassen (vgl. MARTIN 1976). Demnach
muss aus anthropologisch–demographischer Perspektive von einer heterogenen Bevölkerungszusammensetzung im Gebiet des Basler Rheinknies
im 5. und frühen 6. Jh. n. Chr. gesprochen werden,
das sich aus einer romanischen Restbevölkerung,
aus alamannischen Bevölkerungsteilen rechts
des Rheins und der zunächst schwachen, mit der
Zeit aber dominanter werdenden fränkischen
Bevölkerung zusammensetzte (GIESLER 1981, 92).
Nach der Niederlage der losen alamannischen
Stammensverbände im Bodenseeraum gegen den
Frankenkönig Chlodwig 496 n. Chr. strömten
diese Leute langsam in das schweizerische Mittelland ein (MOOSBRUGGER–LEU 1982, 10; 11). Eine
alamannische Besiedlungswelle grösserer Bevölkerungsgruppen in der Nordwestschweiz lässt
sich aber erst ab dem 6. und verstärkt im 7. Jh.
feststellen (WINDLER 1997, 261–268; vgl. CHRISTLEIN
1978, 22; 23).
Erstmals von Karl Stehlin und dem Basler
Kantonsingenieur Moor im Jahr 1915 ausgegraben und später dann von Emil Vogt in verdankenswerter Weise publiziert, liegt das behandelte
Gräberfeld auf der rechtsrheinischen Seite oberhalb des heutigen Kleinbasels, nordwestlich von
der linksrheinischen Einmündung der Birs in den
Rhein, etwa 250 m vom Flussufer entfernt. Erste
Knochenreste wurden 1915 bei der Neugestaltung
des Gehsteigs am alten Gotterbarmweg in einem
zur Baumbepflanzung ausgehobenen Loch entdeckt (VOGT 1930: 145; 146). Die vorgefundenen
Skelette lagen in Gräbern von etwa 70 cm Breite,
die offenbar ohne Steinsetzung konstruiert waren. Holzreste oder sonstige Aufschlüsse über die
Bestattungsart wurden nicht beobachtet. Die Toten waren nordwestlich ausgerichtet, die Schädel
lagen im Westen (VOGT 1930; 147). Das kleine, unvollständig ausgegrabene Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg wies insgesamt 34 Gräber auf. Das
Gräberfeld gehört zu den ältesten alamannischen
Bestattungsplätzen und war reichlich ausgestattet mit Beigaben, die von grosser Bedeutung für
die Chronologie der frühen Merowingerzeit sind.
Für die Datierung sehr aufschlussreich sind die
Ergebnisse von Ursula Kochs Korrespondenzanalyse für den süddeutschen Raum, in der 13 Gräber
zur statistischen Auswertung herangezogen wur-
Siedlungsgeschichtliche Hintergründe
Seit dem Jungpaläolithikum wurde die Region
um das heutige Basel von verschiedenen Menschengruppen als Durchgangs– und später als
Siedlungsgebiet genutzt (MOOSBRUGGER–LEU 1982,
2; 3). Erstmals im beginnenden 3. Jh. n. Chr. in der
Mainzer Gegend erwähnt, darf die erste alamannische Besiedlungswelle ins späte 3. und 4. Jh. n.
Chr. datiert werden, als sich die römische Besatzungsmacht langsam aufzulösen begann (MOOSBRUGGER–LEU 1982, 4; 5; 10)2. Ob das Grenzgebiet
zwischen römischem Limes und Rhein infolge
einer grösseren Expansionswelle besetzt wurde
oder ob verschiedene alamannische Gruppen erst
allmählich ihre Siedlungsplätze gegen die römische Reichsgrenze hin vorgeschoben hatten, kann
aus Sicht des heutigen Forschungsstands nicht sicher bestimmt werden (FINGERLIN 1997 [B], 125).
Die Frage, in welcher Weise von einer alamannischen Ethnie gesprochen werden kann, ist bis
anhin noch nicht zureichend geklärt. Den bishe-
aktuell
82
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
1981, 99)4, wird wohl siedlungsgeschichtlich
nicht abschliessend beantwortet werden können.
Zu Beginn des 6. Jhs. wird die zum Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg zugehörige Siedlung aufgegeben (GIESLER 1997, 211). Im späteren 6. und im 7.
Jh. verlagerte sich der Hauptbestattungsplatz der
rechtsrheinisch lebenden Bevölkerungsteile auf
den heutigen Theodorskirchplatz (GIESLER 1981,
116; vgl. BING 1993: 100).
den. Das Frauengrab 15 gehört in die SD–Phase
1, die Frauengräber 6, 24, 13, 18, 10 und 20 sowie
die Männergräber 9, 32 und das Kindergrab 22 in
die SD–Phase 2. Die Frauengräber 33 und 12 sowie das Männergrab 34 datieren in die SD–Phase
3. Grab 6 enthielt eine geöste Siliqua des Jovianius aus der Zeit von 411–413 n. Chr. (KOCH 2001,
37). Nach der Korrespondenzanalyse würde die
SD–Phase 1 die erwähnten Gräber in die Jahre
von ca. 430–460 n. Chr. datieren, die SD–Phase 2
setzt die Bestattungen in die Zeit von ca. 460–480
n. Chr. und die SD–Phase 3 datiert in die Zeit von
ca. 480–510 n. Chr. (KOCH 2001, 70–73; 80–85). Zusammenfassend darf also mit einer Belegungszeit
des Gräberfeldes von etwa 430 bis etwa um 510 n.
Chr. gerechnet werden.
Zum Gräberfeld gehörige Siedlungsreste wurden entweder nicht entdeckt oder es handelt sich
dabei um einen derart kleinen Weiler, dass im
Boden keine Siedlungsbefunde mehr beobachtet
werden konnten (VOGT 1930, 146). Weitere frühe
alamannische und somit vergleichbare Gräberfelder sind Herten im Landkreis Lörrach (D, GIESLER 1997, 209; vgl. KUHN 1963) und das Gräberfeld
Basel–Kleinhüningen BS (GIESLER 1997, 209; GIESLER 1981, 96)3. Strategische und wehrtechnische
sowie ökonomische und infrasktrukturelle Überlegungen werden wohl bei der Wahl des jeweiligen Siedlungsplatzes ausschlaggebend gewesen
sein (GIESLER 1981, 99), wobei heute nicht gesagt
werden kann, welcher Gesichtspunkt bei welcher
Siedlung wohl überwogen hat (FINGERLIN [B] 1997,
125).
Anhand der reichen Grabbeigaben kann vermutet werden, dass es sich bei den bestatteten
Alamanninnen und Alamannen um Angehörige
einer (adligen) Oberschicht handelte. Die Grabbeigaben, die auch bei den anderen beiden frühen
Gräberfeldern (Herten und Basel–Kleinhüningen)
häufig aus spätantiken Formen und Motiven bestehen, bezeugen, dass die Alamannen wohl mit
der romanischen Restbevölkerung in einem Handelskontakt standen (GIESLER 1981, 103). Nach der
Art der Tracht und sonstiger Beigaben dürfen
die alamannischen Leute des Gräberfeldes Basel–Gotterbarmweg aus dem südwestdeutschen
Raum zugezogen sein. Es könnte sich um eine
heterogene Gruppe gehandelt haben, die immer
wieder kleinere Verbände aufgenommen hat.
Ob die Vermutung sich als zutreffend erweist,
dass die rechtsrheinisch lebenden Alamannen
ursprünglich der Vinařicer–Gruppe aus Nordböhmen, Thüringen und Mähren angehört haben
könnten, die vermutlich vor den eindringenden
Hunnen geflohen war (vgl. GIESLER 1997, 209; GIES-
LER
Forschungsgeschichtlicher Abriss der
Gesichtsrekonstruktion
Es soll hier nicht der Platz für eine Gesamtdarstellung der Forschungsgeschichte der Gesichtsrekonstruktion eingeräumt, sondern die wichtigsten Arbeiten ab der 2. Hälfte des 19. Jhs. und
v. a. im 20. Jh. kurz vorgestellt werden.
Totenmasken oder mit Lehm übermodellierte
Schädel können ab neolithischer Zeit in verschiedenen Gesellschaften beobachtet werden (PRAG/
NEAEVE 1999, 14)5. Grundlegend für die spätere
Technik der Gesichtsrekonstruktion sind die anatomischen Modelle neuzeitlicher Mediziner, die
eng mit erfahrenen Bildhauern zusammenarbeiteten, so z. B. die Italiener Gaetano Giulio Zumbo
und Ercole Lelli im späten 17. und im 18. Jh. sowie
der Brite Joseph Towne im 19. Jh. (PRAG/NEAEVE
1999, 14). Gemeinhin wird dem Anatom Wilhelm
His die erste, auf wissenschaftlicher Methodik beruhende Gesichtsrekonstruktion (1895) des 1894
gefundenen Johann Sebastian Bach (1685–1750)
zugeschrieben6. Mehr als eine intuitive als wissenschaftliche Arbeit muss indes die vom Jenaer
Anatom Schaaffhausen 1884 geschaffene Rekonstruktion eines Gesichts auf einem weiblichen
Schädel angesprochen werden (PRAG/NEAEVE
1999, 15). Durch die Zusammenarbeit des Basler Anatoms Julius Kollmann mit dem Schweizer Bildhauer Büchly konnte 1899 die berühmte
„Pfahlbauerin von Auvergnier“ rekonstruiert
werden (GERASSIMOW 1968, 9)7. Kollmann wendete dabei eigene, auf empirisch ermittelten Messwerten der Weichteildicken der menschlichen
Gesichtsmuskeln und –haut beruhende Daten an,
die er mit den Weichteildicken von His und Welcker statistisch auswertete (PRAG/NEAEVE 1999,
16). In der Folgezeit erlitt die Wissenschaftlichkeit
der Gesichtsrekonstruktion allerdings einen Einbruch, denn der Anatom Solger »rekonstruierte«
einen Erwachsenen auf einem Neandertalerschädel eines Knaben aus der Höhle von Le Moustiers
(1910) und der berühmte Anthropologe Martin
sowie der Anatom Eggeling schufen unabhängig
83
aktuell
Fabian Link
voneinander ein sehr unterschiedliches Gesicht
desselben Schädels aus La Chapelle–aux–Saints
(1913)8. Auch die schönen und zu ihrer Zeit beliebten Porträts des talentierten Bildhauers Louis
Masquet und des belgischen Anthropologen Rutot müssen aus wissenschaftlicher Sicht verworfen werden (PRAG/NEAEVE 1999, 16). Methodologisch besser scheint die La Chapelle–Rekonstruktion des französischen Anthropologen Boule zu
sein (GERASSIMOW 1968, 10). Interessant ist dabei
die früh gestellte Frage nach der Identifikation,
die für die Gesichtsrekonstruktion gerade im Bereich der Forensik in der Folgezeit von grösster
Wichtigkeit sein würde, denn der Anatom Welcker vermochte z. B. die Echtheit des Schädels
von Raffael (1833) aufgrund dessen bekannter
Ikonographie zu verifizieren, wie dies auch His
mit den Schädeln von Bach, Kant und Haydn gelang. Das Bildnis Johann Sebastian Bachs wurde
von dem deutschen Bildhauer Sefner 14 Jahre
nach der Identifikation von Bachs Schädel von
1894 geschaffen. Dabei wurde dieselbe Methode
angewendet, die bereits Kollmann vorgeschlagen
hatte (GERASSIMOW 1968, 11). In der nachfolgenden
Zeit bürgerte sich die Gesichtsrekonstruktion in
der kriminalistischen Praxis ein, doch wurde von
den massgebenden Anatomen und Anthropologen noch immer bezweifelt, dass der Zusammenhang zwischen Schädelknochen und Weichteilen
im Gesicht so eng wäre, dass eine Gesichtsrekonstruktion wirklich authentisch sein könnte (GERASSIMOW 1968, 12; 13). Erst dem russischen Anatom und Anthropologen Michail M. Gerassimow
sollte die Entwicklung einer glaubwürdigen und
plausiblen Methode gelingen (1924), die eine Authentizitätsgarantie gewährleisten konnte und in
der Folge von seinen Schülern evaluiert wurde
(PRAG/NEAEVE 1999, 17)9 . Dabei führte er die empirischen Messungen von Kollmann weiter und
suchte auf diese Weise »sein Gesicht des Urmenschen«. Mit über 200 rekonstruierten Gesichtern
– darunter so prominenten Fällen wie z. B. Iwan IV.
»der Schreckliche« (1530–84) – bürgerte sich seine Methode als die »Russische Methode« in der
Anthropologie ein und führte 1950 zur Gründung
des heute noch existierenden Labors für Plastische Rekonstruktion am Institut für Ethnologie
und Anthropologie der Russischen Akademie der
Wissenschaften in Moskau (PRAG/NEAEVE 1999,
17). Das etwa 600 Seiten umfassende Werk über
Gerassimows anthropologische Erkenntnisse
wurde leider nie aus dem Russischen übersetzt.
Abb. 1 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannischen Individuums 1) mit starker Prognathie und kleinem Schädelvolumen.
Das Sterbealter liegt zwischen 18–25 Jahren, die Geschlechtsbestimmung ist unklar, Frontalansicht. (Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 2 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannsichen
Individuums 1), Dreiviertelansicht. (Gyula Skultety/Fabian Link)
aktuell
84
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
Abb. 3 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannischen
Individuums 2). Das Sterbealter liegt zwischen 18–29 Jahren,
das Geschlecht ist eindeutig weiblich, Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 4 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannischen
Individuums 2), Dreiviertelansicht. (Gyula Skultety/Fabian Link)
In deutscher Sprache ist lediglich ein kleines
Büchlein erschienen, das einen schönen Eindruck
von der Gesichtsrekonstruktion vermittelt, aber
nicht als eigentliches Lehrbuch zu betrachten ist.
Glücklicherweise konnte mein Lehrer Dr. Gyula
Skultety als gebürtiger Ungare die Grundzüge
der Methode erfassen und durch eigene Messungen und Techniken vervollständigen und erweitern (vgl. SKULTETY 1987–2000).
Rekonstruktionsmethode Skultety am Beispiel
der drei alamannischen Individuen
Die drei vorliegenden, einzig vollständig erhaltenen Schädel alamannischer Individuen aus dem
Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg konnten nicht
mehr mit aller Sicherheit den einzelnen Gräbern
zugeordnet werden. Die aktuelle Alters– und Geschlechtsbestimmung wurden am 7. 5. 2007 von
Dr. Gerhard Hotz, Lic. Phil. Liselotte Meyer und
dem Autor vorgenommen. Die Geschlechtsbestimmung richtet sich nach den Richtlinien bei FEREMBACH ET AL. 1979. Das erste Individuum (Individuum 1, Abb. 1 und 2)10 wurde auf ein Sterbealter
von 18–25 Jahren geschätzt. Das Geschlecht konnte
nicht sicher bestimmt werden, tendiert aber mit einem Index von –0,4 gegen weiblich. Bei der zweiten, eindeutig weiblichen Alamannin (Individuum
2, Abb. 3 und 4, Geschlechtsindex von –1)11, wurde
ein Alter von 18–29 Jahren angesetzt. Einzig der
dritte Schädel (Individuum 3, Abb. 5 und 6)12 kann
vermutlich dem Grab 3 zugeordnet werden. Der
Geschlechtsbestimmungsindex des Schädels liegt
bei 0, das Sterbealter wurde auf 45–59 Jahre geschätzt. Es liegen keine weiteren Knochenreste aus
dem Inventar des Gräberfeldes Basel–Gotterbarmweg vor, die sicher zu den drei Schädeln gehörten.
Die einzelnen, zusammengefassten Schritte
der Methode Skultety werden im unten stehenden Kapitel am Beispiel der drei alamannischen
Individuen des Gräberfeldes Basel–Gotterbarmweg erörtert. Erweiternd zu diesen methodischen
Prinzipien erweisen sich die verdankenswerten
Werke von Mehmet Yasar Iscan und Richard P.
