Master Europastudien Experteninterview im Rahmen der Masterarbeit „Demokratietheoretischer Vergleich der Interessenvertretung in Deutschland und auf EU-Ebene“ Interviewpartner: Sabine Verheyen, Abgeordnete des Europäischen Parlaments, EVP geführt am 01.10.2010 Welchen Stellenwert hat Interessenvertretung für Sie in einer Demokratie? Interessenvertretung hat einen sehr hohen Stellenwert. Von Politikern können nicht immer die Fachkenntnisse in den verschiedenen Bereichen vorausgesetzt werden. Wenn es ein bestimmtes Problem gibt, dann muss man sich die unterschiedlichen Seiten anhören. Lobbyismus ist vom Grundsatz her nichts schlechtes, kritisch ist dabei die Umsetzung. Wie schätzen Sie die Transparenz der Interessenvertretung in Brüssel ein? In Brüssel ist die Interessenvertretung sehr transparent geregelt. Denn jeder, der sich Zugang zum Parlament oder zur Kommission verschaffen will, muss im Lobbyregister eingetragen sein. Daher geschieht in Brüssel wenig hinten rum. Bezüglich der Transparenz halte ich es für wichtig von wem die Informationen kommen und cui bono, wem nützt es. Dadurch, dass die unterschiedlichsten Interessengruppen in Brüssel vertreten sind, erhält man ein sehr breites Bild von Ansichten und Positionen. Wie schätzen Sie das generelle Ansehen von Interessengruppen Brüssel ein? In der öffentlichen Wahrnehmung werden häufig Verbraucherschutzverbände, Menschrechtsorganisationen und Umweltverbände nicht als Lobbyisten angesehen. Obwohl sie genau so ihre Interessen vertreten. Wenn die Industrie ihre Interessen vertritt wird das immer als per se schlecht angesehen. So kann man an Lobbyismus nicht ran gehen. Jeder vertritt ein bestimmtes Interesse und ich muss immer beleuchten wer mir mit welchem Ziel welche Informationen gibt. Wo Lobbyismus transparent geschieht, ist es gut und wo es intransparent und versteckt abläuft, muss man aufpassen. Würden Sie zustimmen, dass die wirtschaftliche Interessenvertretung in Brüssel überwiegt? Ich glaube, dass kommt auf die Fachbereiche an. Wenn es um Binnenmarktfragen geht, dann sind viele wirtschaftliche Interessen vorhanden. Ein Themenschwerpunkt der Europäischen Union ist Wirtschaftspolitik und von daher sind sehr viele Wirtschaftsverbände da. Anders sieht es aus, wenn man in den Umweltausschuss schaut. Dort ist eine unwahrscheinlich starke Lobby der Umweltschutzverbände verschiedenster Art vorhanden. Da gibt es aber auch immer wieder schwimmende Übergänge bei denen vermeintliche Umweltschutzorganisationen auch wirtschaftliche Interessen vertreten. Es wird häufig kritisiert, dass die Wirtschaftsverbände viel mehr Geld für Interessenvertretung zur Verfügung haben als andere. Da muss ich aber ganz klar sagen, dass ich glaube, dass Abgeordnete oder politische Entscheidungsträger sich nicht von dem Geld beeindrucken lassen, sondern durch Argumente. Was vielleicht der ein oder andere Wirtschaftsverband meint durch ein Abendessen erreichen zu können, machen die anderen durch intensive Bearbeitung und personellen Einsatz. In vielen Bereichen hält sich das die Waage. Das kann man ja auch an dem Einfluss sehen, den Interessenvertreter aus Umwelt und Verbraucherschutzverbänden auf die Entwicklung bestimmter Vorschläge der Kommission haben. Dies wird auch über Konsultationen der Kommission und andere Verfahren gestützt. Auf Kommissionsebene gehören Gesprächen mit Interessenvertretern dazu. Man benötigt statistische und wissenschaftliche Grundlagen. Auch da muss man immer wieder schauen wen man mit der Anfertigung von solchen Statistiken beauftragt. Insofern ist es immer wichtig unterschiedliche Positionen zu hören. Die wirtschaftlichen und nicht-wirtschaftlichen Interessen halten sich die Waage. Wenn man zum Beispiel an die Raucherschutzgesetze denkt, da haben die Tabakkonzerne nichts zu sagen gehabt. Treffen Sie sich mit Interessenvertretern? Wenn ja, bevorzugen Sie den Kontakt mit europäischen Verbänden/nationalen Verbänden oder Einzelunternehmen? Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe häufig auch durch meine Funktion als Beauftragte für die Kommunen mit den deutschen Interessenvertretern im Kommunalbereich zu tun wie Deutscher Städtetag und kommunale Spitzenverbände. Ich habe bei der Bearbeitung des Themas sexueller Missbrauch von Kindern sowohl mit Opferschutzverbänden als auch Industrieverbänden und Einzelunternehmen, die technische Lösungen anbieten, gesprochen. Ich habe mit europäischen Verbänden gesprochen, wenn es um kommunale Unternehmen geht. Im Bereich der Kommunen gibt es auch einen Zusammenschluss auf europäischer Ebene. Ich versuche meine Gespräche mit Interessenvertretern möglichst breit zu streuen um einen möglichst breiten Blick zu bekommen. Das heißt beim Thema sexueller Missbrauch spreche ich mit Opferschutzverbänden, Unternehmen, Europol, Interpol und der Internet community. Ich habe versucht sehr viele unterschiedliche Gespräche zu führen um möglichst viele Sichtweisen, Informationen und Argumente zusammenzutragen. Dann muss ich vor dem Hintergrund wer mir welche Information gegeben hat, eine Abwägung treffen und zu einer Positionierung kommen. Beim Thema Zahlungsverzug war ich indirekt beteiligt. Da habe ich zum Beispiel Gespräche mit Eurocommerce, mit KMU Vertretern, mit kommunlaen Spitzenverbände, mit lokalen Kämmeren, mit Handwerksunternehmen, mit Handelskammern, mit Einzelunternehmen und auch mit europäischen Verbänden geführt. Auf diese Weise fließen viele Aspekte in die Debatte ein und ausgewogener Gesetzesentwurf kann entstehen. Welche Aussage charakterisiert eher die Demokratie in Brüssel: a) Das Nebeneinander gleichberechtigter Interessengruppen und des Staates/Institutionen mit Anerkennung vielfältiger Meinungen und Interessen (Pluralismus) b) Einbindung und Partizipation der Interessengruppen in den politischen Entscheidungsprozess (Korporatismus) Ich würde weder a) noch b) sagen, denn es gibt keine institutionalisierte Einbeziehung der Interessengruppen in den Entscheidungsprozess. Der Entscheidungsprozess findet in den Institutionen statt, aber die Meinungsbildung für den politischen Entscheidungsprozess findet durch den intensiven Austausch und das Einbeziehen der Gruppen statt. Es gibt keinen Gesetzesentwurf bei dem der Austausch mit den Interessenvertretern nicht im Vorfeld statt gefunden hat. Wenn es um die Entscheidung geht, dann haben sehr viele Gespräche statt gefunden. Insofern ist es schon ein Nebeneinander gleichberechtigter Interessengruppen mit der Anerkennung vielfältiger Meinungen, aber diese Meinungen werden dann auch in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen. Also nicht eindeutig a) oder b), denn das erfasst die Komplexität und Verwobenheit nicht. Es nicht wirklich ein Korporatismus, also das der Lobbyist quasi alles vorschreibt. Das gibt es natürlich immer wieder, dass Interessenvertretern mit vorformulierten Änderungsanträgen ankommen. Da entscheide ich aber immer noch selber, ob man diese verwendet oder nicht. Ich habe noch nie etwas wortwörtlich übernommen. Ich sehe mich als Abgeordnete nicht als der verlängerte Arm der Lobbyisten, sondern als jemand, der die unterschiedlichen Interessen der Interessenvertreter zusammenbringt um eine sinnvolle Lösung zu finden. Welche Verhaltensregeln sind für Sie wichtig beim Umgang mit Interessenvertretern? Für mich ist wichtig immer die Unabhängigkeit zu bewahren. Ich führe meine Gespräche am liebsten im Büro, weil das dort am effektivsten geht. In einer vernünftigen Arbeitsatmosphäre kann man sich gut beraten im Gegensatz zu irgendwelchen Dinners etc.. Ich versuche immer die Informationen, die ich bekomme, nicht ungefiltert weiter zu verarbeiten. Ich versuche immer zu berücksichtigen von wem die Information kommt und welches Interesse da hinter steht. Wenn man gegensätzliche Informationen hat, dann muss man versuchen eine objektive Quelle zu finden, die den Sachverhalt beurteilen kann. Man sollte nie einfach die Informationen nehmen und sie für