DIE KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE IN DER BEHANDLUNG VON DEPRESSIVEN STÖRUNGEN Analyse einer Synthese von kunstorientierten Methoden und systemischer Therapie anhand der empirischen Datenlage und der eigenen therapeutischen Praxis KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 2 Zusammenfassung In dieser Arbeit habe ich die aus meiner therapeutischen Praxis stammende Hypothese geprüft, ob die kunstorientierten Methoden eine Bereicherung für die systemische Therapie in der psychotherapeutischen Behandlung der depressiven Störung darstellen können. Aufgrund des in beiden Therapieformen tief verwurzelten sozialkonstruktivistischen Therapieverständnisses lassen sich die theoretischen Grundlagen der kunstorientieren Methoden ohne grössere Anpassungen in die Systemtheorie integrieren. Die Wirksamkeit der systemischen Therapie ist bei depressiven Syndromen belegt. Sie ist jedoch im Gegensatz zu anderen Störungsbildern tiefer, als die Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie. Es erscheint gerade bei der Behandlung der depressiven Störung eine Erweiterung der systemischen Therapie mit den sinnlicherlebnisorientieren kunstorientierten Methoden naheliegend, um die Wirksamkeit der systemischen Therapie zu erhöhen. Für die untersuchte Hypothese liegt bisher keine empirische Evidenz vor, womit eine abschliessende Beurteilung der Hypothese zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 3 Inhaltsverzeichnis Zusammenfassung 2 Inhaltsverzeichnis 3 1. Einleitung 5 2. Konzeptionelle Grundlagen der systemischen Therapie 2.1. Der Beginn der modernen Systemtheorie 2.2. Die Kybernetik 2. Ordnung 3. 7 7 2.3. Das Autopoise Konzept 8 2.4. Die Meta-Systemtheorie 10 2.5. Der Konstruktivismus 7 11 Konzeptionelle Grundlagen der kunstorientierten Methoden 3.1. Die Expressive Arts Therapy 13 3.2. Werkorientierter Ansatz der kunstorientierten Therapie 3.3. Kristallisation durch Intermodalität 15 3.4. Therapie als kunstanaloger Prozess 16 3.5. Die kunstanaloge Haltung des Therapeuten 4. 13 13 17 Die Wirksamkeit von systemischer Therapie und kunstorientierten Methoden in der Behandlung depressiver Erkrankungen 18 4.1. Die Wirksamkeit der systemischen Therapie 19 4.2. Die Wirksamkeit der kunstorientierten Methoden 20 4.2.1. Die Wirksamkeit von Tanz- und Bewegungstherapie und von körperorientierten Methoden 20 4.2.2. Die Wirksamkeit der Kunsttherapie 21 4.2.3. Die Wirksamkeit von expressivem Schreiben 4.2.4. Die Wirksamkeit der Musiktherapie 5. 21 22 Reflexion der Praxis der kunstorientierten systemischen Therapie 5.1. Eine Begegnung gestalten 5.1.1. Fallbeschreibung 5.1.2. Methodenreflexion 26 26 28 5.2. Etwas ganz anderes tun 29 5.2.1. Fallbeschreibung 29 5.2.2. Methodenreflexion 5.3. Das Kristallisieren 31 33 5.3.1. Fallbeschreibung 33 25 KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 5.3.2. Methodenreflexion 6. Diskussion 4 35 36 6.1. Diskussion der bisherigen Befunde 36 6.2. Diskussion der Synthese von kunstorientierten Methoden und systemischer Therapie zur kunstorientierten systemischen Therapie bei der Behandlung der Depression 39 6.3. Beurteilung der Hypothese und Ausblick Literaturverzeichnis 43 40 KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 1. Einleitung Aufgrund einer sehr hohen Lebenszeitprävalenz von 16,1% (Wittchen & Perkonigg, 1996), und den gleichzeitigen hohen körperlichen und psychosozialen Beeinträchtigungen und Funktionseinbussen ist die Suche nach wirksamen Behandlungsformen für die depressive Störung für unsere Gesellschaft von hoher Bedeutung. Wenn ein Mensch an einer Depression erkrankt, hat dies sowohl für jeden einzelnen Betroffenen sowie für die grösseren Systeme von Familie über Arbeitskontexte bis hin zur Gesellschaft grosse Auswirkungen. So verursachen Depressionen 6% der Krankheitskosten in Europa (Sobocki, Jönnsson, Angst & Rehnberg, 2006). Auch in meiner therapeutischen Praxis stellen sich viele meiner Klientinnen und Klienten mit der Diagnose einer depressiven Störung