Helmer (vgl. ISCAN/HELMER 1993) sowie vom britischen Gesichtsrekonstrukteur Richard Neave
(vgl. PRAG/NEAEVE 1999), dessen Rekonstruktionen von hoher analytischer und künstlerischer
Qualität sind.
85
aktuell
Fabian Link
Abb. 5 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannischen Individuums 3) mit starker Prognathie. Das Sterbealter liegt zwischen
45–59 Jahren, das Geschlecht ist unbestimmt, Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 6 Basel, Gotterbarmweg. Schädel des alamannischen Individuums 3), Dreiviertelansicht. (Gyula Skultety/Fabian Link)
dings nur aufgrund allgemeiner Beobachtungen
rekonstruiert, nicht aber deren genaues Aussehen
wiedergegeben werden (SKULTETY 1987–2000, 3).
Bei der Gesichtsrekonstruktion nach der Methode Skultety wird nicht jeder einzelne Gesichtsmuskel rekonstruiert, sondern die für das Gesicht
ausschlaggebenden Muskeln werden besonders
hervorgehoben oder kleine Muskeln zu Muskelgruppen zusammengefasst und modelliert.
Bevor die detaillierte Vorgehensweise bei der
Gesichtsrekonstruktion besprochen wird, müssen
einige methodische Einschränkungen formuliert
werden13 . Entgegen der Annahme Gerassimows,
findet Skultety keine Anhaltspunkte an den Schädelknochen, um Rückschlüsse auf die Fülle des
Gesichts bzw. den Ernährungszustand der jeweiligen Person machen zu können. Nur wenn andere Knochen der verstorbenen Person vorhanden
sind und für die anthropologische Untersuchung
beigezogen werden können, ist es möglich, allenfalls Hinweise auf den Ernährungszustand der
Person zu Lebzeiten zu erhalten. Verletzungen
oder Entstellungen (z. B. durch eine Hautkrankheit), die nur die Gesichtsweichteile betreffen,
können in der Regel nicht eruiert werden14. Ausnahmen stellen Personen dar, über deren Leiden
medizinhistorische Dokumente existieren. Die
Augen– und die Hautfarbe sowie die Haare lassen
sich ebenfalls nicht ableiten, ihre Gestaltung kann
nur durch eventuelle ikonographische Analogieschlüsse vermutet werden. So erscheint es z. B.
sehr unwahrscheinlich, dass Menschen afrikanischer Herkunft blonde und glatte, europide Menschen hingegen dicht gekrauste und schwarze
Haare besitzen. Die Ausrichtung der Ohren wird
von der allgemeinen Ausrichtung des Gehörgangs abgeleitet, Höhe und Breite können aller-
aktuell
Schritt 1
Der Gesichtsrekonstruktion vorausgehend muss
der vorliegende Schädel als erstes anthropologisch untersucht werden. Falls andere Knochen
des Skeletts noch vorhanden sind, sollten auch
sie in die Analyse miteinbezogen werden. Wenn
möglich, so muss das jeweilige Geschlecht des
Menschen bestimmt, der Zustand des Gebisses
beurteilt, spezielle Merkmale beobachtet, und die
Weichteildicken der insgesamt 29 Weichteildickenpunkte bestimmt werden. Die jeweilige Stärke der Wichteildicken wird anhand der Stärke
und Ausbildung des Schädel– und Gesichtsknochenwuchses des zu rekonstruierenden Individuums festgesetzt. Die Weichteildicken variieren
erheblich zwischen männlichen und weiblichen
Individuen und zwischen robusteren oder grazileren Individuen. Als anthropometrische Grund-
86
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
Abb. 7 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 4/1 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 8 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 4/1 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Dreiviertelansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 9 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 4/2 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 10 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 4/2 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Dreiviertelansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
87
aktuell
Fabian Link
Für den nächsten Schritt muss der Schädel zuerst
präpariert werden. Weil für den zu erstellenden
Gipsabguss ein flüssiger Silikonkautschuk auf
den Schädel aufgetragen werden muss, ist es unbedingt erforderlich, alle Hohlräume des Schädels (z. B. Augenhöhlen, Nasenöffnung, Gebiss
etc.) mit Bienenwachs abzudichten. Es lässt sich
leicht und ohne Rückstände wieder entfernen.
Auf diese Weise kann der füssige Gummi nicht
in die hohlen Partien des Schädels hineinfliessen.
Zugleich kann der Unterkiefer am Oberkiefer sicher platziert und befestigt werden. Es werden
zwei Gipsabgüsse des Schädels benötigt. Auf
dem einen Abguss wird das Gesicht aus Plastilin15 rekonstruiert, der andere Abguss dient der
ständigen Kontrolle beim Modellieren. Der Vorteil des Plastilins gegenüber Ton ist, dass er nicht
gebrannt werden muss, somit nicht an Volumen
verlieren kann und ein Material mit langer Haltbarkeit ist.
Wie Richard Neave zu Recht schreibt, sollte
aus mehreren Gründen nicht auf dem originalen
Schädel rekonstruiert werden (PRAG/NEAEVE1999,
22). Einerseits kann durch die Herstellung eines
Abgusses der Originalschädel für weitere Untersuchungen verwendet werden und ist somit nicht
während der Rekonstruktionsphase blockiert.
Andererseits sind gerade Schädel in fragilem und
oft beschädigtem Zustand nicht dazu geeignet,
dem Gewicht des Plastilins und dem Druck des
Auftrags durch den Rekonstrukteur Stand zu
halten. Als drittes Argument muss der ethische
Standpunkt vertreten werden: Aus Respekt vor
der/dem Toten sollte eine Rekonstruktion auf
dem Originalschädel vermieden werden.
Ein Gipsabguss wird mit Hilfe von reissfestem Silikonkautschuk16 hergestellt. Dabei wird
auf den Originalschädel zuerst Vaseline aufgetragen, sodass am Ende von Schritt 2 sich die Silikonmaske ohne Schäden zu hinterlassen wieder
Abb. 11 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 5/1 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 12 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 5/1 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Dreiviertelansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
lagen der Weichteildicken liegen bei der Methode
Skultety die Messungen von Kollmann, Gerassimow und Skultety sowie von Richard Neave vor
(vgl. PRAG/NEAEVE 1999, 26; Tab.1). Die Stärke
der Gesichtsmuskeln und der darüber liegenden
Haut kann bei einem lebenden Menschen je nach
Klima, nach Alkoholgenuss und durch andere
Faktoren leicht variieren (bis zu 1 mm). Die Nasenform, die sich aus der allgemeinen Richtung
des Nasenknochens (Os nasale) und des Fortsatzes des Nasenstachels (Spina nasaslis anterior) ergibt, wird mittels der Gerassimow’schen Tabelle
abgeleitet. Erweiternd zu dieser Tabelle können
die vier von Richard Neave ermittelten Nasentypen beigezogen werden (vgl. PRAG/NEAEVE 1999,
29; Tab. 3).
Schritt 2
aktuell
88
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
Abb. 13 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 5/2 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Frontalansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
Abb. 14 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 5/2 am
Beispiel des alamannischen Individuums 2), Dreiviertelansicht.
(Gyula Skultety/Fabian Link)
vom Schädel ablösen lässt. Vier bis fünf Schichten des flüssigen, mit Verdickungsmittel und
Härter angereicherten Silikonkautschuks werden
anschliessend auf den Schädel mit einem Pinsel
aufgetragen, wobei die einzelne Schicht nach dem
Auftrag zuerst aushärten muss, bevor die nächste
aufgepinselt werden kann. Weil die vom Schädel
abgelöste Silikonmaske nicht selbsttragend ist, d.
h. sie verformt sich beim Eingiessen des Gipses,
werden auf dem mit Silikonkautschuk ummantelten Schädel vier sich voneinander abtrennende Gipsschalen aufgetragen, die mit Gipsbinden
verfestigt sind. Die Trennnähte müssen mit der
wasserabweisenden und nicht bindenden Vaseline eingestrichen werden. Wenn die Gipsschalen
ausgetrocknet sind, werden sie behutsam von
der Silikonkautschukmaske gelöst. Daraufhin
wird die Silikonkautschukmaske sorgfältig vom
höchsten Punkt des Schädels (Vertex) entlang der
Sutura sagitalis aufgeschnitten, sodass der Schädel nicht beschädigt wird und sich der Silikonkautschuk leicht ablösen lässt. Die Maske kann
nun in die Gipsschalen passend eingelegt werden. Die Schalen werden mit einem Gummiband
zusammengehalten, denn eine Verschiebung
kann eine Deformation des Abgusses bewirken.
Drei bis vier Gipsschichten werden nun in den
Hohlkörper eingegossen, wobei eine Schicht ca.
5–10 Minuten lang austrocknen muss, bevor die
nächste folgen kann. Zum Schluss werden die
Gipsschalen abgenommen und der fertige Gipsabguss von der Silikonkautschukmaske befreit
(SKULTETY 1987–2000, 2–4). Einer der Gipsabgüsse
wird auf einem Skulpturen– oder Büstenständer
in der Lage der sogenannten »Frankfurter Horizontalen« aufgesetzt und mit Gips befestigt. Der
vom Silikonkautschuk befreite Schädel muss zum
Schluss von Schritt 2 unbedingt gründlich gereinigt werden, sodass möglichst keine Rückstände
der Bienenwachsverkleidung, der Vaseline oder
des Silikonkautschuks mehr zurückbleiben. Bevor
zum nächsten Schritt übergegangen werden kann,
muss der Gipsschädel lackiert werden, sodass der
Plastilin auf der Oberfläche besser haftet.
Schritt 3
Als nächstes sind insgesamt 29 Punkte, nämlich
die für die Modellierung des Gesichts ausschlaggebenden Wichteildickenmarkierungen auf der
Knochenstruktur des Abgusses anzuzeichnen,
einzubohren und mit kleinen Metallstiften zu versehen. Dabei werden die Weichteildicken, die von
89
aktuell
Fabian Link
dem vorliegenden Schädel bei Schritt 1 bestimmt
wurden, an den Stiften abgemessen und zurechtgeschnitten. Die Stifte helfen bei der Modellierung
der Muskelformen und der Haut des Gesichts, die
jeweiligen plastischen Volumina nicht zu verlieren. Die Mundwinkel liegen in der Regel unmittelbar hinter dem rechten und dem linken Eckzahn
(Dens caninus) des Oberkiefers, weshalb auch
diese Stellen mit eingebohrten, grösseren Nadeln
gekennzeichnet werden (SKULTETY 1987–2000, 2;
3). Mit denselben grösseren Nadeln wird auch der
Okklusionsgrad der Augen angegeben. Der innere
Ansatzpunkt der Augenlieder (Musculus orbicularis oculi, Pars palpebrale) ist das Ligamentum
palpebrale mediale, das etwa in der Mitte des Os
lacrimale liegt. Der äussere Ansatzpunkt lässt sich
anhand eines kleinen Höckers erkennen, der sich
auf dem äusseren Margo supraorbitalis befindet
(SKULTETY 1987–2000, 2–4).
Schritt 4
Abb. 16 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 6,
alamannisches Individuum 2). (Gyula Skultety/Fabian Link)
Nun werden die Augen eingesetzt und der Nasenknorpel in gelbem Plastilin modelliert (Abb. 7
und 8). Die Augen sind aus gläsernen und innen
naturgerecht bemalten Halbkugeln hergestellt.
Anschliessend werden die Halsmuskeln, also der
hintere Musculus trapezius (grösster Nackenmuskel) und der in Richtung Brust– und Schlüssel-
bein (Sternum und Clavicula) ziehende Musculus
sternocleidomastoideus sowie die seitlichen Kopf–
und die Kaumuskeln (Musculus temporalis und
Musculus masseter) geformt. Die Ansätze der Ohren um das Ohrloch (Porus acusticus externus) herum müssen in diesem Stadium bereits markiert und
andeutungsweise modelliert werden. Der vordere
Halsbereich wird ebenfalls in diesem Schritt bereits
ausgestaltet (Musculus sternohyoideus und Musculus omohyoideus, SKULTETY 1987–2000, 11; 12).
Der Musculus sternocleidomastoideus setzt direkt am Processus mastoideus an, die Ansatzstelle am Knochen des hinteren Musculus trapezius
gibt sich durch die deutlich zu erkennende Lineae
nuchalis inferior. Der seitliche, flächige Muskel
(Musculus temporalis) zieht von der Lineae temporalis superior hinunter zum Arcus zygomaticus
und vermengt sich mit dem Musculus Masseter,
dessen Ansatzstelle wiederum am unteren Grad
des Unterkiefers liegt (Abb. 9 und 10).
Im selben Zug können bereits schon die Haut
und die darunter liegende Muskulatur (Musculus
orbicularis oculi, Pars orbitalis et Pars palpebralis,
und Musculus depressor supercilii) der Augenlieder aufgesetzt und die Öffnung nach dem zuvor
markierten Okklusionsgrad ausmodelliert werden.
Zuletzt wird die Ohrspeicheldrüse (Glandula
parotidea) aufgesetzt, die sich auf dem Musculus
Abb. 15 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 6,
alamannisches Individuum 1). (Gyula Skultety/Fabian Link)
aktuell
90
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
sternocleidomastoideus im unteren Bereich der
Mandibula und vor der Ohrmuschel befindet.
Schritt 5
Dem Gesicht gibt der nächste Schritt bereits eine
Idee von seinem Bildnis, denn nun wird die
Mundpartie im Zusammenspiel mit der Kinnmuskulatur modelliert (Abb. 11 und 12). Es brauchen an dieser Stelle nicht vollständig alle zum
Mund gehörigen Muskeln aufgezählt werden,
wichtig sind v. a. die Muskelgruppen des oberen
und unteren Mundbereichs. Zur ersten Gruppe
gehört der vom oberen Augenbereich zum Mund
ziehende Musculus levator labii superioris und
der Musculus zygomaticus minor und major. Die
Gruppe der unteren Mundmuskeln besteht aus
dem Musculus levator anguli oris, dem Musculus
orbicularis oris, Pars marginalis und dem Musculus risorius. Wichtig für die Dicke der Ausstülpungen der oberen und unteren Mundmuskulatur, also der Lippen, ist, wie weit vorn oder hinten sich der Unterkieferinnenwinkel am unteren
Grad der Mandibula befindet. Je weiter vorn, also
zum Kinn hin, der Winkel liegt, desto aufgeworfener sind die Lippen gestaltet. Der vom Mund
zum Hinterkopf ziehende Musculus buccinator
wird als letzter zum Mund gehörender Muskel
modelliert. Eng mit der Mundpartie verbunden
Abb. 18 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 7
alamannisches Individuum 1). (Claudia Link)
ist die Muskelgruppe der Kinnmuskeln, die aus
dem Musculus depressor labii inferioris, dem
Musculus mentalis und dem Musculus depressor
anguli oris besteht (SKULTETY 1987–2000, 13–17).
Nun muss nur noch die letzte Schicht auftragen
werden, die Haut. Dabei werden Plastilinstreifen
von etwa 1 cm Breite und ca. 10–15 cm Länge, die
eine Stärke von 0,3–0,5 cm aufweisen, zurechtgeschnitten und auf den Kopf gelegt. Wenn die
ganze Fläche des Gesichts und der oberen Schädelpartie bedeckt sind, werden die Hautstreifen
miteinander verbunden und ausgearbeitet. Weil
der Musculus nasalis sehr dünn und mit der Haut
eng verwachsen ist, wird er nicht separat geformt,
sondern mit dem Auftragen der Haut modelliert.
Gleiches gilt für die grosse, von der Kinn– und
Mundmuskulatur über die Halsmuskulatur ziehende Muskelplatte des Platysmas (Abb. 13 und
14).
Schritt 6
Was nun folgt ist die eigentlich kritische Phase des
gesamten Rekonstruktionsablaufs, nämlich die
Harmonisierung des Gesichts, besser des bis dahin Modellierten zu einem Gesicht (Abb. 15–17).
