Fortbildung Störungen der Hirnleistungen Das Konzept der subkortikalen Demenz Die Differenzialdiagnose der subkortikalen Demenz folgt im Ansatz dem Konzept für den kortikalen Typ, stellt diesem aber die Störungen von Basisfunktionen höherer Hirnleistungen und deren mittelbare Auswirkungen auf „Hirnwerkzeuge“ gegenüber. CLAUS-W. WALLESCH D ie klinische Definition der konstituierenden Symptome des Syndroms der Demenz über die Phänomenologie der Alzheimer-Demenz durch ICD und DSM hat die syndromatische Zuordnung anderer zu Demenz führender degenerativer und nicht-degenerativer Erkrankungen erschwert (Tabelle 1). So ist das im DSM IV zwingend erforderliche Symptom einer Gedächtnisstörung für die Alzheimer-Demenz charakteristisch, es steht bei frontotemporalen Demenzen oder der Demenz mit Lewy-Körperchen jedoch häufig nicht im Vordergrund. Dies gilt insbesondere für frühe Stadien dieser Erkrankungen, in denen alltagsrelevante Defizite nicht das Gedächtnis, sondern andere kognitive Funktionen betreffen. So konnten Shinagawa et al. [6] zeigen, dass bereits drei Jahre vor Diagnosestellung 41% der späteren Patienten mit frontotemporaler Demenz Veränderungen im Sozialverhal- Demenzkriterien [DSM IV] Tabelle 1 Psychomotorische Verlangsamung gilt als ein Charakteristikum für eine subkortikale Demenz. phasie —A A — praxie gnosie —A ysexekutives Syndrom —D NeuroTransmitter 11 · 2011 © Klaus Rose Die kognitiven Defizite verursachen eine signifikante Beeinträchtigung der sozialen und beruflichen Funktionen und stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau dar. Sie treten nicht im Rahmen einer rasch einsetzenden Bewusstseinstrübung oder eines Delirs auf. Zur Beeinträchtigung des Gedächtnisses muss noch mindestens eine der folgenden Störungen hinzutreten: 43 Fortbildung Störungen der Hirnleistungen Erkrankungen, bei denen eine Demenz vom subkortikalen Typ auftreten kann (unvollständige Liste) Tabelle 2 Extrapyramidale Erkrankungen Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom Morbus Parkinson Chorea Huntington Morbus Wilson Subkortikale vaskuläre Schädigung Subkortikale arteriopathische Enzephalopathie CADASIL Vaskulitiden und Kollagenosen Raumforderungen Normaldruckhydrocephalus Aquäduktstenose (wegen Kompression des periaquäduktalen Graus gelegentlich sehr eindrucksvolle Symptomatik) Chronisches SDH Langsam wachsender Tumor Chronisch entzündliche Erkrankungen Sarkoidose M. Whipple Multiple Sklerose HIV-Encephalopathie Intoxikationen Postakute und chronische Intoxikationen (z. B. Schwermetalle, CO, Alkoholdemenz, Psychopharmaka) Metabolische Störungen Chronische metabolische Störungen (kardiopulmonale, renale, hepatische Insuffizienz) Hypothyreose Hypophyseninsuffizienz Rezidivierende Hypoglykämien Zerebrale Speicherkrankheiten (z.B. Leukodystrophien) Weitere Erkrankungen Z. n. Schädel-Hirntrauma Z. n. (tiefen) Massenblutungen Leukencephalopathie nach Bestrahlung und Chemotherapie Depression ten, 59 % mit semantischer Demenz sprachliche Auffälligkeiten und 62% der später mit Morbus Alzheimer diagnostizierten Gedächtnisdefizite aufwiesen – ein starker Hinweis auf die Bedeutung der Anamnese in der Differenzialdiagnostik der degenerativen Demenzen. Störung höherer „kortikaler“ Funktionen ... Nach ICD 10 ist Demenz ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer „kortikaler“ Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Hier wird Demenz als 44 Störung mutmaßlich kortikaler Funktionen definiert. Ohne hier diskutieren zu wollen, welche Funktionen im Gehirn kortikal oder subkortikal repräsentiert sind, ist festzustellen, dass die ICD Leistungen auflistet, die im Rahmen umschriebener Hirnverletzungen weitgehend isoliert gestört sein können („Hirnwerkzeugstörungen“). Die Demenz stellt sich im ICD als Syndrom aus multiplen Teilleistungsstörungen dar. .. oder von Basisfunktionen und deren mittelbare Auswirkungen? Das Konzept der subkortikalen Demenz folgt diesem Ansatz für die „kortikalen Demenzen“, stellt diesen aber die Auswirkungen von Störungen von Basis funktionen höherer Hirnleistungen gegenüber. Störungen von Aufmerksamkeitsfunktionen, Antrieb und psychomotorischer Geschwindigkeit beeinträchtigen kognitive Prozesse generell und haben so mittelbare Auswirkungen auf die genannten „Hirnwerkzeuge“ Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen. Sie treten besonders häufig bei symptomatischen Demenzen infolge chronischer metabolischer und nutritiver Störungen, intrakranieller Raumforderungen oder entzündlicher Prozesse wie bei Multipler Sklerose auf und sind häufiger als degenerative Demenzen mit EEG-Veränderungen verbunden. Für die Planung der Diagnostik werten Wallesch und Förstl [7] die Verlangsamung und Antriebsstörung wie ein neurologisches Herdzeichen, das erweiterte bildgebende und Labordiagnostik nach sich ziehen müsse (zur Labordiagnostik vgl. Lang [5]). Verhaltensneurologischer Algorithmus Die Gegenüberstellung von „kortikalen“ und „subkortikalen“ Demenzsyndromen durch Albert