vor. 2005 habe ich unter der Leitung von Prof. Dr. phil. Paolo Knill einen Master in Expressive Arts Therapy (Knill, Levine & Levine, 2004) abgeschlossen und seither in meiner eigenen Praxis kunstorientiert therapeutisch gearbeitet. Der in dieser Arbeit zentrale werkorientierte Ansatz in der kunstorientierten Therapie (kurz: „kunstorientierte Methoden“) stellt dabei eine von Eberhart und Knill (2009) entwickelte Therapierichtung dar, die aus der Expressiv Arts Therapy („EXA“) entstanden ist. Durch meine Arbeit als Kunstpsychotherapeutin in der sysTelios Klinik von 2011-2014 begann ich vermehrt systemisch-therapeutische Elemente in meine therapeutische Praxis zu integrieren. Die sysTelios Klinik ist eine psychosomatische Privatklinik und arbeitet mit einem systemischen Ansatz unter der ärztlichtherapeutischen Leitung von Dr. med. Gunther Schmidt (Schmidt, 2013). Die Synthese dieser beiden therapeutischen Schulen ist mir in meiner praktischen Arbeit mühelos gelungen. In meiner Eigenwahrnehmung wurde meine therapeutische Arbeit dadurch sehr bereichert und auch die Rückmeldungen der Klienten war sehr positiv. Mir ist 5 KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 6 dabei aufgefallen, dass gerade im Bereich der depressiven Störungen, der Einbezug der kunstorientierten Methoden in das systemische Therapiekonzept besonders bereichernd schien. Aus diesen praktischen Erfahrungen ist die dieser Arbeit zugrunde liegende Hypothese entstanden: Die kunstorientierten Methoden können die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei der psychotherapeutischen Behandlung der depressiven Störung erhöhen. Um diese Hypothese zu überprüfen werde ich im Folgenden zunächst in den Kapiteln zwei und drei die grundlegenden theoretischen Konzepte und Begriffe der beiden Therapiekonzepte darstellen und jeweils eine therapeutische Haltung herausarbeiten. Dabei geht es mir auch darum zu überprüfen, inwiefern auf konzeptioneller Ebene Widersprüche bestehen, die eine Integration erschweren könnten. In Kapitel vier habe ich die aktuelle Datenlage zur Wirksamkeit der systemischen Therapie und der kunstorientierten Methoden in der Behandlung der depressiven Störungen ausgewertet. In Kapitel fünf werde ich meine praktische Tätigkeit anhand von Beispielen metareflektieren, theoretisch einordnen, einzelne therapeutische Interventionen aus den beiden Therapierichtungen vorstellen und daran aufzuzeigen versuchen, wie ich die Synthese der beiden Therapieformen in meiner therapeutischen Praxis anwende. Im letzten Kapitel, der Diskussion, werde ich die Ergebnisse der vorderen Kapitel noch einmal aufgreifen, diskutieren und auswerten. Ich werde herausarbeiten, ob aufgrund der von mir zusammengetragenen Konzepte, Haltungen, Studienergebnisse und praktischen Erfahrungen die Integration von kunstorientierten Methoden in die systemische Therapie in der Behandlung von depressiven Störungen die Wirksamkeit der systemischen Therapie erhöht und somit die von mir aufgestellte Hypothese angenommen werden kann. Zudem werde ich in einem Ausblick darstellen, in welchen Bereichen sich allenfalls weitere Schritte aus dieser Arbeit ergeben könnten. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 2. 7 Konzeptionelle Grundlagen der systemischen Therapie In diesem Kapitel werden die grundlegenden theoretischen Konzepte und Begrifflichkeiten geklärt, die der systemischen Therapie zugrunde liegen. Daraus leite ich eine für mein therapeutisches Handeln zentrale Haltung in der Begleitung von Menschen her. 2.1. Der Beginn der modernen Systemtheorie Der moderne Systembegriff wurde durch den Österreicher Ludwig von Bertalanffy (1968) in seinem Werk „Allgemeine Systemtheorie“ definiert. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die Kritik am physikalisch-mechanistischen Weltbild seiner Zeit. Organismen wurden von ihm als offene Systeme definiert, die Energie, Materie und Information austauschen und sich durch ihre Selbstorganisation, Zielorientierung, Hierarchie und Regulation beschreiben lassen. Sie stehen durch eine wechselseitige Interaktion im Kontakt mit der Umgebung. Diese Systeme sind in aufsteigender Ordnung von Zellen bis hin zur Gesellschaft geordnet. Auf jeder Ebene entstehen dabei durch Emergenz neue Organisationsformen, die sich nicht auf die Operationen ihrer Elemente reduzieren lassen. Die Strukturen dieser Prozesse beschrieb er als ähnlich, so dass er die Gesetze der Systemtheorie von Organismen bis hin zu mentalen und symbolisch-sprachlichen Prozessen ausweitete. Ganz allgemein legte er dar, dass der Zustand eines Systems sich aus dem Austausch mit der Umwelt, den internen Beziehungen der Systemelemente sowie der Geschichte des Systems erklären lässt. 2.2. Die Kybernethik 2. Ordnung Gregory Bateson integrierte den, ursprünglich im 2. Weltkrieg in der Waffenforschung geprägten, Begriff der Kybernethik in die systemisch-therapeutischen Konzepte. Er untersuchte pathologische Kommunikationsmuster schizophrener KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 8 Patienten. In seinen Theorien über Kommunikation (Bateson & Ruesch, 1995) fokussierte er auf den Kontext anstelle des Individuums, auf Prozesse statt auf Strukturen, auf Ganzheiten statt auf Teile und auf Systeme in die der Beobachter eingeschlossen ist. Von Förster (1999) entwickelte darauf aufbauend den Begriff der Kybernetik 2. Ordnung. Hier wird Verhalten, Handeln und Kommunikation als nicht trivial, nicht vorhersagbar und nicht linear-kausal verstanden. Durch diese Epistemiologie wurde in der Systemtheorie die Möglichkeit einer objektiven und absoluten Theoriebildung verworfen und eine relativistische Haltung gefordert. Die geschilderten Annahmen haben Auswirkungen auf das Verständnis von Kommunikationsprozessen. Da Lebewesen autonom und nicht trivial sind, entscheiden die Lebewesen selber, was sie in einer Beziehung als Kommunikation wahrnehmen. Was dabei welchem Systemmitglied als Kommunikation zugeschrieben und wie dies bewertet wird, ist eine Entscheidung der Kommunikationsteilnehmer oder eines Beobachters. Der Beobachter weist Handlungen somit eine Bedeutung zu. Dieser Prozess der Bedeutungsgebung ist kontextrelativ und geprägt vom sozialen, politischen, beziehungmässigen und historischen Rahmen. Jedes Verhalten in der Beziehung kann als Kommunikation gedeutet werden und es entwickelte sich der Grundsatz der systemischen Therapie, dass nicht nicht kommuniziert werden kann (Watzlawick, 2011). Der nonverbale Ausdruck rückte als Kommunikationselement in den Fokus und eine Inkongruenz zwischen verbalem und nonverbalem Ausdruck wurde als DoubleBind benannt. 2.3. Das Autopoise-Konzept nach Maturana Eine Erweiterung der Kybernethik auf eine naturwissenschaftlich-biologische Basis stellt das Autopoiese- oder Selbsterzeugungs-Konzept dar, das von Maturana (Maturana & Varela, 2008) entwickelt wurde. Autopoietische Systeme, also im einfachsten Fall einzellige Lebewesen, unterscheiden sich von anderen Systemen KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 9 dadurch, dass sie die Bestandteile, aus denen sie bestehen, selbst erzeugen und gegen die Umwelt abgrenzen. Lebendigkeit ergibt sich also durch einen Prozess, der von den Operationen der Lebewesen selber herrührt und der strukturdeterminiert, selbstreferenziell, zirkulär abgeschlossen und autonom ist. Diese für Einzelzellen geltenden Mechanismen, lassen sich auch auf multizelluläre Lebewesen in einer Autopoise 2. Ordnung anwenden. Durch die operationale Geschlossenheit, können Systeme von ihrer Umwelt nur verstört, nicht jedoch determiniert werden. Dies gilt auch für die menschliche Kognition, die nicht die Aussenwelt abbildet, sondern interne Systemzustände wiedergibt. Organismen werden also als autonom verstanden, d.h. sie organisieren und regeln sich selbst in einer zirkulären Weise. Somit kann in einer (therapeutischen) Beziehung das Gegenüber nicht direkt verändert werden, sondern es kann durch den (therapeutischen) Beziehungspartner nur eine Umgebung geschaffen werden, in