Abb. 17 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 6,
alamannisches Individuum 3). (Gyula Skultety/Fabian Link)
91
aktuell
Fabian Link
Gerade an dieser Stelle wird oft die Kritik geäussert, dass eine Gesichtsrekonstruktion ja lediglich
der artistische Ausdruck eines wissenschaftlichen
Künstlers sei und niemals das einstige Gesicht »tatsächlich« wiedergeben könne. Dieser Kritik können
folgende zwei Argumente entgegengehalten werden: Kein vernünftiger Anthropologe würde davon ausgehen, eine Gesichtsrekonstruktion sei ein
tatsächliches Abbild des ehemals lebendigen Menschen, schliesslich können wir nicht bestimmen
und nur schätzen, welche Haarfarbe und –form
der Mensch hatte, wie beleibt sie/er war, welche
Augen– und Hautfarbe sie/er hatte und ob sie/er
im Gesicht und auf den Knochen nicht sichtbar
in irgendeiner Weise entstellt oder verletzt war.
Insofern kann eine Gesichtsrekonstruktion lediglich eine Annäherung an die Ikongraphie eines
vergangenen Menschen sein, dies soll an dieser
Stelle nicht bestritten werden. Aber wir wissen
die ungefähre Weichteildicke eines menschlichen
Gesichts und ein verständiger Anatomiekünstler
ist sich der Form der Muskeln, der Haut und der
Gesichtsausprägungen insgesamt bewusst und
kann diese auf eine authentische Weise wiedergeben. Das zweite Argument kann ganz allgemein
formuliert werden: Keine archäologische Fundstätte könnte jemals eine gelebte Realität widerspiegeln – ein gewisses Rest–, teils auch Übermass
an Unwissen/Nichtwissen bleibt bei jeder histo-
Abb. 20 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt 7
alamannisches Individuum 3). (Claudia Link)
risch–anthropologischen
Untersuchung bestehen.
oder
archäologischen
Schritt 7
Zwei Möglichkeiten für den Umgang des fertigen
Plastilinkopfes stehen nun zur Verfügung, nämlich
die Fertigung eines vollrealistischen, d. h. panoptischen Kopfes, oder eines statuarischen Gipskopfes,
der mit einer hypothetischen Frisur versehen werden kann (Abb. 18–21). Die statuarische Variante
birgt den Vorteil, dass die nicht sicher bestimmbaren Faktoren als Hypothese sicher erkennbar dargestellt werden können. Eindrücklicher, zugleich
aber auch weit hypothetischer, ist die Fertigung eines Panoptikums. Dabei wird für die Herstellung
des Gipsabgusses dieselbe Methode wie bei Schritt
2 angewendet (vgl. Schritt 2). Für ein Panoptikum
kann der Gips mit einem Kunststoff wie z. B. Polyurethan ersetzt werden, der anschliessend bemalt
und mit Haaren versehen wird. Ein Abguss des
fertigen Kopfes empfiehlt sich immer, denn der
Plastilin ist zwar lange, aber nicht ewig haltbar
(SKULTETY 1987–2000, 4; 5).
Abb. 19 Basel, Gotterbarmweg. Rekonstruktionsschritt
alamannisches Individuum 2). (Claudia Link)
aktuell
92
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
te bereits 1863 A. Ecker fest, der bei zwei alamannischen Schädeln dieses Phänomen feststellen
konnte – der eine davon stammte aus den sogenannten »Hünengräbern« bei Freiburg i. Br. Dabei handelte es sich um langschädlige, junge und
männliche Alamannen, die von S. Schultze – auf
dem Stand der damaligen Anthropologie – als »mit
der äthiopischen Rasse verwandt« beschrieben
wurden, weil sie einen ausgeprägten Prognathie–
Winkel von 81° aufwiesen (KROMER 1938, 23; 24).
KROMER (1938, 24; 25) muss allerdings zugeben,
dass ihm aus dem Raum Basel kein ähnlicher Fall
bekannt geworden sei. Anders hingegen liegt der
Fall bei den vier stark prognathen Schädeln von
Individuen aus dem Gräberfeld in Herten.
Eine Bestätigung der früheren Hypothese, dass
die Prognathie ein Merkmal von alamannischen
Individuen sei, konnte Kurt Kromer nicht erbringen. Vorstehende Alveolen der Mundpartie lassen sich bei vielen Bevölkerungsgruppen über alle
Zeiten hinweg beobachten, ohne dass bestimmte
Gruppen zusammengefasst werden könnten (vgl.
KROMER 1938, 17–26). Die Frage, ob es sich bei der
Proganthie der alamannischen Individuen aus
dem Gräberfeld bei Herten und denjenigen aus
dem Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg um ein regional gebundenes, morphologisches Phänomen
handelt, kann daher nicht beantwortet werden.
Prognathie – ein »alamannisches Phänomen«?
Vorweg muss eine kurze Definition des heute
meist in der Zahnmedizin verwendeten Begriffs
der Prognathie17 (KROMER 1938, 12) gegeben werden. Der Begriff wurde der Anthropologie entnommen und lässt sich mit »Vorkiefrigkeit« übersetzen. Darunter wird eine Kieferbildung verstanden, bei der die Profillinie des Gesichts von der
Stirn über den Nasenrücken bis zu den Zähnen
zur horizontal verlaufenden Schädelebene (sogenannte »Frankfurter Horizontale«) einen Winkel
von ca. 80° bildet. Im Gegensatz zu dieser Kieferbildung steht in der Anthropologie der Begriff
der »Orthognathie«, also der »Geradkiefrigkeit«
(ASCHER 1951, 7). Ob die Prognathie tatsächlich als
Merkmal einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu betrachten ist, das durch eine bestimmte
Ernährungstechnik entstanden ist, muss offen
gelassen werden. Ascher unterscheidet hierbei
zwischen einem Prognathismus des Kiefers, der
bei europiden Menschen weitgehend unbekannt
ist und vor allem bei negriden und australoiden
wie auch papuanischen Menschen zu beobachten
ist, und dem alveolaren Prognathismus, der auch
bei Europäern festgestellt werden kann (ASCHER
1951, 8). Aus diesen Gründen verwirft Ascher aus
kieferorthopädischer Sicht den Begriff der »alveolaren Prognathie«, sondern definiert das Phänomen auf dem Boden pathologischer Veränderungen eines »normal« angelegten Oberkiefers, der
vergesellschaftet sei mit einem in Distillage befindlichen Unterkiefer (Rachitis, erschwerte Nasenatmung, Lutschen u. a., vgl. ASCHER 1951, 8).
Wie dem auch sei, die kieferorthopädische Betrachtungsweise muss hier nur ansatzweise interessieren. Die Prognathie der beiden vorliegenden
alamannischen Individuen (Individuen 1 und 3)
lässt sich als alveolare Prognathie definieren, weil
die Alveolen (Zahnhälse) sowohl beim Unterkiefer wie auch beim Oberkiefer relativ gleichmässig
vorstehen (ASCHER 1951, 8).
Als einzigen wissenschaftlichen Beitrag, der
sich mit dem Thema der Prognathie bei Alamannen, nicht aber mit dem Phänomen der Kleinschädligkeit befasst, konnte die kurze Publikation
der Inaugural–Dissertation von Kurt Kromer ausfindig gemacht werden (vgl. KROMER 1938, 7; 8).
Für diesen Beitrag zum Glück, konzentriert sich
der Autor auf das süddeutsche Gebiet. Den Ausschlag für diese Untersuchung gaben die Ausgrabungen des alamannischen Gräberfeldes in Herten (D), bei dem vier Alamannenschädel gefunden
wurden, die eine auffällige Prognathie aufwiesen.
Hinweise auf eine alamannische Prognathie stell-
Ergebnisse und Schlussbemerkung
Schwierig und nach wie vor nicht mit völliger
Klarheit zu beantworten bleibt die Frage nach
der ethnischen Deutung und Bestimmbarkeit
der vorliegenden alamannischen Individuen. Im
Zuge der belegbaren These von der alamannischen Stammesgemeinschaft (JENTGENS 2001, 121;
122), darf aber angenommen werden, dass es sich
bei alamannischen Ethnien um sehr heterogene
Gruppen gehandelt haben muss, dies untermauern zumindest die sehr unterschiedlichen morphologischen Ausprägungen der vorliegenden
drei wohl weiblichen Individuen.
Abschliessend ist zu bemerken, dass das Phänomen der alveolaren Proganthie – bei der Kieferprognathie liegt der Fall anders – grundsätzlich bei allen bisher bekannten Menschentypen,
sowohl der Vorzeit, als auch beim Homo sapiens
sapiens von der Antike bis über das frühe und
hohe Mittelalter wie auch in der Neuzeit immer
wieder beobachtet werden konnte, ohne dass damit verknüpfte morphologische Merkmale einer
bestimmten Menschengruppe hätten beobachtet
werden können (KROMER 1938, 27). So wird der
93
aktuell
Fabian Link
4
Die vermutete demographische Zuordnung
ergibt aus gewissen Eigentümlichkeiten der
Frauentracht, aus bestimmten Merkmalen in den
Keramikfundkomplexen und aus dem gelegentlichen
Auftreten künstlicher Schädeldeformationen.
Fall auch bei den rekonstruierten drei Alamanninnen liegen, denn sowohl die Prognathie als
auch die ausgesprochene Kleinschädligkeit des
Individuums 1 müssen wohl einfach als physiologisches Phänomen beurteilt werden, ohne
dass dabei eine genauere typologische und damit
geo-demographische Zuordnung möglich wäre.
Ein ähnlich morphologisch diffuses Bild ergibt
sich bei der als Vergleich herangezogenen, anthropologischen Betrachtung des alamannischen
Gräberfeldes von Elgg im Kanton Zürich: Neben
den für die Zeit des 6. Jhs. angeblich typischen
schmalen und hohen Schädelformen liegen auch
Individuen mit breiten und niedrigen Schädeln
vor (WINDLER 1994, 180). Die drei rekonstruierten
Alamanninnen unterstreichen das Bild einer morphologisch sehr gemischten alamannischen Bevölkerung, die sich allenfalls durch die Analyse
der Grabbeigaben in einzelne Gruppen oder gar
Stammesverbände einteilen lässt.
5
Aus Jericho sind neolithische Schädel der Zeit
von ca. 7’500–5‘500 v. Chr. bekannt, die mit Lehm
übermodelliert wurden und auf diese Weise das
Gesicht auf dem Knochen sozusagen »rekonstruiert«
wurde (PRAG/NEAEVE 1999, 12; 13). Ein ähnlicher
Umgang mit Verstorbenen lässt sich aus dem frühen
20. Jh. in Papua Neuguinea und der Insel Malakula
(Vanuatu), Melanesien, beobachten (SPEISER 1996, Taf.
81; Abb. 7; 11). Steht bei diesen Beispielen nicht die
wissenschaftliche Rekonstruktion eines Gesichts im
Vordergrund, so bezeugen sie doch den besonderen
Umgang mit Schädeln von verstorbenen Menschen.
6
1883 publizierte der Anatom Welcker bereits Daten
von empirisch ermittelten Weichteildicken (PRAG/
NEAEVE 1999, 14; 15). His wendete dabei ermittelte
Weichteildickendaten von 24 männlichen und 4
weiblichen Leichen an.
Dank
7
Die neoklassizistische Frisur muss selbstverständlich
verworfen werden (vgl. PRAG/NEAEVE 1999, 16;
Abb. 3).
Zum Schluss soll Dr. Gerhard Hotz, Leiter der
anthropologischen Sammlungen des Naturhistorischen Museums Basel (NMB), der uns die drei
Schädel zur Verfügung gestellt hat, sowie seiner
Mitarbeiterin Lic. Phil. Liselotte Meyer einen
herzlichen Dank ausgesprochen werden. Weiteren Dank gebührt Lic. Phil. Stefan Lehmann für
wertvolle bibliographische Hinweise.
8
Der Jenaer Anatom Eggelin postulierte daraufhin,
dass die Rekonstruktion eines Gesichts auf Basis des
Schädels seinen Erfahrungen nach nicht möglich sei
(PRAG/NEAEVE 1999, 17).
9
Anmerkungen
Dabei wurde Gerassimows Methode durch
verschiedentlich durchgeführte Blindversuche
getestet, indem die Ergebnisse mit Fotographien
verglichen wurden, die dem Gesichtsrekonstrukteur
nicht bekannt waren.
1
10
Nr. 1435 (NMB).
11
Nr. 1443 (NMB).
12
VII. 73/1 (NMB).
Die Im Text verwendete Terminologie »Alamannen«
richtet sich nach der um 300 n. Chr. erstmals in den
römischen Schriftquellen überlieferten Bezeichnung
»Alamannia« für ein Land, das grösstenteils das
heutige Bundesland Baden–Württemberg, Teile des
heutigen Bayerns und Hessens umfasst (vgl. NUBER
1997, 59).
13
Die im Text verwendeten anatomischen
Fachausdrücke richten sich nach PUTZ/PABST (2006,
32–117).
2
Zur Besiedlungsgeschichte der heutigen Schweiz
im Frühmittelalter vgl. MARCHAL 2004, 109–214, zu
archäologischen Fundstellen und Befunden vgl.
WINDLER ET AL. 2005.
14
Eine Ausnahme stellt z. B. die Knochensyphilis
dar, die an den Gesichtsknochen mehr oder weniger
deutlich zu erkennen ist.
3
»Kleinhüningen« ist dabei der einzige alte
alamannische Ortsname, der bis heute überlebte.
Aus dem Gräberfeld von Herten sind 335 Gräber,
aus demjenigen von Basel–Kleinhüningen 450
Gräber überliefert, also bedeutend mehr als aus dem
Gräberfeld Basel–Gotterbarmweg.
aktuell
15
Für die Rekonstruktion des Nasenknorpels und des
inneren Augenkarnats wird ein gelber, wächserner
Plastilin verendet: PAN.PONGO SCULT. 12
(Italien). Die übrigen Partien werden mit einem leicht
zäheren, grauen Plastilin modelliert: OMYACOLOR
PLASTICOLOR. 12 (Frankreich). Alle bei der
94
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld Basel ...
JENTGENS, G. (2001): Die Alamannen. Methoden und
Begriffe der ethnischen Deutung archäologischer Funde
und Befunde, Freiburger Beiträge zur Archäologie
und Geschichte des ersten Jahrtausends 4. Rahden/
Westfalen 2001.
Gesichtsrekonstruktion verwendeten Materialien
stammen aus dem Geschäft Troller–Kunststoffe AG,
Höllstrasse 20, CH–4629 Fulenbach.
16
SILASTIC 3481 BASE. Als Härtungsmittel wird der
dazugehörige SILASTIC Härter 81R im Verhältnis
100:5, als Verdickungsmittel der Accelerateru PC37
Thixo LOT N. 4270701 (Shell Aseol AG, 3000 Bern 5)
im Verhältnis 100:1 der Silikonkautschukmasse
beigegeben.
KOCH, U. (2001): Das alamannisch–fränkische
Gräberfeld bei Pleidelsheim. Forsch. U. Ber. Vor– u.
Frühgesch. Baden–Württemberg 60. Stuttgart 2001.
Der Ausdruck »Prognathie« wurde vom britischen
Physiologen I. C. Prichard geprägt (KROMER 1938, 9).
KROMER, K. (1938): Zur Prognathie einiger Alamannen
von Herten. Inaug.–Diss. zur Erlangung der
Doktorwürde der Zahnheilkunde der medizinischen
Fakultät der Universität Basel. Winterthur 1938.
Literatur
KUHN, F. (1963): Aus der Frühgeschichte von Herten,
Sonderdruck aus der Festschrift anlässlich der
Einweihung der neuen Volksschule Herten 1963.
Lörrach 1963.
17
ASCHER, F. (1951): Prognathie. Ihre kieferorthopädische, chirurgische und prothetische Behandlung.
Kieferorthopädie – Kinderzahnheilkunde 6.
München 1951.
MARCHAL, G. P. (2004): Die Ursprünge der
Unabhängigkeit (401–1394), in: ULRICH IM HOF ET AL.,
Geschichte der Schweiz und der Schweizer. Basel 2004.