et al. [1] war und ist für die verhaltensneurologische klinische Diagnostik somit von erheblicher Bedeutung. Zu einer Zeit, in der die zerebrale Bildgebung gerade einmal in den Kinderschuhen steckte, gab sie einen Algorithmus vor, mit dem potenziell behandelbare Demenzen erfasst und von der zahlenmäßig dominierenden Alzheimer-Demenz abgegrenzt werden konnten. Andere Autoren haben später als dritten phänomenologischen Typus die „frontale“ Demenz hinzugefügt, der sich aber – vor allem wegen der geringeren klinischen Bedeutung – nicht in dem Umfang durchgesetzt hat, wie der Terminus „subkortikale Demenz“. Wegen der engen physiologischen Beziehungen zwischen Basalganglien und Frontalhirn ist die phänomenologische Unterscheidung der subkortikalen von der frontalen Demenz schwierig (z. B. Verlangsamung und Antriebsstörung als subkortikale versus Abulie und Mutismus als frontale Symptome [3]). Albert et al. beschrieben 1974 die neuropsychologische Symptomatik von 56 Fällen mit progressiver supranukleärer Parese (Steele-Richardson-OlszewskiSyndrom). Alle fünf eigenen Fälle und NeuroTransmitter 11 · 2011 Störungen der Hirnleistungen weitere 51 aus der Literatur wiesen psychomotorische Verlangsamung auf. Im Folgenden werden Kernaussagen dieser Arbeitsgruppe vorgestellt [1]. Es zeigt sich, dass das Konzept hinsichtlich der konstituierenden Symptome reduziert, hinsichtlich der zugrunde liegenden Erkrankungen jedoch ausgeweitet wurde: “Progressive supranuclear palsy (Steele et al.) has a characteristic pattern of dementia: (1) forgetfulness, (2) slowing of thought processes, (3) emotional or personality changes (apathy or depression with occasional outbursts of irritability), and (4) impaired ability to manipulate acquired knowledge. In many neurological disease states associated with subcortical pathology, a similar pattern of dementia exists. The neurobehavioral changes of progressive supranuclear palsy thus typify a clinical pattern which may be referred to as subcortical dementia.” Aktuelle Kriterien zur Charakterisierung Heute werden andere diagnostische Kriterien für die subkortikale Demenz herangezogen, die etwa der Charakterisierung durch Cummings und Benson entsprechen [4]: — Psychomotorische Verlangsamung — Vergesslichkeit und kognitive Beeinträchtigungen als Epiphänomen — Apathie — Depressivität — Außerdem, von Cummings und Benson beschrieben, aber als Kriterium nicht genannt, die Leistungsverbesserung durch Außenantrieb (Stimulation durch den Untersucher). Die Vergesslichkeit beruhe laut Albert et al. nicht auf einer Gedächtnisstörung im engeren Sinne: Wenn den Patienten genügend Zeit eingeräumt und auf sie verbale Anfeuerung oder auch Druck angewendet wurde, ließen sich die Leistungen deutlich verbessern. Neben der psychomotorischen Verlangsamung bestünden Defizite selbstgenerierter Aktivierungen. Defizite kortikaler Funktionen wie aphasische, apraktische oder agnostische Symptome fanden Albert et al. nicht. Die Erstbeschreiber wiesen bereits auf die klinische Ähnlichkeit mit der Demenz bei bilateralen Frontalhirnläsionen hin. Schließlich wagen Albert et al. eine spekulative Vorhersage: “If the subcortical dementias are produced by disturbances of activating, alerting, or timing mechanisms, NeuroTransmitter 11 · 2011 then drugs which have an effect on the anatomical systems dealing with these mechanisms – for example amphetamines, Ldopa … – may have a therapeutic usefulness in the treatment of dementia.” Diese Vorhersage wird heute in der Neurologischen Rehabilitation umgesetzt. Auch deshalb, weil die Lenkung therapeutischer Aufmerksamkeit auf Antrieb und psychomotorische Geschwindigkeit konkrete pharmakologische Therapieoptionen (Dopaminergika, Amantadin, antriebssteigernde Antidepressiva, Amphetamine) nach sich ziehen kann, ist das Konzept der subkortikalen Demenz weiterhin fruchtbar. Bedeutsame diagnostische Entität Der angesichts der klinischen Leitsymptome und pharmakotherapeutischen Optionen griffige Terminus „subkortikale Demenz“ hat sich behaupten können, auch wenn viele Patienten, die diesem Syndrom zugeordnet werden, keine schwerpunktmäßige Läsion oder Funktionsstörung in subkortikalen Kerngebie- Fortbildung ten aufweisen [3]. Umgekehrt weisen Patienten mit subkortikalen degenerativen Erkrankungen nur Einzelaspekte des Syndroms der subkortikalen Demenz auf [2]. Tabelle 1 stellt eine Liste von Krankheiten dar, die mit dem Syndrom der subkortikalen Demenz einhergehen können. Wegen der Vielzahl dieser symptomatischen und potenziell behandelbaren Erkrankungen ist die subkortikale Demenz weiterhin eine klinisch bedeutsame diagnostische Entität, ein Syndrom bestehend aus einer überzufällig häufigen Assoziation von Symptomen, das erweiterte Diagnostik (Bildgebung, EEG, internistische Diagnostik, Labor, Liquor) nach sich ziehen sollte. LITERATUR www.springermedizin.de/neurotransmitter Prof. Dr. med. Claus-W. Wallesch BDH-Klinik Elzach Am Tannwald 1, 79215 Elzach E-Mail: [email protected] Anzeige 45