wahr halten. Man sollte die Informationen stets mit der Frage cui bono verbinden. Darüber hinaus sollte man natürlich keine Geschenke annehmen. Im Abgeordnetenstatut gibt es eine Transparenzvorschrift, dass man finanzielle Interessen deklarieren muss. Ich war zum Beispiel zu Beginn meiner Tätigkeit im Verwaltungsrat der Sparkasse und im Aufsichtsrat der Stadtwerke. Das musste ich ganz klar angeben, damit transparent ist welche Funktionen die Entscheidungen beeinflussen könnten. Kommentieren Sie bitte folgende Aussage: Interessenvertretung ist ein gegenseitiger Tausch von Expertenwissen gegen Partizipation am politischen Entscheidungsprozess. Dieser Aussage stimme ich zu. Interessenvertreter bringen das Expertenwissen ein und beteiligen sich dadurch am politischen Entscheidungsprozess. Was erwarten Sie von Interessenvertretern wenn sie ihr Anliegen vorbringen? Für mich ist wichtig, dass die Interessenvertreter schnell auf den Punkt kommen und klar und transparent sagen was sie wollen. Bei professionellen Lobbyisten kommt es häufig vor, dass sie nicht auf den Punkt kommen. Meistens breche ich solche Gespräche sehr schnell ab. Ich erwarte, dass ein Interessenvertreter klar sagt, wen er vertritt und was er will und was seine Argumente sind. Da habe ich schon sehr unterschiedliche Interessenvertreter erlebt. Wie würden Sie das Verhältnis zwischen Interessengruppen und Parteien beschreiben? Die Parteien haben in Brüssel weniger direkten Zusammenhang mit den Interessengruppen. Im Europäischen Parlament gibt es nicht die Parteien in der Form wie in Deutschland. Bei den Fraktionen handelt es sich um einen Zusammenschluss von verschiedenen politischen Gruppierungen. Es kommt immer auf die einzelnen Themenbereich an. Jede Partei hat Interessenvertreter mit denen sie zusammenarbeitet. Für mich habe ich aber den Grundsatz mit allen zu reden um sich ein Bild zu machen. Wie schätzen Sie den Parteienwettbewerb im Europäischen Parlament ein? Der Parteinwettbewerb ist eher gering. Wir haben keine Regierung und Opposition, sondern viele Entscheidungen werden immer wieder mit wechselnden Mehrheiten gefällt. Es handelt sich um einen sehr demokratischen Prozess im Europäischen Parlament. Es wird keine Linie von oben vorgegeben, sondern die Abgeordneten haben die Möglichkeit aus freiem Gewissen zu entscheiden. Es gibt in den Parteien auf europäischer Ebene immer wieder Grundlinien, die gemeinsam festgelegt werden. Der Parteienwettbewerb als solcher ist aber geringer als in nationalen Parlamenten. Man ist auch immer auf Kompromisse und Koalitionen angewiesen. Daher gibt es auch so viele Joint Resolutions im Europäischen Parlament, in denen jeder noch mal seine Sichtweise als Alternative vorschlägt, aber dann eine gemeinsame Lösung gefunden wird. Man muss auch darauf achten, dass man eine Entscheidung im Rat durchsetzen kann. Rein nationale Interessen haben dabei meist keine Chance. Gegen das Interesse eines Staates massiv vorzugehen funktioniert hingegen in der Regel auch nicht. Die Politik im Europäischen Parlament ist daher häufig stark sachorientiert anstatt parteiorientiert. Welche Aussage trifft eher auf die Demokratie in Brüssel zu: a) System in dem Entscheidungen durch einfache Mehrheiten getroffen werden (Konkurrenzdemokratie) b) System in dem Minderheitsgruppen an Entscheidungen beteiligt sind (Konkordanzdemokratie) In der Regel wird versucht einen Konsens zu finden auch mit den kleineren Gruppen. Wenn die beiden großen Blöcke die S&D und die EVP unterschiedlicher Positionierung sind, dann braucht man ja auch die kleineren Gruppen um Mehrheiten zu bilden. In den Fachausschüssen ist durch die Verteilung des Punktesystems bei der Verantwortlichkeit für Berichte eine breite Streuung vorhanden. Minderheiten sind an Entscheidungen gleichwertig beteiligt, aber die Entscheidung wird mit einer einfachen Mehrheit getroffen, Wie sich die Mehrheit zusammensetzt ist dabei offen. Die kleinen Gruppen werden nicht außen vorgelassen.