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Fabian Link
Wasgenring 125
4055 Basel
Tel.: 00 41/76/4 29 02 44
E–Mail: [email protected]
aktuell
96
Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell
eines jungneolithischen Schädelfundes aus der Blätterhöhle
in Hagen, Nordrhein-Westfalen
Jörg Orschiedt, Flora Gröning und Thorsten M. Buzug
Zusammenfassung – Die Anwendung neuer computergestützter Verfahren wie der Computertomographie und 3D-Bildbearbeitung eröffnet
neue Möglichkeiten in der Rekonstruktion fragmentarischer Skelettfunde. Gegenüber herkömmlichen Methoden sind diese Verfahren nichtinvasiv und damit zerstörungsfrei. Im Folgenden wird die virtuelle Rekonstruktion eines jungneolithischen Schädels aus der Blätterhöhle
bei Hagen, Nordrhein-Westfalen beschrieben. Von diesem Schädel sind Fragmente des Calvariums und des Gesichtsschädels vorhanden.
Durch die virtuelle Spiegelung der vorhandenen Stücke konnte der Schädel fast vollständig rekonstruiert werden. Auf der Basis dieser
virtuellen Rekonstruktion wurde anschließend ein stereolithographisches Modell erstellt. Die virtuelle Rekonstruktion dieses Fundes bietet
nicht nur Möglichkeiten für die weitere wissenschaftliche Bearbeitung des Fundes, sondern verbessert vor allem die Attraktivität und
Anschaulichkeit des Fundes in der musealen Präsentation.
Schlüsselwörter – Virtuelle Rekonstruktion, Stereolithographie, Jungneolithikum, menschlicher Schädel
Abstract – The application of new computer-based techniques like computed tomography and 3D image processing provides new
possibilities for the reconstruction of fragmentary skeletal remains. In contrast to conventional methods, these techniques are non-invasive
and thus non-destructive. In this article, the virtual reconstruction of a Late Neolithic cranium from the cave site Blätterhöhle close to
Hagen, North Rhine-Westphalia is described. Neurocranial as well as facial fragments of this skull are preserved. The cranium could be
almost completely reconstructed by mirror imaging of the preserved parts. On the basis of this virtual reconstruction, a stereolithographic
model has been produced. The virtual reconstruction of this find provides not only possibilities for the additional scientific examination of
the cranium, but also makes the find more attractive and comprehensible for museum visitors.
Keywords – virtual reconstruction, stereolithography, Late Neolithic, human skull
Fundkontext
Die Blätterhöhle befindet sich im „Weißenstein“,
einem 189,4 m ü. NN hohen Kalkmassiv im Tal
der Lenne, einem Seitenfluss der Ruhr, in unmittelbarer Nähe der Ortschaft Holthausen, innerhalb des Stadtgebietes von Hagen. Der Eingang
der Blätterhöhle am Südhang dieser Felsformation liegt unmittelbar an der Mündung eines engen
Seitentals der Lenne. Die weißen Kalkfelsen bilden eine weithin sichtbare Landmarke im unteren Lennetal. Sie formen den Anfang eines sich
von Hohenlimburg nach Süden zu einem tiefen
Gebirgstal verengenden Flussbereichs der Lenne.
Am „Weißenstein“ öffnet sich das Lennetal zu
einer weiten Terrassenlandschaft, die im Norden
durch das Ruhrtal und die südlichen Ausläufer
des Ardeygebirges sowie von dem beherrschenden Syberg (Hohensyburg) abgeschlossen wird.
Am östlichen Fuß des Weißensteins befindet sich
eine Karstquelle, der „Barmer Teich“, die den
Großteil des Karstgebietes entwässert.
Seit den 1920’er Jahren ist die Umgebung des
„Weißenstein“ durch verschiedene archäologische Funde bekannt. In verschiedenen Höhlen
und auf Äckern der Umgebung wurden in der
Vergangenheit paläolithische, mesolithische und
neolithische Artefakte, bronze- und eisenzeitliche
Trachtbestandteile und Waffen sowie mittelalterliche Keramik entdeckt.
Im Rahmen einer hydrologischen Untersuchung, die im Auftrag der Stadt Hagen durchgeführt wurde, konnte die Blätterhöhle im April
2004 erstmalig speleologisch durch den Arbeitskreis Kluterthöhle e.V. untersucht werden. Dabei
wurde die Höhle als Kriechgang begehbar gemacht und bis auf eine Länge von 65 m vermessen.
Die Höhle selbst besteht in ihrer heute bekannten
Form aus einem schräg nach unten führenden, ca.
10 m langen, röhrenförmigen Schacht von ca. 60 x
70 cm Durchmesser, der in einem waagerechten
gewunden Kriechgang mündet. Die Höhle ist bis
auf den hinteren Bereich nur kriechend zu befahren. Teilweise liegen Engstellen vor, die einem
Fall auch nur auf der Seite liegend durchquert
werden können. Bei der Ausräumung des Kriechganges konnte eine Vielzahl menschlicher und
tierischer Skelettreste, die in ungeordneter Fundsituation angetroffen wurden, geborgen werden.
Aufgrund dieser Funde wurde auf eine weitere
Ausräumung von Sediment verzichtet. Da an
keiner Stelle der gewachsene Felsboden erreicht
ist, kann erwartet werden, dass der ursprüngliche Zugang deutlich größer gewesen sein muss.
Die Fundstelle wurde nach der Entdeckung der
archäologischen Funde durch ein alarmgesicher-
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 35-41
Bulletin de la Société Suisse35d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Jörg Orschiedt, Flora Gröning und Thorsten M. Buzug
tes Tor verschlossen. Seit 2006 wird sowohl die
Höhle selbst als auch der Vorplatz archäologisch
untersucht. In den bislang zwei Grabungskampagnen wurden weitere Funde menschlicher und
tierischer Reste sowie Steingeräte und Keramikfragmente geborgen. Ein Vorbericht über erste Ergebnisse zur Fundstelle befindet sich derzeit im
Druck (ORSCHIEDT et al. im Druck).
diglich isolierte menschliche Reste vorliegen. Insgesamt lassen sich zwei Kinder der Altersstufen
infans I und II, eine juvenile Frau, ein erwachsener Mann, eine erwachsene Frau und ein nicht
geschlechtsbestimmtes erwachsenes Individuum
nachweisen.
Datierung
Es liegen keine stratigraphischen Beobachtungen
vor, die für eine zeitliche Einordnung der Knochenfunde aus dem Höhleninneren nutzbar wären. Da die Schichten, in denen die Funde gemacht
wurden, zum größten Teil gestört waren, wie bei
der Nachgrabung ermittelt werden konnte, kann
bisher nur auf 14C-Datierungen zurückgegriffen
werden. Unmittelbar nach der Entdeckung der
Skelettreste wurde eine AMS-Datierung eines
Schädeldaches veranlasst. Diese Messung ergab
ein frühmesolithisches Alter des Schädels. In der
Folge wurden weitere menschliche Skelettreste
in den 14C-Laboratorien von Kiel und Oxford datiert. Die Untersuchung des Kollagengehaltes der
Knochen deutet auf eine sehr gute bis gute Erhaltung hin.
Die Ergebnisse lassen erkennen, dass die
menschlichen Reste aus der Blätterhöhle aus zwei
verschiedenen Zeitphasen stammen, dem Frühmesolithikum und dem Jungneolithikum. Unter
den datierten menschlichen Resten befindet sich
auch ein fragmentiertes menschliches Calvarium
(04/007), dessen Datierung ein Alter von 4833 ±
37 BP (3610 ± 60 calBC, OxA-14464), bzw. 4835 ±
30 BP (3610 ± 50 calBC, KIA-26263a) ergab. Weitere Datierungen menschlicher Reste fallen ebenfalls in einen jungneolithischen Zeitabschnitt zwischen 3.600 und 3.000 calBC.
Menschenreste
Menschliche Reste wurden in einem Bereich unmittelbar hinter der Mündung des Schachtes
im Bereich des waagerechten Kriechganges entdeckt. Anatomische Zusammenhänge konnten
weder bei den menschlichen, noch bei den tierischen Skelettresten beobachtet werden. Die bei
der Bergung gemachte Beobachtung einer verstreuten Lage der Skelettreste sowie das teilweise sehr lose Sediment ist mit einer Störung der
ursprünglichen Lage durch grabende Tiere in
Verbindung zu bringen. Die in den Faunenresten
sehr häufig vertretenen Dachse dürften zu dieser
Störung beigetragen haben.
Die menschlichen Skelettreste stellen die
größte Fundgattung im bislang geborgenen archäologischen Material dar. Insgesamt liegen ca.
200 menschliche Reste vor, die in der Mehrzahl
bei der Ausräumung des Kriechganges entdeckt
wurden aber auch bei den seit 2006 stattfindenden Grabungen in der Höhle und auf dem Vorplatz geborgen wurden. Bisher liegen Skelettreste
von mindestens sieben menschlichen Individuen
vor (ORSCHIEDT/GRÖNING 2007). Die Erhaltung
der Skelettreste kann generell als gut bis sehr gut
bezeichnet werden. Einige Skelettreste weisen
sowohl alte als auch frische Brüche auf, die auf
die Bergung zurückzuführen sind. Die gute qualitative und quantitative Erhaltung ist vor allem
auf die Beschaffenheit der weitgehend trockenen
Kalkhöhle zurückzuführen. Innerhalb des Skelettmaterials sind alle Regionen des menschlichen
Skelettes vertreten. Allerdings sind kleinere Skelettreste wie Hand- und Fußknochen, Wirbel und
Rippenfragmente deutlich unterrepräsentiert. Einige dieser kleineren Skelettelemente konnten jedoch aus den Faunenresten und beim Schlämmen
des Sedimentes ausgelesen werden.
Die Alters- und Geschlechtsbestimmung wurde nach den üblichen anthropologischen Standards durchgeführt (FEREMBACH et al. 1979; RÖSING et al. 2005; SJØVOLD 1988; SZILVÁSSY 1988). Die
Bestimmung wird durch die Tatsache erschwert,
dass keine vollständigen Individuen, sondern le-
aktuell
Anthropologische Bearbeitung des Schädels
Das jungneolithische Calvarium wurde aus zahlreichen Fragmenten rekonstruiert und weist wie
die übrigen Skelettreste aus der Blätterhöhle einen
sehr guten qualitativen Erhaltungszustand auf. Es
lässt nur einige Beschädigungen erkennen, die aufgrund der hellen Bruchränder eindeutig mit der
Bergung bzw. mit der unmittelbaren Entdeckung
des Stückes in Zusammenhang stehen. Defekte
Bereiche sind im Bereich des linken Os parietale
und des rechten Os frontale zu erkennen (Abb. 1).
Neben dem Calvarium ist dem Individuum ein
Fragment des Gesichtsschädels zuzuordnen. Bei
diesem Fragment sind die linke Gesichtshälfte
36
Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell eines jungneolithischen Schädelfundes ...
einem grazilen Erscheinungsbild die Bestimmung
als weibliches Individuum.
Computertomographische Erfassung des
Schädels
Bei der Computertomographie (CT) handelt es sich
um ein Verfahren zur Erzeugung von Schnittbildern eines Objektes mit Hilfe von Röntgenstrahlen.
Ein wesentlicher Vorteil der Computertomographie gegenüber herkömmlichen Röntgenverfahren besteht darin, dass das Bild nicht auf eine
zweidimensionale Fläche projiziert wird, sondern
schichtweise und überlagerungsfrei in eine dreidimensionale Matrix rekonstruiert wird (BUZUG
2004). Auf der Basis des resultierenden Bildstapels kann daher anschließend eine dreidimensionale Rekonstruktion, eine sogenannte sekundäre
Rekonstruktion, des gescannten Objektes erstellt
werden.
Die Schädelreste des spätjuvenilen Individuums wurden mit einem Philips CT Secura Scanner
vermessen (Abb. 2). Hierfür wurde eine Spannung von 100 kV und eine Stromstärke von 80 mA
verwendet. Das Calvarium und der Gesichtschädel wurden einzeln eingescannt. Vom Calvarium
wurden koronale Schichtbilder aufgenommen,
vom Gesichtsschädel axiale. Der Schichtabstand
betrug in beiden Scans 2 mm. Im Falle des Calvariums wurde eine Pixelgröße der Schichtbilder
von 0,34 mm rekonstruiert. Im Falle des Gesichtsschädels lag die Pixelgröße bei 0,23 mm.
Abb. 1 Schädel der jungen Frau aus der Blätterhöhle nach
Zusammensetzung der vorhandenen Fragmente
(Orschiedt/Gröning)
sowie beide Hälften der Maxilla fast komplett erhalten. Das Os zygomaticum befindet sich jedoch
nicht mehr in seiner ursprünglichen Position sondern ist nach posterior gedreht und verschoben.
Im Bereich des rechten Os frontale liegt ein isoliertes Fragment des rechten Orbitadaches vor,
das nicht direkt angepasst werden konnte. Das
Schädelfragment wurde aus zahlreichen Fragmenten rekonstruiert und weist wie die übrigen
Skelettreste aus der Blätterhöhle einen sehr guten
qualitativen Erhaltungszustand auf.
Die Schädelfragmente repräsentieren ein juveniles Individuum, da die Sphenobasilarfuge noch
nicht verschlossen ist, was üblicherweise bis zum
ca. 23. Lebensjahr erfolgt, und der 3. Molar des
Oberkiefers noch nicht durchgebrochen ist (FEREMBACH et al. 1979; RÖSING 2005; SZILVÁSSY 1988).
Das Geschlecht kann anhand der vorliegenden
Schädelmerkmale übereinstimmend als weiblich
bestimmt werden. So liegen neben einer gering
ausgeprägten Glabella und dem Arcus superciliarus, einem scharfkantigen Margo supraorbitale,
deutliche Tuber parietale sowie ein schwach ausgeprägter Processus mastoideus vor (FEREMBACH et
al. 1979; RÖSING 2005; SJØVOLD 1988). Die Bestimmung wird durch die Messung des Austrittswinkels des Meatus acusticus internus in der Pars petrosa von ca. 90° bestätigt (GRAW et al. 2005). Die
Ansatzstellen der Muskulatur im Bereich des Os
parietale und Os occipitale sind nur schwach ausgeprägt. Dies unterstützt ebenfalls zusammen mit
Virtuelle Rekonstruktion
Die virtuelle Rekonstruktion fragmentarischer
Funde gewinnt in der Anthropologie zunehmend
an Bedeutung. Sie bietet zwei wesentliche Vorteile gegenüber konventionellen Verfahren: Sie ist
nicht-invasiv und reversibel. Bei einer herkömmlichen Rekonstruktion ist es schwierig, die verklebten Teile wieder voneinander zu lösen ohne den
Fund zu beschädigen. Eine virtuelle Rekonstruktion erlaubt dagegen, das Stück beliebig oft zusammenzusetzen und wieder zu zerlegen. In den
vergangenen Jahren wurden zahlreiche fragmentarische Fossilfunde virtuell rekonstruiert (z. B.
KALVIN et al. 1995; ZOLLIKOFER et al. 1995; THOMPSON/ILLERHAUS 1998; GUNZ et al. 2004). Ein gängiges
Verfahren ist dabei das Ersetzen fehlender Fragmente durch das Spiegeln vorhandener Teile.
Bei dem jungneolithischen Schädel aus der
Blätterhöhle ist die linke Gesichtshälfte komplett
37
aktuell
Jörg Orschiedt, Flora Gröning und Thorsten M. Buzug
Abb. 3 Screenshot der virtuellen Rekonstruktion mit Ergänzung
der fehlenden anatomischen Bereiche (Gröning). Gespiegelte
Fragmente: grau, ungespiegelte Fragmente: violett
Abb. 2 Einrichten der Vermessung des Schädels mit einem
Philips CT Secura Scanner (Orschiedt)
re Rekonstruktionsmethode darstellt, da das
menschliche Skelett im wesentlichen bilateral
symmetrisch ist, kann es im Detail Probleme geben, da einzelne Knochen durchaus auf der rechten und linken Körperhälfte eine unterschiedliche
Größe oder Gestalt besitzen können. Auch in der
hier beschriebenen Rekonstruktion war es an einigen Stellen nicht möglich die Fragmente perfekt
aneinander zu passen. Es wurden dann jeweils
die bestmöglichen Anpassungen gewählt und die
Kanten manuell korrigiert.