dem eine Veränderung möglich wird. Die Entscheidung, ob eine Veränderung stattfindet, bleibt dabei in der Eigenverantwortung des Klienten. Maturana ruft in seinen Theorien zu einer Bescheidenheit im Denken und Handeln auf und erinnert daran, die „Versuchung der Gewissheit“ zu vermeiden. Somit bietet systemisches Denken keine Gewissheiten, sondern beschränkt sich auf die Auswertung menschlicher Beobachtungen, die nicht absolut sind, sondern geprägt vom Beobachter, seiner sinnlichen Enkodierung der Umweltreize und seinen Vorerfahrungen. Somit „weiss“ eine Therapeutin nichts über die Klientin, sondern kann aus ihrer Perspektive Hypothesen bilden, die sie im therapeutischen Prozess nutzen kann, indem sie sie in Kommunikation bringt. Ob eine Hypothese angenommen oder abgelehnt wird, liegt wiederum in der Verantwortung der Klientin. Eine Besonderheit des Menschen, die Maturana als zentral ansieht, ist das InSprache-Sein. Diese Sprache ermöglicht dem Menschen in seiner phylogenetischen Entwicklung Verhaltenskoordination auf höheren Ebenen, als dies anderen Lebewesen KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 10 möglich ist. Menschliche Interaktionen bestehen in seinem Verständnis aus „Linguieren“ und „Emotionieren“ und durch diese Ebenen kann kooperatives Handeln entstehen. Besonders wichtig ist das Konzept des Emotionieren, das für Maturana eine körperliche bedingte Bereitschaft zu Handlungen darstellt. Von Ciompi (1997) wurde dieses Konzept in der Affektlogik weiter entwickelt. So wird in der Zuneigung ein anderes Handlungsrepertoire verfügbar, als in der Wut, in der Angst oder einem anderen emotionalen Zustand. Für Maturana (Maturana & Varela, 2008) ist die Liebe und das mit ihr verbundene Handlungsrepertoire Grundlage einer jeden Sozialisation und ermöglicht Akzeptanz und Respekt. Aus diesem Handlungsrepertoire anderen Menschen zu begegnen ist der vielleicht zentralste Bestandteil einer systemischen Haltung in der Therapie. 2.4. Die Meta-Systemtheorie Die Systemtheorie von Luhmann (1984) wurde zu einer Referenztheorie des systemischen Ansatzes. Luhmann weitete den Autopoiese-Begriff von biologischen Systemen auf psychische und soziale Systeme aus. Indem sich Systeme einen „Sinn“ suchen, den er im Sinne eines Zieles oder einer Ausrichtung verstand, reduzieren sie die Komplexität ihrer Umgebung, indem sie eine von vielen Sinnmöglichkeiten auswählen. Durch den Selektionsprozess wird gleichzeitig Nichtbeabsichtigtes, Ausgeschlossenes und Abweichendes mithervorgebracht. Es entsteht eine Differenz zwischen System und deren Umwelt. Dies bedeutet, dass das System durch die Auswahl von Sinn, sich von der Umgebung abgrenzt und sich und seine Grenzen so immer wieder neu erschafft. Sinn-Ausrichtungen können vorübergehend und flexibel oder auch starr gewählt werden. Psychische Störungen entstehen in dieser Theorie nicht determiniert durch die Umwelt, sondern durch die Selektion des Ziels und vor allem durch ein zu starres Festhalten des Systems an einem Sinn. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 11 Eine weitere wichtige Grundannahme von Luhmann ist, dass die menschliche Psyche niemals direkt beobachtet werden kann, sondern nur über sie kommuniziert werden kann. Er stellt deswegen nicht die Psyche, sondern die Kommunikation in das Zentrum seiner Betrachtungen. Der Kommunikationsprozess lässt sich anhand sachlicher (Inhalt), zeitlicher (frühere Kommunikationsprozesse) und sozialer (Teilnehmer) Sinndefinitionen beschreiben. Für Luhmann ist nicht das Problem oder das Leid Thema der Psychotherapie, sondern die Kommunikation der Systemteilnehmer über das Problem und das Leid. Der therapeutische Prozess dient somit der Verstörung von stabilen psychischen und sozialen Operationsmustern des Klientensystems. Der Familie gibt Luhmann dabei eine besondere Stellung, da sie ein Systemtyp ist, wo die Teilnahme, anders als in Freizeit und Beruf, nicht über eine Mitgliedschaft definiert wird. Nichtteilnahme führt somit auch nicht zu Ausschluss. Das