Eine besondere Behandlung erforderte das Os
zygomaticum. Durch eine Beschädigung ist es im
Orginalfund nicht mehr in seiner ursprünglichen
Position, sondern leicht nach posterior gedreht
und verschoben. Um diese Beschädigung zu
korrigieren, wurde das Os zygomaticum als ein
separates Objekt segmentiert und anschließend
durch manuelles Drehen und Verschieben in seine ursprüngliche, anatomisch korrekte Position
gebracht.
Die virtuelle Anpassung der einzelnen Fragmente geschah auf der Basis von Abbildungen
kompletter Schädel in verschiedenen Ansichten,
dem Verlauf der Schädelnähte und Messungen,
z. B. des Durchmessers des Foramen magnums.
Im Allgemeinen ist das dreidimensionale Zusammensetzen von Fragmenten auf einem zweidimensionalen Computerbildschirm keine einfache
Aufgabe, da die dreidimensionale Position der
einzelnen Objekte nur unzureichend wiedergegeben wird. Dies kann durch eine stereoskopische
Darstellung verbessert werden. Die vorläufige Rekonstruktion wurde daher im HIVE-Zentrum der
vorhanden. Darüber hinaus liegt auch die rechte
Hälfte des Calvariums fast vollständig vor. Der
Fund bietet sich daher besonders für eine Rekonstruktion durch Spiegelung erhaltener Teile an.
Vor der eigentlichen Rekonstruktion wurden daher die beide Scans des Calvariums und des Gesichtsschädels gespiegelt, sodass insgesamt vier
Datensätze zur Verfügung standen. Die Spiegelung wurde mit Hilfe der freien Bildbearbeitungssoftware ImageJ durchgeführt.
Die eigentliche Rekonstruktion erfolgte mit
der 3D-Bildbearbeitungssoftware AMIRA 3.1.1®.
Im ersten Schritt wurden die Schichtbilddatensätze eingelesen und knöcherne Strukturen von der
umgebenden Luft durch das Festlegen eines minimalen Dichtewertes getrennt. Auf diese Weise
wurde von jedem Fragment und seiner gespiegelten Version ein 3D-Oberflächenmodell erstellt.
Anschließend wurden die Fragmente durch manuelles Drehen und Verschieben aneinander angepasst (Abb. 3).
Da die Fragmente an einigen Stellen über die
Mediansagittale hinaus reichten, entstanden beim
Zusammensetzen einige Überlagerungen. Diese
wurden manuell korrigiert, indem gespiegelte
Bereiche, die die Originalstücke überlappten, entfernt wurden. Dies betrifft vor allen Dingen die
Maxilla. Da sie fast vollständig erhalten ist, wurde darauf verzichtet, eine Spiegelung entlang der
Mediansagittalen vorzunehmen.
Obleich die Spiegelung vorhandener Fragmente desselben Individuums eine sehr siche-
aktuell
38
Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell eines jungneolithischen Schädelfundes ...
Universität Hull (HIVE - Hull Immersive Visualization Environment), das über einen interaktiven
Virtual Reality Room verfügt, überprüft. Hierbei
wurden einige Bereiche entdeckt, in denen die
Fragmente nicht optimal aneinander passten, was
anschließend korrigiert wurde.
Der letzte Schritt der Rekonstruktion bestand
darin, die einzelnen Oberflächenmodelle zu einem
einzigen Oberflächenmodell zusammenzufassen.
weile wurde es jedoch schon mehrfach angewendet, um Repliken von archäologischen Funden
und Fossilien zu erstellen (ZUR NEDDEN et al. 1994,
ZOLLIKOFER et al. 1995, SEIDLER et al. 1997).
Um eine Stereolithographie des rekonstruierten neolithischen Schädels erstellen zu können,
war es erforderlich, die Daten weiter zu bearbeiten. Mit der freien Software MeshLab wurde das
Modell von sich überschneidenden oder isolierten Flächen bereinigt und anschließend geglättet.
Eine solche Bereinigung ist für den Aufbau eines
stereolithographischen Modells zwingend erforderlich. Darüber hinaus wurde mit der Glättung
eine deutliche Reduzierung der Dateigröße ereicht. Das endgültige Modell wurde schließlich
als STL-Datei exportiert.
Das Stereolithographische Modell wurde von
der österreichischen Firma Zumtobel-Werkzeugbau mit Hilfe einer Stereolithographieanlage des
Typs SLA 7000 erstellt. Die Schichtdicke betrug
dabei 0,1 mm und als Material wurde Epoxydharz verwendet (Abb. 4).
Erstellung des stereolithographischen Modells
Um von einer virtuellen Rekonstruktion ein greifbares Modell zu erstellen, bietet sich die Technik
der Stereolithographie an. Bei diesem Verfahren
wird ein zunächst flüssiger Kunststoff mit Hilfe eines Lasers schichtweise ausgehärtet. Die Lenkung
des Lasers erfolgt computergesteuert auf der Basis
des virtuellen Modells und ist bei hoch auflösenden Geräten auf Mikrometer genau. Ursprünglich
wurde dieses Verfahren für die Herstellung von
Prototypen in der Industrie entwickelt. Mittler-
Abb. 4 Die fertig gestellte Stereolithographie des Schädels (Orschiedt)
39
aktuell
Jörg Orschiedt, Flora Gröning und Thorsten M. Buzug
Fazit
Literatur
Nach den ersten Grabungsergebnissen sprechen die Funde für eine Nutzung des Vorplatzes
und der Blätterhöhle während des ausgehenden
Spätpaläolithikums, älteren Frühmesolithikums
sowie während des Jungneolithikums. In den
letzten beiden Zeitperioden ist die Höhle als Bestattungsplatz genutzt worden. Parallelen für die
Niederlegung menschlicher Körper in Höhlen in
der Zeit zwischen 3.600 und 3.000 calBC. liegen
unter anderem aus dem benachbarten Belgien vor
(ORSCHIEDT et al. im Druck).
Der Einsatz computergestützter Verfahren
hat sich bei der Rekonstruktion des spätjuvenilen
neolithischen Schädels als äußerst lohnenswert
erwiesen. Aus den beiden Fragmenten, die zuvor
nicht aneinander passten, ließ sich allein durch die
Spiegelung vorhandener Reste ein fast vollständiger Schädel rekonstruieren. Dies ermöglicht z.
B. metrische Vergleiche mit anderen Funden, die
vorher durch den fragmentarischen Zustand nur
eingeschränkt möglich waren. Neben dem Nutzen für eine weitere wissenschaftliche Bearbeitung bietet die virtuelle Rekonstruktion und Erstellung eines stereolithographischen Modells vor
allen Dingen Vorteile für die museale Präsentation des Fundes. Der zuvor fragmentarische Fund
kann nun dem Besucher als fast vollständiger
Schädel präsentiert werden, was den Fund für die
Besucher attraktiver und anschaulicher macht.
Das stereolithographische Modell wird derzeit in der Dauerausstellung des Museums für
Ur- und Frühgeschichte Wasserschloss Werdringen zusammen mit dem Originalfund gezeigt.
Es ist beabsichtigt auf der Basis des Modells eine
Gesichtsrekonstruktion der Person anfertigen zu
lassen.
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Wir danken dem HIVE-Zentrum der Universität
Hull für die Nutzung des Virtual Reality Rooms,
die eine wesentliche Verbesserung der Rekonstruktion ermöglichte. Ebenso möchten wir uns
bei Herrn Bruno Kuen von der Firma ZumtobelWerkzeugbau für die gute Zusammenarbeit bedanken.
aktuell
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PD. Dr. Jörg Orschiedt
Historisches Centrum Hagen
Eilper Straße 71-75
58091 Hagen
[email protected]
Flora Gröning M.A.
PALAEO
Biology (S-Block)
University of York
PO Box 373
York YO10 5YW
fl[email protected]
Prof. Dr. Thorsten M. Buzug
Institut für Medizintechnik
Universität zu Lübeck
Ratzeburger Allee 160
23538 Lübeck
[email protected]
41
aktuell
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen
und bronzezeitlichen Skeletten
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Zusammenfassung – In dieser Studie wurde versucht, erste Hinweise zur Verwendbarkeit verschiedener Körperhöhenschätzmethoden
ausgehend von einer kleinen Serie (n = 10) vollständig erhaltener spätneolithischer und frühbronzezeitlicher Skelette zu finden.
Als Bezugsgröße diente die Körperhöhe nach FULLY und PINEAU (1960).
Bei Schätzung der Körperhöhe aus den Gesamtknochenlängen eigneten sich die Formeln von PEARSON (1899) und TELKKÄ (1950) am
besten. Die höchsten Abweichungen lieferten die Regressionsformeln von ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978) DUPERTUIS und HADDEN (1951)
sowie BREITINGER (1937) und BACH (1965).
Mittels Körperhöhenschätzung aus Langknochenfragmenten konnten ebenso brauchbare Ergebnisse erzielt werden, vorausgesetzt
die Teilstrecken waren ausreichend lang und die Messpunkte sicher und leicht zu identifizieren.
Hierbei wurden zwei Möglichkeiten zur Rekonstruktion der Körperhöhe aus Langknochenfragmenten angewendet. Bei der indirekten
Methode (u. a. nach STEELE/MCKERN 1969; JACOBS 1992; WRIGHT ET AL. 2003), wurde aus den Abschnitten zunächst die Knochenlänge
bestimmt, bevor aus dieser Knochenlänge die Körperhöhe mittels gut bekannter Regressionsformeln rekonstruieret werden konnte. Für die
hier untersuchten Langknochen Humerus, Femur und Tibia lieferten die Regressionsgleichungen von WRIGHT ET AL. (2003) die geringsten
Abweichung von der gemessenen Knochenlänge.
Bei anschließender Rekonstruktion der Körperhöhe aus den berechneten Knochenlängen zeigten sich ähnliche genaue Ergebnisse
wie bei Schätzung der Körperhöhe aus gemessenen Langknochenlängen.
Die am Beispiel des Femur durchgeführte direkte Schätzung der Körperhöhe aus Fragmentmaßen (SIMMONS ET AL. 1990) schien
weniger geeignet als die indirekte Methode.
Schlüsselwörter – Körperhöhenschätzung, Langknochenfragmente, Neolithikum, Bronzezeit
Abstract – In this study, first indications regarding the applicability of several stature estimation methods were acquired using a small
sample of well-preserved skeletons (n = 10) from the later Neolithic and early Bronze-age.
The anatomical body height based on the method of FULLY and PINEAU (1960) was therefor used as reference value.
After calculating the stature from measured complete long bone lenghts, it could be shown that the equations of PEARSON (1899) and TELKKÄ
(1950) yield to the best results when compared with the anatomical body height. The highest deviations were derived using the equations
of ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978), DUPERTUIS and HADDEN (1951) as well as BREITINGER (1937) and BACH (1965).
To estimate the body height from long bone fragments, a direct (SIMMONS ET AL. 1990) and an indirect (i.a. STEELE/MCKERN 1969; JACOBS
1992; WRIGHT ET AL. 2003) approach were tested.
When applying the indirect method, the long bone lenght was initially estimated from the lenght of the fragments, before stature could
be calculated from this estimated long bone length via well-known regression equations. For the here investigated long bones humerus,
femur and tibia, the equations of WRIGHT ET AL. (2003) provide the lowest deviations from the measured long bone lengths.
The following reconstruction of stature from the calculated long bone lenghts lead to similar accurate results as the estimation of body
height from the measured complete long bone lenghts.
On the example of the femur, the direct approach of stature estimation from long bone fragments was performed and it could be
shown, that this method seems less suitable than the indirect approach.
Keywords – stature estimation, fragmentary long bones, neolithic, Bronze-age
Einleitung und Zielstellung
In der Paläanthropologie spielt die Interpretation
von Skelettmaterial hinsichtlich Größe und Gestalt eines Individuums eine wichtige Rolle, da
die mittels Körperhöhenschätzung gewonnenen
Individualdaten einen Beitrag zu den Lebensumständen eines Individuums liefern können
In der Literatur werden zwei Grundprinzipien
zur Körperhöhenschätzung beschrieben:
Zum einen ist dies die so genannte „anatomische Methode“, welche die Körperhöhe aus der
Summe der Maße verschiedener Skelettelemente
rekonstruiert und sich in erster Linie auf die Untersuchungen von FULLY (1956) sowie FULLY und
PINEAU (1960) stützt. Die Autoren entwickelten für
die Berechnung der Skeletthöhe Gleichungen, denen die Summe dieser Skelettelemente zugrunde
liegt und geben zusätzlich einen entsprechenden
Korrekturfaktor für die Weichteilkomponente
(Zwischenwirbelscheiben etc.) an.
Somit ist es wichtig, dass bei Schätzung der
Körperhöhe nach der „anatomischen Methode“
alle die Skelettelemente vorhanden und möglichst
intakt sind, welche einen Beitrag zur Körperhöhe
des Individuums leisten. Dies ist in der Regel nur
bei wenigen Skeletten der Fall. Der Vorteil dieser Methode liegt darin, dass mit ihrer Hilfe die
Körperhöhe sehr exakt geschätzt werden kann,
da die Formeln relativ unabhängig von den Proportionsverhältnissen im Skelett sind und damit
weder durch das Geschlecht noch durch das Al-
Archäologische Informationen 30/1, 2007, 51-69
Bulletin de la Société Suisse51d‘Anthropologie 13 (1), 2007
Bulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Anthropologie 13 (1), 2007
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
ter oder die Verschiedenheit zwischen Populationen beeinflusst werden können. Infolgedessen
kann die „anatomische Körperhöhe“ vor allem
bei (prä)historischen Skeletten als tatsächliche
Körperhöhe angenommen werden und damit als
Basis für verschiedene Berechnungen und Vergleiche dienen.
Das zweite Prinzip zur Schätzung der Körperhöhe beruht auf der linearen Proportionalität von Knochenlänge und Körperhöhe. Hierbei
wird versucht, mittels bevölkerungs- und geschlechtsspezifischer
Regressionsgleichungen
von der Gesamtlänge einzelner Langknochen auf
die Körperhöhe zu schließen. Demgemäß wird
diese Vorgehensweise auch als „mathematische
Methode“ bezeichnet (u. a. PEARSON 1899; TELKKÄ 1950; BREITINGER 1935 und BACH 1967; DUPERTUIS/HADDEN 1951; TROTTER/GLESER 1952, 1958, DE
MENDONCA 2000).
Liegen die Langknochen fragmentiert vor, so
lässt sich auch aus Knochenfragmenten die Körperhöhe auf mathematischem Weg rekonstruieren. Hierzu gibt es zwei unterschiedliche Ansatzweisen. So kann die Körperhöhe, ähnlich wie bei
Vorhandensein intakter Langknochen, direkt aus
Abschnittsmaßen rekonstruiert werden, nur das
die Berechnung der Körperhöhe nicht von der
Gesamtlänge des Knochens sondern von dem entsprechenden Teilmaß ausgeht. Diese Methode
wird als direkte Methode der Körperhöhenschätzung aus Langknochenfragmenten bezeichnet,
allerdings finden sich in der Literatur hierzu nur
wenige Regressionsgleichungen. (SIMMONS ET AL.
1990, HOLLAND 1992, CHIBBA/BIDMOS 2006).
Der zweite Weg, nämlich die indirekte Körperhöhenschätzung aus Extremitätenknochenfragmenten, erweist sich als sehr komplex und
birgt einen hohen Fehler wegen des kumulativen
Effektes zweier Standardfehler, da zunächst die
Langknochenlänge aus der Fragmentlänge und
anschließend die Körperhöhe aus der rekonstruierten Langknochenlänge geschätzt werden muss.
Ferner ergeben sich oft Schwierigkeiten bei der
genauen Definition der Messpunkte.
Studien zur Schätzung der Knochenlänge
und/oder Körperhöhe aus Langknochenfragmenten existieren u. a. für Maße an Radius, Ulna
(MÜLLER 1935; GRALLA/FUDALI 1973) und Fibula
(WRIGHT ET AL. 2003), die meisten Untersuchungen
konzentrieren sich allerdings auf Abschnittsmaße
an Humerus, Femur und Tibia (STEELE/MCKERN
1969; SONDER/KNUSSMANN 1985; SIMMONS ET AL.
1990; JACOBS 1992; WRIGHT ET AL. 2003).
Die untersuchten Längenteilstrecken der verschiedenen Autoren sind durch markante Struk-
aktuell
turen am Knochen abgegrenzt und beinhalten
verschiedene Punkte entlang der Epiphyse und
Diaphyse. Bei diesen Strukturen kann es sich
beispielsweise um Muskelansatzstellen oder um
durch Gelenkarchitektur bedingte Segmentgrenzen handeln.
Andere Autoren verwenden zur Schätzung
der Knochenlänge „Standardmaße“ (MARTIN 1928;
MARTIN/SALLER 1957 bzw. MARTIN/BREUER
1988), welche kurze Teilstrecken und Breiten- bzw.
Umfangsmaße umfassen (SIMMONS ET AL. 1990;
FUNKE 2006) oder sowohl „Standardmaße“ als
auch Längenteilstrecken (SONDER/KNUSSMANN
1985) beinhalten.
In dieser Arbeit soll der Schwerpunkt auf die
drei wichtigsten zur Körperhöhenschätzung geeigneten Langknochen, d. h. Humerus Femur und
Tibia, gelegt werden. Hierbei gilt es, die Eignung
verschiedener Fragmentmaße zur Körperhöhenschätzung zu überprüfen.
Zunächst wurde bei einer kleinen Serie von
Skeletten unterschiedlicher Zeitstellung (Glokkenbecherkultur, Linienbandkeramik, Schnurkeramik, Aunjetitzer Kultur) die Körperhöhe nach
FULLY und PINEAU (1960) rekonstruiert. Bei allen
untersuchten Skeletten lagen die Skelettelemente, welche zur Körperhöhe beitragen, vollständig
vor. Damit waren alle Voraussetzungen für den
Vergleich der „anatomischen Körperhöhe“ mit
den nach anderen Methoden ermittelten Körperhöhen vorhanden (siehe Teil 1).
Anschließend wurden die Gesamtlängen nach
MARTIN (1928); MARTIN/SALLER (1957) bzw. MARTIN/BREUER (1988) gemessen (Femur M1/M2; Humerus M1; Tibia: M1a). Aus diesen Messwerten
wurde mittels linearer Regressionsgleichungen
die Körperhöhe nach verschiedenen Methoden
bestimmt (u. a. nach PEARSON 1899; TROTTER/GLESER 1952; BREITINGER 1937 und BACH 1965) (siehe
Teil 2).
Später erfolgte eine Messung verschiedener
Abschnittsmaße, wobei es sich zum einen um
Standardmaße und zum anderen um durch andere Autoren definierte Längenteilstrecken handelte.
Die Höhe der Abweichungen der mittels Abschnittsmaßen berechneten Knochenlängen von
den in Teil 2 gemessenen Knochenlängen geben
Hinweise auf die Verwendbarkeit der zur Längenmaßrekonstruktion verwendeten Abschnittsmaße (siehe Teil 3).
Mittels dieser unterschiedlichen Methoden,
welchen Skelettmaterial verschiedener Zeitstellungen und Populationen zugrunde liegt, wird bei
den von uns untersuchten Skeletten die Gesamt-
52
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
länge der Langknochen rekonstruiert. Diese berechneten Langknochenlängen dienen schließlich
als Basis für die Berechnung der Körperhöhe. Hierbei kommen wiederum verschiedene bekannte Regressionsformeln (u. a. PEARSON 1899; TELKKÄ 1950;
TROTTER/GLESER 1952) zum Einsatz (siehe Teil 4).
Als Beispiel für die oben genannte direkte
Methode sollen die Regressionsformeln für das
Femur nach SIMMONS ET AL. (1990) untersucht und
ein Vergleich der nach dieser Methode rekonstruierten Körperhöhe mit der nach der indirekten Methode berechneten Körperhöhe durchgeführt werden, da die Autoren in ihrer Arbeit gleichermaßen Regressionsformeln für die direkte als
auch für die indirekte Schätzung der Körperhöhe
aus Abschnittsmaßen angeben (siehe Teil 5).
Der Vergleich der Körperhöhen, welche wir
aus den gemessenen und berechneten Knochenlängen ermitteln konnten, mit den nach FULLY und
PINEAU (1960) rekonstruierten Körperhöhen, sind
ein anschauliches Beispiel für die Problematik des
unkritischen Einsatzes von Methoden (siehe auch
REICHELT ET AL. 2003).
Tabelle 3 zeigt alle Messpunkte für die Messung der verwendeten Abschnittsmaße an Femora, Tibiae und Humeri.
In den Abbildungen 1, 2 und 3 sind die einzelnen
Messstrecken an Humerus, Femur und Tibia eingetragen:
Grün sind die Martinmaße dargestellt (gemessen
bei Sonder und Knussmann 1988 (SK); SIMMONS ET
AL. 1990 (SI); FUNKE 2006 (FK)).
Rot sind die Abschnitte nach WRIGHT ET AL.
2003 (W) und blau die Abschnitte nach STEELE und
MCKERN 1969 (SMK) eingezeichnet. Die Maße von
JACOBS 1992 (J) entsprechen den Maßen von STEELE
und MCKERN (1969) und wurden daher nicht
extra eingetragen. Die Angaben hinter den Abkürzungen SMK/J oder W (z. B. SMK1…SMK5,
W0-5, W1-6 usw.) geben die Bezeichnungen der
Autoren für die entsprechenden Messstrecken an.
Angaben wie SMK 1-2, J 2-3-4 etc. bedeuten, dass
es sich um kombinierte Regressionsgleichungen
handelt, d. h., dass die Länge verschiedener Teilstrecken für die Berechnung der Knochenlänge
verwendet wurde.
Bei jedem der 10 Skelette wurden die berechneten Langknochenlängen von den gemessenen
Längen subtrahiert und die entsprechenden Abweichungen grafisch dargestellt. Ähnliches gilt
für die aus den berechneten Knochenlängen bestimmten Körperhöhen sowie den direkt aus den
Abschnittsmaßen rekonstruierten Körperhöhen
und deren Abweichungen von der Körperhöhe
nach FULLY und PINEAU (1960). Hier sollen aus
Platzgründen mittels Boxplots nur die gemittelten Abweichungen für die männlichen und
weiblichen Individuen dargestellt werden. Die
Boxplots geben Auskunft über Mittelwert, Standardabweichung, den minimalen und maximalen
Messwert (Spannweite), zusätzlich werden auch
Extremwerte angezeigt.
Negative Werte innerhalb der Diagramme
indizieren eine Überschätzung der gemessenen
Knochenlänge bzw. der Körperhöhe, positive
Werte eine Unterschätzung. Die Erstellung der
Diagramme erfolgte mit dem Programm SPSS
14.0 for Windows.
Material und Methoden
Für die Untersuchung standen 10 vollständig erhalten Skelette (4 männliche und 6 weibliche Individuen) aus den in Tabelle 1 aufgeführten spätneolithischen und frühbronzezeitlichen Kulturen zur
Verfügung (Altersklassen: frühadult – matur).
Zunächst erfolgte bei diesen Skeletten eine
Rekonstruktion der Körperhöhe nach der Methode von FULLY und PINEAU (1960). Hierzu werden
die Messwerte für Basion-Bregma-Höhe des Craniums (M17), Höhe des Axis (M1a), Wirbelkörperhöhen von Cervikalwirbel 2 bis Sakralwirbel 1
(M1), physiologische Femurlänge (M2), Tibialänge (M1) sowie Höhe von Talus und Calcaneus
nach anatomischer Reposition addiert und in die
von FULLY und PINEAU (1960) erstellte Gleichung
eingesetzt.
Anschließend wurden die Gesamtlängen der
Langknochen (Femur M1/M2; Humerus M1, Tibia: M1a) sowie die Teilmaße an Humerus, Femur und Tibia gemessen. Die Messung erfolgte
für die rechte und linke Körperseite getrennt, für
die weiteren Berechnungen wurde allerdings der
Mittelwert aus beiden Körperseiten verwendet.
War der Knochen einer Körperseite vorhanden,
so wird der entsprechende Messwert dieser Seite
für die Berechnungen genutzt.
53
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Abb. 3 Tibia –
Messstrecken.
Abb. 1 Humerus – Messstrecken.
Teil 2: Schätzung der Körperhöhe aus intakten
Langknochen
Humerus
Bei Anwendung verschiedener Regressionsformeln zur Schätzung der Körperhöhe aus der
Länge des Humerus (M1 oder M2) zeigt sich vor
allem für die Gleichungen von PEARSON (1899),
und DE MENDONCA (2000) eine Unterschätzung
der Körperhöhe um bis zu 10 cm, wobei die Formeln von DE MENDONCA (2000) bei Frauen besser
geeignet scheinen (geringere Spannbreite der Abweichungen). Die stärkste Unterschätzung der
Körperhöhe findet sich bei beiden Geschlechtern
bei Verwendung der Formeln von ROTHER ET AL.
(1971, 1973, 1978), hier liegen die Abweichungen
für Männer bei 5 bis 17 cm, für Frauen 2 bis 13
cm unterhalb der tatsächlichen Körperhöhe. Eine
Überschätzung der Körperhöhe um bis zu 7 cm
lässt sich bei Anwendung der Formeln für weiße
Abb. 2 Femur – Messstrecken.
Ergebnisse
Teil 1: Schätzung der „anatomischen Körperhöhe“ nach Fully und Pineau (1960)
Die entsprechenden „anatomischen Körperhöhen“ für die einzelnen Skelette sind in Tabelle 2
dargestellt, sie werden in dieser Untersuchung
wie die tatsächliche Körperhöhe der Individuen
gehandhabt und stellen die Grundlage für den
Vergleich mit den nach anderen Methoden berechneten Körperhöhen dar.
aktuell
54
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
Individuen von DUPERTUIS und HADDEN (1951) finden.
Bei männlichen Individuen scheinen die Formeln von TELKKÄ (1950) und OLIVIER ET AL. (1976)
am besten geeignet, bei Frauen nur die Formeln
von OLIVIER ET AL. (1967), da ihre mittleren Abweichungen die geringsten Unterschiede von der Körperhöhe nach FULLY und PINEAU (1960) aufweisen.
Alle anderen Formeln führen zu einer leichten
Überschätzung der Körperhöhe.
Die Ergebnisse sind in Abb. 4 und 5 grafisch
dargestellt.
sere Schätzergebnisse als die Formeln für weiße
Individuen.
Die Formeln von ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978)
führen zu einer Unterschätzung der Körperhöhe
bei beiden Geschlechtern.
Eine hohe Spannbreite der Abweichungen findet sich bei Verwendung der Formeln von BREITINGER (1937) und BACH (1965).
Für die männlichen Individuen erweisen sich
die Regressionsformeln von PEARSON (1899), TROTTER und GLESER „Blacks“ (1952) und OLIVIER ET AL.
(1976) am besten geeignet.
Bei den weiblichen Individuen liefert die Formel von PEARSON (1899) die besten Ergebnisse.
Die anderen Regressionsformeln führen im
Schnitt zu einer Überschätzung der Körperhöhe.
Die Ergebnisse sind in Abb. 8 und 9 grafisch dargestellt.
Femur
Für das Femur (M1 oder M2) zeigen bei beiden
Geschlechtern die Gleichungen von BREITINGER
(1937) und BACH (1965) eine hohe Spannbreite der
Abweichungen. Auch hier führen die Formeln von
ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978) zu einer starken
Unterschätzung der Körperhöhe, bei Männern um
bis zu 7cm, bei Frauen um bis zu 12 cm. Eine hohe
Spannbreite der Abweichungen findet sich auch
bei Anwendung der Formeln von HAUSER ET AL.
(2005) auf weibliche Femora.
Recht gute Schätzergebnisse liefern die Formeln
von TELKKÄ (1950), hier liegt bei beiden Geschlechtern der mittlere Schätzwert nah an der Körperhöhe nach FULLY und PINEAU (1960).
Auch die Formeln von OLIVIER ET AL. (1967) und
DE MENDONCA (2000) liefern akzeptable Schätzergebnisse, dies gilt vor allem für männliche Individuen.
Im Schnitt erfolgt bei Schätzung der Körperhöhe aus Femurlängen eine leichte Unterschätzung
der Körperhöhe, allerdings weniger stark als bei
Humerus und Tibia.
Die Spannbreite der Abweichungen ist bei
weiblichen Individuen höher als bei männlichen
Individuen.
Die Ergebnisse sind in Abb. 6 und 7 grafisch
dargestellt.
Teil 3: Schätzung der Knochenlänge aus
Abschnittsmaßen
Humerus
Betrachtet man die Abweichungen der geschätzten
Humeruslänge (Abb. 10 und 11) von der größten
Länge des Humerus (M1), so zeigt sich für die einzelnen Geschlechter ein unterschiedliches Bild.
Bei Anwendung der Regressionsgleichungen
von STEELE und MCKERN (1969) zeigen die Frauen
nur geringe Abweichungen von der gemessenen
Knochenlänge, während hingegen für die Männer
hohe Abweichungen mit einer hohen Spannbreite
zu beobachten sind. Die stärksten Abweichungen
bei den männlichen Individuen kommen bei Regression der Strecken Caput humeri – distalster
Punkt der Aufwulstung des Caputrandes (SMK 1)
sowie proximaler Rand Fossa olecrani – distaler
Rand Fossa olecrani (SMK 4) auf die Knochenlänge
M1 zustande. Die Regressionsformeln von WRIGHT
ET AL. (2003) führen bei den männlichen Individuen
zu einem sehr exakten Schätzergebnis für M1, die
Spannbreite der Abweichungen ist gering. Daneben finden sich bei den weiblichen Individuen wesentlich höhere Einzelabweichungen, wobei auch
hier die Spannbreite eher gering ist. Frauen zeigen
die höchste Abweichung bei der Strecke proximalster Punkt Tuberculum minus – distalster Punkt
Trochlea humeri (W0-5). Mäßige bis hohe Abweichungen von M1 sind bei Verwendung des Martinmaßes M3 (obere Epiphysenbreite) bei beiden
Geschlechtern zu beobachten.
Tibia
Bei Schätzung der Körperhöhe aus der Länge der
Tibia (M1 oder M1a) zeigt sich bei männlichen Individuen für die Formeln von TELKKÄ (1950) eine
Überschätzung der Körperhöhe um 8 bis 14 cm.
Beide Geschlechter zeigen hohe Abweichungen
bei Anwendung der Gleichungen von DUPERTUIS
und HADDEN (1951), sowie TROTTER (1970). Generell
zeigen die Formeln für schwarze Individuen bes-
55
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Die Ergebnisse für das Femur zeigen, dass insbesondere die von STEELE und MCKERN (1969)
definierten Strecken Caput femoris – Trochanter
minor (SMK 1), Trochanter minor – proximalste
Ausladung Facies poplitea (SMK 2) sowie proximalste Ausladung Facies poplitea – proximaler
Rand Fossa intercondylaris (SMK 3) und proximalster Rand Fossa intercondylaris – distalster Punkt
Condylus medialis (SMK 4) zu einer hohen Abweichung bei der Berechnung der maximalen Länge
des Femur (M1) führen. Vor allem auch die kombinierten Regressionsgleichungen, welche die Messpunkte Trochanter minor und Facies poplitea beinhalten, führen zu einer hohen Abweichung von der
Abb. 4 KHS - Humerus (Männer).
Abb. 5 KHS - Humerus (Frauen).
Abb. 6 KHS - Femur (Männer).
Abb. 7 KHS - Femur (Frauen).
Femur
aktuell
56
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
Abb. 9 KHS - Tibia (Frauen).
Abb. 8 KHS - Tibia (Männer).
Abb. 10 Abweichungen von der gemessenen Humeruslänge (M1). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Männliche Individuen.
57
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
sionsgleichungen finden, so zeigen sich zum Teil bei
beiden Geschlechtern noch höhere Abweichungen
von M1 als bei Verwendung der Längenteilstrecken
(Abb. 14). Einzig die Maße M3a (Trochanter-Condylus lateralis-Länge) und M5 (Diaphysenlänge)
und M22 (Dicke des Condylus lateralis) bei SONDER
und KNUSSMANN (1985) führen zu einer geringen Abweichung von M1. Die Berechnung von M1 mittels
der Maße M6 und M8 führt im Schnitt zu einer Überschätzung von M1; M7, M13, M18 und M25 unterschätzen die gemessene Femurlänge im Mittel.
gemessenen Femurlänge M1. Insgesamt gilt, dass
die Spannbreite der Abweichungen bei Frauen im
Schnitt höher ist als bei Männern, bei den männlichen
Individuen jedoch höhere Einzelabweichungen
von der gemessenen Knochenlänge zu finden sind.
Bei Anwendung der Regressionsformeln von
JACOBS (1992) zeigt sich ein ähnliches Bild, da dieser
die gleichen Messpunkte wie STEELE und MCKERN
(1969) verwendet und der Berechnung der Regressionsgleichungen nur anderes Skelettmaterial
(meso- und neolithische Skelette) zugrunde legt.
Auch hier sind die Abweichungen von M1 für die
oben aufgeführten Punkte beträchtlich, allerdings
ist die Spannbreite der Abweichungen nicht ganz
so hoch wie bei STEELE und MCKERN (1969).
Die geringsten Abweichungen von der gemessenen Femurlänge M1 können mittels der Regressionsformeln von WRIGHT ET AL. (2003) erreicht werden.
Dies gilt gleichermaßen für beide Geschlechter.
Betrachtet man die untersuchten Maße nach
MARTIN (1928), welche bei FUNKE (2006) sowie SIMMONS ET AL. (1990) und SONDER und KNUSSMANN (1985)
(ausschließlich Männer) Eingang in die Regres-
Tibia
Für die Tibia gilt zu sagen, dass bei den weiblichen Individuen generell geringere Abweichungen von der gemessenen ganzen Länge der Tibia
(M1) zu finden sind als bei männlichen (Abb. 15
und 16). Bei den weiblichen Individuen zeigt sich
ein Trend zur Unterschätzung der Tibialänge, während sich Über- und Unterschätzung bei männlichen Individuen die Waage halten. Einzige Aus-
Abb. 11 Abweichungen von der gemessenen Humeruslänge (M1). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Weibliche Individuen.
aktuell
58
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
nahme bildet der Abschnitt proximalster Punkt Tuberositas tibiae – Punkt Linienzusammenfluss ausgehend vom Unterende der Tuberositas (SMK 2)
bei den Frauen. Hier zeigt sich eine starke Überschätzung der Tibialänge M1 um zum Teil mehr
als 7 cm.
Die Anwendung der Formeln von STEELE und
MCKERN (1969) führen bei weiblichen Individuen
zu geringeren Abweichungen von der gemessenen
Knochenlänge als bei Männern.
Hierbei führen kombinierte Formeln aus drei
oder vier Segmenten zu recht guten Ergebnissen
(SMK 10 – 14).
Grundsätzlich scheinen sich die Regressionsgleichungen von STEELE und MCKERN (1969) etwas
besser zur Schätzung der Knochenlänge M1 zu eigenen als die Formeln von JACOBS (1992).
Ähnlich wie bei Femur und Humerus sind die
geringsten Abweichungen von der gemessenen Tibialänge (sowohl für Männer als auch für Frauen)
bei Berechnung von M1 mittels der Formeln von
WRIGHT ET AL. (2003) zu finden.
Allgemein lässt sich erkennen, dass die Schätzung der Knochenlänge aus Tibiafragmenten mit
die höchsten Abweichungen von der gemessenen
Knochenlänge produzieren (im Schnitt bis zu 3 bis
4 cm, im Extremfall sogar über 7 cm). Im Gegensatz dazu scheint der Humerus am besten zur Knochenlängenschätzung geeignet, hier finden sich die
geringsten absoluten Abweichungen sowie die geringste Spannweite der Abweichungen (maximale
Abweichungen im Bereich von 2,5 bis 3 cm).
Teil 4: Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Knochenlängen
Zur Berechnung der Körperhöhe konnten nur die
Formeln der Autoren verwendet werden, welche
die Körperhöhe aus dem Maß M1 (maximale Länge des Femur, größte Länge des Humerus, ganze
Länge der Tibia) Langknochen bestimmen, da nur
dieses Maß aus den einzelnen Abschnitten rekonstruiert wurde, so dass nicht ganz so viele Regres-
Abb. 12 Abweichungen von der gemessenen Femurlänge (M1). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Männliche Individuen.
59
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
sionsformeln wie bei Schätzung der Körperhöhe
aus intakten Langknochen zum Einsatz kamen.
Betrachtet man die Ergebnisse, die man bei der
Schätzung der Körperhöhe aus den berechneten
Knochenlängen erhält (Abb. 17-22), so zeigt sich
Abb. 13 Abweichungen von der gemessenen Femurlänge (M1). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Weibliche Individuen.
Abb. 14 Abweichungen von der gemessenen Femurlänge (M1). Regression von Martinmaßen auf die Knochenlängen
basierend auf den Regressionsformeln verschiedener Autoren.
aktuell
60
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
kein grundlegender Unterschied zwischen den
einzelnen Knochen, alle scheinen gleich gut zur
Schätzung der Körperhöhe geeignet.
Die Abweichungen von der Körperhöhe nach
FULLY und PINEAU (1960) liegen im Schnitt bei maximal +/- 10 cm.
Abb. 15 Abweichungen von der gemessenen Tibialänge (M1a). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Männliche Individuen.
Abb. 16 Abweichungen von der gemessenen Tibialänge (M1a). Regression der Segmentlängen auf die Knochenlängen
nach den Regressionsformeln verschiedener Autoren. Weibliche Individuen.
61
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Geschlechtern gleichermaßen zu einer starken Unterschätzung der Körperhöhe von ca. 5 bis 12 cm.
Die Formeln von BREITINGER (1937) und BACH (1965)
führen zu einer Überschätzung der Körperhöhe bei den Individuen der von uns untersuchten
Stichprobe.
Bei Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Femurlängen erweisen sich die Regressions-
Abb. 17 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten
Humeruslängen (M1) basierend auf den Regressionsgleichungen verschiedener Autoren. Männliche Skelette.
Abb. 18 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten
Humeruslängen (M1) basierend auf den Regressionsgleichungen verschiedener Autoren. Weibliche Skelette.
Abb. 19 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Femurlängen (M1) basierend auf den Regressionsgleichungen
verschiedener Autoren. Männliche Skelette.
Abb. 20 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Femurlängen (M1) basierend auf den Regressionsgleichungen
verschiedener Autoren. Weibliche Skelette.
So führen die Regressionsformeln von ROTHER ET
AL. (1971, 1973, 1978) bei allen Knochen und beiden
aktuell
62
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
Abb. 21 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Tibialängen (M1a) basierend auf den Regressionsgleichungen verschiedener Autoren. Männliche Skelette.
Abb. 22 Schätzung der Körperhöhe aus berechneten Tibialängen (M1a) basierend auf den Regressionsgleichungen verschiedener Autoren. Weibliche Skelette.
formeln von PEARSON (1899), TROTTER und GLESER
„Blacks“ (1952) sowie DE MENDONCA (2000) als gut
geeignet, hier liegen die geschätzten mittleren Körperhöhen nahe an der Körperhöhe nach FULLY und
PINEAU (1960). Für die Tibia liefern ebenfalls die
Formeln von PEARSON (1899), aber auch die Regressionsgleichungen von GENOVÉS (1967), welche hier
zusätzlich verwendet wurden, gute Ergebnisse in
Hinblick auf die Schätzung der Körperhöhe. Die
Regressionsformeln von TROTTER und GLESER (1952)
sowie TROTTER (1970) führen bei Schätzung der
Körperhöhe aus berechneten Humeruslängen zu
den besten Ergebnissen (mittlere Abweichung von
etwa 1 bis 3 cm).
Die Ergebnisse für die direkte Schätzung der
Körperhöhe aus den Maßen M13, M18 und M25
(nach SIMMONS ET AL. 1990) lassen kaum Unterschiede zu den Ergebnissen bei indirekter Körperhöhenberechnung erkennen. Die mittlere
Abweichung von der Körperhöhe nach FULLY
und PINEAU (1960) liegt bei direkter Schätzung
der Körperhöhe aus den Abschnittsmaßen etwas
niedriger als bei indirekter Körperhöhenschätzung, allerdings lässt sich bei direkter Schätzung
eine höhere Spannbreite der Abweichungen erkennen (siehe Abb. 23).
Diskussion
Teil 5: Direkte Schätzung der Körperhöhe aus
Abschnittsmaßen am Beispiel des Femur und
Vergleich mit den Ergebnissen bei indirekter
Körperhöhenschätzung aus diesen Maßen
Generell kann man feststellen, dass es schwierig ist, geeignete Regressionsformeln für (prä-)
historisches Skelettmaterial zu finden. Die meisten der aktuellen Regressionsformeln basieren
auf Skelettserien, welche eine mehr oder weniger
starke Beeinflussung durch die säkulare Akzeleration zeigen. Es ist unklar, inwieweit Akzelerationsprozesse auch in prähistorischen oder historischen Zeiten gewirkt haben können. Es steht
außer Frage, dass die rezenten Individuen eine
wesentlich höhere durchschnittliche Körperhöhe aufweisen als die Individuen im Neolithikum
und der Bronzezeit. Möglicherweise bestehen
SIMMONS et al. (1990) erstellten Regressionsformeln
am Femur, um zum einen mittels der Maße M13,
M18 und M25 die Körperhöhe direkt zu bestimmen, geben aber zum anderen auch Regressionsgleichungen an, mit denen aus diesen Maßen
zunächst die maximale Länge des Femur (M1)
bestimmt werden kann, um darauf folgend aus
dieser berechneten Knochenlänge die Körperhöhe zu berechnen.
63
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Abb. 23 Vergleich der Abweichungen bei direkter Schätzung der Körperhöhe und indirekter Schätzung der Körperhöhe
aus den Maßen M13, M18 und M25 nach den Regressionsgleichungen von SIMMONS ET AL. (1990).
zwischen (prä)historischem und rezentem Material auch Proportionsunterschiede innerhalb der
einzelnen Körperabschnitte (z. B. unterschiedliches Verhältnis von Rumpflänge zu Extremitätenlänge) und Unterschiede in dem prozentualen
Anteil, welchen die einzelnen Langknochen zur
Gesamtkörperhöhe beitragen. Diese Einflüsse erschweren die Körperhöhenschätzung bei
(prä)historischem Skelettmaterial und erfordern
eine kritische Betrachtung der Ergebnisse.
rückführen, dass er keinen Beitrag zur Körperhöhe leistet und von Veränderungen der Körperhöhe
im Laufe der Zeit am wenigsten beeinflusst bleibt.
Dennoch kann er zur Körperhöhenschätzung verwendet werden, allerdings sollte die Schätzung
der Körperhöhe aus Femur- und Tibialängen der
Schätzung der Körperhöhe aus Humeruslängen
vorgezogen werden.
Femur und Tibia scheinen gleich gut zur Körperhöhenschätzung geeignet.
Generell ist eine Tendenz zur Überschätzung
der Körperhöhe zu erkennen, am geringsten ist
diese Tendenz bei Rekonstruktion der Körperhöhe aus Femurlängen ausgeprägt. Begründen
lässt sich die durchschnittliche Überschätzung
der Körperhöhe möglicherweise damit, dass die
zur Berechnung der Körperhöhe aus intakten
Langknochen verwendeten Regressionsformeln
weitestgehend an rezentem Material erstellt wurden. Dieses zeigt in den meisten Fällen bereits
eine Beeinflussung durch die säkulare Akzeleration und besitzt somit eine höhere durchschnittliche Körperhöhe als das von uns untersuchte
(prä)historische Skelettmaterial.
Vor allem bei der für die Körperhöhenrekonstuktion aus Tibialängen erzielen die Gleichungen von PEARSON (1899) gute Schätzergebnisse.
Das von PEARSON (1899) untersuchte Material ist
von säkularen Veränderungen noch wenig beeinflusst, und da die vowiegend säkularen Skelettveränderungen laut Angaben einiger Autoren (...)
an den distalen Knochen der unteren Extremität
vonstatten gehen, scheinen die Formeln von Pearson für unser Material im Hinblick auf die Tibia
als besonders geeignet. Auch die Formeln von
zu Teil 1:
Mittels der Methode nach FULLY und PINEAU (1960)
kann die tatsächliche Körperhöhe mit einer Genauigkeit von ± 2,05 cm bestimmt werden. Die berechnete Körperhöhe stellt somit nur Annäherung
an die wirkliche Körperhöhe des Individuums
dar, allerdings kann mit Hilfe der „anatomischen
Methode“ die Körperhöhe exakter geschätzt werden als mit mathematischen Methoden. Vor allem
für prähistorisches und historisches Material stellt
die „anatomische Methode“ die einzige Möglichkeit dar, mit welcher eine Körperhöhe berechnet
werden kann, die als Bezugsgröße für Vergleiche
mit anderen Körperhöhenschätzmethoden zu gebrauchen ist.
zu Teil 2:
Bei Schätzung der Körperhöhe aus intakten Langknochen erweist sich der Humerus als der Knochen mit den höchsten Einzelabweichungen von
der Körperhöhe. Die weniger gute Eignung des
Humerus lässt sich unter Umständen darauf zu-
aktuell
64
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
TELKKÄ (1950) liegen mit ihren Schätzergebnissen
im Bereich der Körperhöhe nach FULLY und PINEAU (1960), die einzige Ausnahme lässt sich bei
den männlichen Tibiae erkennen.
Bei allen drei Langknochen führen die Regressionsgleichungen von ROTHER ET AL. (1971, 1973,
1978) zu einer starken Unterschätzung der Körperhöhe, was bereits von RÖSING (1988) kritisiert
wurde.
Skelett
Zeitstellung
Auch BREITINGER (1937) und BACH (1965) erweisen sich in unserer Untersuchung als ungeeignet,
was möglicherweise damit zusammenhängt, dass
die von ihnen untersuchte Stichprobe sich zu
stark von unserer unterscheidet.
zu Teil 3:
Die Regressionsgleichungen nach SONDER und
KNUSSMANN (1988) wurden in der Auswertung der
Geschlecht
Körperhöhe
FULLY & PINEAU (1960)
[cm]
Femur
Tibia
(M1)
(M1a)
(M1)
01
152,8
415,5
346,0
298,5
Sk-Nr.
Humerus
01
Schnurkeramik
weiblich
02
Schnurkeramik
weiblich
02
160,9
415,0
334,0
305,5
03
Schnurkeramik
weiblich
03
160,7
436,0
371,5
317,0
04
179,5
500,0
423,0
359,0
05
159,9
446,5
349,0
305,0
04
Schnurkeramik
männlich
05
Glockenbecherkultur
weiblich
06
164,1
439,0
364,0
296,0
männlich
07
165,6
449,0
358,5
320,0
08
162,2
437,0
350,0
308,5
09
158,8
434,0
361,0
309,5
10
152,3
410,0
331,0
296,0
06
Glockenbecherkultur
07
Bandkeramik
männlich
08
Bandkeramik
männlich
09
Aunjetitzerkultur
weiblich
10
Aunjetitzerkultur
weiblich
Tab. 2 Anatomische Körperhöhen und gemessene
Knochenlängen.
Tab. 1 Übersicht Skelettmaterial.
Humerus
Autor
Maß/
Abschnittsbezeichnung
Männer
mittlere
Abschnittslänge
[mm]
Tab. 3 Mittlere
Abschnittslängen
Humerus.
Frauen
sd
mittlere
Abschnittslänge
sd
[mm]
[mm]
[mm]
MARTIN & SALLER (1957)
M3
49,5
2,9
41,0
2,8
STEELE &
SMK/J1
43,4
2,9
41,0
2,8
MC KERN (1969)/
SMK/J2
54,0
11,6
58,6
4,1
JACOBS (1992)
SMK/J3
185,3
19,6
166,9
16,6
6,2
WRIGHT et al. (2003)
SMK/J4
17,6
2,2
SMK/J5
20,9
2,8
21,3
3,8
1,6
W 0-5
282,8
32,9
267,4
8,5
W 0-6
300,3
33,4
285,2
8,0
W 1-5
277,0
32,6
262,3
7,3
W 1-6
296,0
32,9
280,4
7,3
W 1-7
313,3
33,4
298,2
7,6
W 2-5
269,2
30,1
257,0
8,2
W 2-6
287,2
30,7
275,6
8,1
W 2-7
305,8
29,9
290,2
7,1
W 3-5
237,7
29,6
227,1
10,3
W 3-6
254,7
32,5
244,5
8,6
W3-7
273,7
32,4
258,2
13,1
sd = Standardabweichung
65
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
Ergebnisse nach reiflicher Überlegung weggelassen, da sie nur auf männliche Individuen anwendbar sind, in dieser Studie aber sowohl männliche
als auch weibliche Individuen untersucht wurden.
Für das Humerus sind die Strecken SMK 1
und SMK 4 zur Schätzung der Knochenlänge ungeeignet. Bei SMK 1 bestand das Problem der Identifizierbarkeit des distalsten Punktes der Aufwulstung des Caputrandes, daneben ist diese Messstrecke recht kurz und nicht schaftübergreifend.
Die Messpunkte der Strecke SMK 4 lassen sich
zwar leicht identifizieren (proximaler und distaler
Rand der Fossa olecrani), stellen aber nur ein extrem kurzes Segement des Humerus dar und sind
daher zur Knochenlängenschätzung ungeeignet.
Die hohen Abweichungen für den Punkt SMK 2
bei den Frauen kommen durch die schwere Identifizierbarkeit des Punktes des Linienzusammenflusses ausgehend vom Unterende der Tuberositas
tibiae zustande. Dieser Messpunkt charakterisiert
den Übergang der Linien in die Margo anterior
der Tibia. Aufgrund der geringeren Robustizität
der weiblichen Knochen sind diese Linien schwieriger zu identifizieren. Auch bei den männlichen
Individuen zeigt sich bei der Schätzung der Knochenlänge aus diesem Segment eine erhöhte Abweichung, diese ist allerdings nicht ganz so hoch
wie bei den weiblichen Individuen.
Tab. 4 Mittlere
Abschnittslängen
Femur.
Betrachtet man die einzelnen Teilstrecken am
Femur, so zeigt sich, dass die Stelle der proximalsten Ausladung der Facies poplitea, welche durch
den Zusammenfluss der Linea supracondylaris
medialis und lateralis zur Linea aspera (Parallelwerden beider Linien) definiert wird, nur sehr
schwer zu identifizieren ist. Je nach Grad der Muskularisierung ist die Linea aspera am Knochen
mehr oder weniger stark ausgeprägt, so dass bei
einigen weniger robusten Knochen dieser Punkt
schwer abzugrenzen war (siehe auch WRIGHT ET
AL. 2003 und JACOBS 1992). Die Stelle, an welcher
Linea supracondylaris medialis und lateralis parallel werden, hängt sehr stark von subjektiven
Empfinden ab und variiert je nach Betrachter.
Auch Regressionsgleichungen, welche den Mittelpunkt des Trochanter minor als Segmentgrenze beinhalten, führen zu hohen Abweichungen
von der tatsächlichen Femurlänge, obwohl dieser
Punkt am Knochen weniger schwierig zu identifizieren ist und auch die Messung ohne Probleme
durchgeführt werden kann.
Die geringeren Spannbreiten der Abweichungen bei JACOBS (1992), welcher die gleichen
Messstrecken verwendet wie STEELE und MCKERN
(1969), lassen sich möglicherweise dadurch begründen, dass den Kalkulationen von JACOBS
(1992) meso- und neolithisches Skelettmaterial
zugrunde liegt und dieses im Gegensatz zu den
Femur
Autor
Männer
Maß/
Abschnittsbezeichnung
MARTIN & SALLER (1957)
aktuell
Frauen
mittlere
Abschnittslänge
sd
mittlere
Abschnittslänge
sd
[mm]
[mm]
[mm]
[mm]
M3a
415,5
6,7
407,3
15,7
M6
29,4
2,3
26,4
2,5
M8
87,6
5,5
82,1
4,9
M5
351,0
2,5
338,3
13,6
M7
26,6
1,9
26,3
1,2
M13
94,5
6,3
88,1
6,1
M18
45,3
0,9
43,0
1,9
M21
76,3
3,4
--
--
M22
59,2
1,8
56,9
1,8
M25
35,9
2,0
34,8
1,7
STEELE und
SMK/J1
75,1
3,3
71,8
5,1
MC KERN (1969)/
SMK/J2
179,2
12,6
182,9
16,0
JACOBS (1992)
SMK/J3
144,8
13,8
135,8
11,4
SMK/J4
38,4
2,5
35,9
1,2
66
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
Tibia
Autor
Maß/
Abschnittsbezeichnung
Tab. 5 Mittlere Abschnittslängen Tibia.
Männer
Frauen
mittlere
Abschnittslänge
sd
mittlere
Abschnittslänge
sd
[mm]
[mm]
[mm]
[mm]
STEELE und
SMK/J1
21,5
5,7
19,3
1,8
MC KERN (1969)/
SMK/J2
65,6
17,1
63,1
5,1
JACOBS (1992)
SMK/J3
165,3
20,9
153,5
17,5
SMK/J4
103,9
14,5
94,5
5,3
WRIGHT et al. (2003)
SMK/J5
17,1
1,8
15,8
1,3
W 0-6
353,6
30,6
328,3
15,4
W 1-6
336,3
30,6
312,9
15,5
W 1-7
357,0
33,5
331,1
15,2
sd = Standardabweichung
Es lässt sich feststellen, dass es an der Tibia die
größten Schwierigkeiten bei der Identifikation der
Segmente gab. Sowohl der Punkt des Linienzusammenflusses ausgehend vom Unterende der Tuberositas tibiae als auch der Überkreuzungspunkt
der Margo anterior über die zentrale Tibiaachse
lassen sich nur schwer klar abgrenzen, womit sich
auch die hohen Abweichungen bei Anwendung
dieser Formeln begründen lassen. Die geringsten
Probleme bei der Identifikation der Messpunkte
gab es am Humerus, daher führen diese Regressionsgleichungen auch zu den geringsten Abweichungen von der gemessenen Knochenlänge.
rezenten Skeletten bei STEELE und MCKERN (1969)
eine geeignetere Referenzstichprobe für das von
uns untersuchte Skelettmaterial darstellt.
WRIGHT ET AL. (2003) erstellten ihre Regressionsgleichungen anhand von Maya-Skeletten,
welche eine geringe durchschnittliche Körperhöhe aufweisen. Da auch das von uns untersuchte
Skelettmaterial eine ähnlich geringe Körperhöhe
und ähnliche Proportionen besitzt, erweisen sich
diese Regressionsgleichungen aus genanntem
Grund möglicherweise als besonders geeignet.
Betrachtet man die Schätzergebnisse für die
Körperhöhe bei Verwendung der Maße nach
MARTIN (1928), so zeigen nur zwei Messstrecken
eine gute Korrelation mit der Knochenlänge, was
mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Diaphysenübergreifende Länge dieser Messstrecken zurückzuführen ist. Von den horizontalen Martinmaßen
eignet sich nur Maß 22 zur Bestimmung der Körperhöhe. Die anderen Horizontalmaße spiegeln in
erster Linie nur Robustizitätsverhältnisse (Durchmesser/Umfang des Knochens) wider und stehen
nicht im direkten Zusammenhang mit der Knochenlänge, auch wenn Individuen mit robusten
Knochen oftmals auch längerer Knochen und eine
größere Gesamtkörperhöhe besitzen. Viele Autoren geben an, dass Maß M13 für die Schätzung der
Körperhöhe gut geeignet ist, was in unserer Untersuchung nicht bestätigt werden konnte. Bedingt
durch die hohe Variabilität des Corpus-CollumWinkels variiert auch die Länge dieser Messstrecke
sehr stark und scheint zur Körperhöhenschätzung
nur wenig geeignet. Der einzige Vorteil, welchen
die Martinmaße gegenüber den Längenteilstrekken anderer Autoren besitzen, ist ihre problemlose
Identifizierbarkeit und die Reproduzierbarkeit der
Messungen am Knochen.
zu Teil 4:
Bei Schätzung der Körperhöhe aus den berechneten Knochenlängen spielt es anscheinend nur eine
untergeordnete Rolle, ob die Abweichung von der
gemessenen Knochenlänge hoch oder niedrig ist.
Es spiegelt sich bei allen Knochen ein ähnlicher
Trend wider, der auch schon bei Schätzung der
Körperhöhe aus den gemessenen Knochenlängen
(Teil 1) gezeigt werden konnte. Bestimmte Regressionsgleichungen scheinen für das von uns untersuchte Material ungeeignet, weitestgehend unabhängig davon, mit welchem der drei Knochen die
Regression auf die Körperhöhe durchgeführt wird.
Hierbei liegen die Abweichungen, welche man bei
Berechnung der Körperhöhe aus intakten Langknochenlängen erhält, nur geringfügig unter den
Abweichungen, die bei Schätzung der Körperhöhe
aus berechneten Langknochenlängen erzielt wurden. Wie schon von anderen Autoren bestätigt
(z. B. RÖSING 1988), eigenen sich die Regressionsformeln von ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978) nicht
zur Schätzung der Körperhöhe, da sie genau wie
67
aktuell
Katrin Schmidt, Ronny Bindl und Horst Bruchhaus
bei Schätzung der Körperhöhe aus den gemessenen Knochenlängen einen starken Trend zur Unterschätzung dieser aufweisen. Auch BREITINGER
(1937) und BACH (1965) erweisen sich in unserer
Untersuchung als ungeeignet, wie auch bereits
bei Schätzung aus den gemessenen Längen gezeigt wurde. Gut geeignet scheinen die Formeln
von PEARSON (1899), TELKKÄ (1950) sowie TROTTER
und GLESER (1952, 1958).
Schlussfolgerungen
Letzten Endes lässt sich sagen, dass die von uns
erzielten Ergebnisse einen deutlichen Trend bezüglich der Eignung bestimmter Methoden erkennen lässt. Man sollte sich jedoch immer vor
Augen halten, dass die Ergebnisse bei Anwendung der Methoden auf Skelettmaterial anderer
Zeithorizonte oder zwischen Populationen gleicher Zeitstellung variieren können.
Es kann die Aussage getroffen werden, dass
auch aus Knochenfragmenten eine halbwegs
annehmbare Schätzung der Körperhöhe möglich ist. Allerdings sollte man darauf achten, die
Knochenlänge zunächst nur mittels Segmenten
zu bestimmen, welche ausreichend lang und gut
zu identifizieren sind und welche gut mit der Gesamtlänge des entsprechenden Knochens korrelieren. Diese Segmente sollte man anschließend
verwenden, um die Knochenlänge mit der für die
untersuchte Stichprobe am besten geeigneten Regressionsformeln (in unserem Fall die von WRIGHT
ET AL. 2003) zu rekonstruieren. Zur Schätzung der
Körperhöhe sollten die Regressionsformeln verwendet werden, welche für die Stichprobe die besten Ergebnisse liefern. Da sich die Formeln nach
ROTHER ET AL. (1971, 1973, 1978) sowie BREITINGER
(1937) und BACH (1965) für die hier untersuchten
Skelette als ungeeignet erwiesen, sollte man vor
ihrer Anwendung überprüfen, ob sie für das zu
untersuchende Material brauchbare Schätzergebnisse liefern oder ihnen die Anwendung anderer
Formeln vorzuziehen ist.
Für weitere Untersuchungen wäre es sinnvoll,
eine größere und folglich statistisch repräsentative Skelettserie einer bestimmten Population
zusammenzustellen, für die eine Schätzung der
Körperhöhe nach der Methode von FULLY und
PINEAU (1960) vorgenommen werden kann. Alle
zu untersuchenden Skelette dieser Population
sollten möglichst geschlechtsbestimmt sein, weiterhin sollte eine Einteilung entsprechend der
anthropologischen Altersklassen bekannt sein.
Diese Skelettserie sollte genügend Individuen
von verschiedenen Körperhöhengruppierungen
(groß–klein) sowie von verschiedenen Altersklassen enthalten, um eine differenziertere Untersuchung der einzelnen Methoden bezogen auf unterschiedlich große/kleine sowie unterschiedlich
alte Individuen durchführen zu können.
zu Teil 5:
Vergleicht man die Ergebnisse, welche man bei
Schätzung der Körperhöhe aus den berechneten
Femurlängen erhält (indirekte Methode), von den
Ergebnissen, die man bei direkter Schätzung der
Körperhöhe aus den gleichen Femurabschnitten
erhält (beides nach der Methode von SIMMONS ET
AL. 1990), so erweist sich die indirekte Methode
aufgrund der geringeren Spannbreite der Abweichungen in Bezug auf das untersuchte Material
als besser geeignet.
Begründen lässt sich dies unter Umständen damit, dass die untersuchten Strecken sehr kurz
sind und ausschließlich Horizontalmaße darstellen. Diese leisten keinen wesentlichen Beitrag zur
Körperhöhe und korrelieren folglich nur sehr wenig mit ihr. Die Korrelation der Horizontalmaße
mit der Knochenlänge ist dagegen um einiges höher, so dass es angebracht erscheint, zunächst die
Knochenlänge aus diesen Maßen zu berechnen
und anschließend aus der berechneten Knochenlänge die Körperhöhe zu schätzen.
Möglicherweise lässt sich bei direkter Schätzung der Körperhöhe aus Längenteilstrecken,
welche Diaphysen übergreifend sind, ein besseres
Ergebnis erzielen als es für die indirekte Schätzmethode der Fall ist. Allerdings wurde dies hier
nicht untersucht.
aktuell
68
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
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Katrin Schmidt
Ronny Bindl
Dr. Horst Bruchhaus
Institut für Humangenetik und Anthropologie
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Kollegiengasse 10
07740 Jena
[email protected]
[email protected]
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169-244.
69
aktuell
Inhaltsverzeichnis / Table of contents
WINFRIED HENKE
Paläoanthropologie - Standortbestimmung einer innovativen Disziplin
..............................1
RONNY BINDL, RAINER NITSCHE und HORST BRUCHHAUS
Altersschätzung von Skelettmaterial - Untersuchungen zur Obliteration der
Nähte des Schädels
......................................................................................25
JÖRG ORSCHIEDT
Virtuelle Rekonstruktion und stereolithographisches Modell eines
jungneolithischen Schädelfundes aus der Blätterhöhle in Hagen, NRW
.............................35
CLAUDIA GERLING und MICHAEL FRANCKEN
Das linearbandkeramische Gräberfeld von Schwetzingen
............................................43
KATRIN SCHMIDT, RONNY BINDL und HORST BRUCHHAUS
Körperhöhenschätzung an ausgewählten neolithischen und bronzezeitlichen Skeletten
...........51
BIRGIT GROSSKOPF und ALEXANDER GRAMSCH
Leichenbrand erzählt vom Umgang mit den Toten - Die interdisziplinäre Rekonstruktion
ritueller Handlungen am Beispiel eines Urnengräberfelds der Lausitzer Kultur
....................71
FABIAN LINK
Gesichtsrekonstruktionen von drei alamannischen Individuen aus dem Gräberfeld
Basel-Gotterbarmweg (5./6. Jh. n. Chr.)
.................................................................81
SIMONE KAHLOW
Die Pest als Interpretationsproblem mittelalterlicher und frühneuzeitlicher
Massengräber
............................................................................................97
Absender/Expéditeur:
Historische Anthropologie
Institut für Medizingeschichte
Universität Bern
Fabrikstrasse 29d
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