komplexe Ziel für familiäre Systeme ist es über die Entwicklungslinien (von Geburt, Kindheit, Auszug, Partnerschaft, Trennung,…) ausreichend Stabilität zu gewährleisten, um die Identität der Familie zu definieren und gleichzeitig flexibel genug zu bleiben, um Veränderungen oder Krisen zu bewältigen. So können Konflikte und problematische Kommunikationsmuster wie stereotype Zuschreibungen, Rückgriffe auf Traditionen, alte Muster, Gewohnheiten, Tabuisierungen usw. verstanden werden als Stabilisierungsmöglichkeiten in Notsituationen. Konfliktsituationen zeichnen sich eher durch ein zu hohes Mass an Stabilität aus und ein therapeutischer Prozess hat zum Ziel durch Interventionen das Kommunikationssystem der Klienten anzuregen und wechselseitige Erwartungshaltungen zu klären. Durch die Therapie soll das System zu einer neuen Balance von Stabilität und Flexibilität in seinen Kommunikationsmustern gelangen. 2.5. Der Konstruktivismus KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 12 Aus den bisher beschriebenen Konzepten entwickelte von Glasersfeld (1994) das Konzept des radikalen Konstruktivismus. Aussagen und Beschreibungen sind konsequent nicht mehr als objektive Abbildung von Realität, sondern als abhängig von einem Beobachter und somit als subjektiv zu verstehen. Der radikale Konstruktivismus hat sich als einer der theoretischen Bezugsrahmen der systemischen Therapie durchgesetzt, wird dabei jedoch sehr kontrovers diskutiert (Schmidt, 2003). Eine Schwierigkeit liegt darin, dass im Konstruktivismus die Konstruktivität der Wahrnehmung bewiesen werden soll. Dies ist nach eigener Theorie jedoch unmöglich, da auch der Konstruktivismus eine soziale Konstruktion ist. Somit entsteht ein Eigenanwendungsproblem. Zudem ist der Konstruktivismus sehr auf kognitive Prozesse ausgerichtet und vernachlässigt Affekte, Gefühle, Handlungen und körperliche Tätigkeiten. Auch erlaubt die Anerkennung aller Konstruktionen als prinzipiell gleichwertig kaum mehr Platz für Meinungsverschiedenheiten. Wittgenstein (2011) entwickelte den sozialen Konstruktivismus, den er als eine praktizierte „Lebensform“ oder auch als eine menschliche Haltung versteht, die die gleichberechtigte menschliche Begegnung im Mittelpunkt sieht. Die zentrale Annahme dabei wurde von Bateson formuliert, dass das was wir als Wirklichkeit bezeichnen vor allem in sozialen Beziehungen hergestellt wird und erst zweitrangig in den Personen (Bateson & Ruesch, 1995). Der Therapeut kann in solchen Begegnungen als „Gast“ im Leben des Klienten verstanden werden (Andersen, 1999). Die Bedeutungskonstruktionen hängen somit flexibel von sozialen Prozessen ab, was das Festlegen von psychopathologischen Festschreibungen aus der Expertenrolle aus systemischer Sicht fragwürdig macht. Die gleichberechtigte, kokreative Zusammenarbeit wird erst durch das Nicht-Wissen der Experten erreicht und führt zu einer unvoreingenommenen Offenheit („Präsenz“) gegenüber dem, was die Klienten kommunizieren (Anderson, 1999). Weiterhin wichtig für diese Form der dialogischen KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 13 Zusammenarbeit ist eine Sensibilität für das Erspüren des Wandels zu entwickeln, also eine Art „Empathie“ für Veränderungsprozesse in Systemen. Aus diesen Grundbausteinen entsteht die auch meinem therapeutischen Handeln zugrunde liegende Haltung der „präsenten dialogischen Sensibilität“ (Levold & Wirsching, 2014). 3. Konzeptionelle Grundlagen der kunstorientierten Methoden Analog zu dem Vorgehen bei der systemischen Therapie, wird nachfolgend ein Überblick über die relevanten Begriffe und Konzepte gegeben und entsprechend eine therapeutische Haltung herausgearbeitet. Die Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich, soweit nicht anders vermerkt, auf die Gedanken von Eberhart und Knill (2009). 3.1. Die Expressive Arts Therapy In den 70-er Jahren wurde in der Lesley University in Cambridge/USA ein erster Ansatz der Expressive Arts Therapy („EXA“) entwickelt. Bei der Entwicklung hatte das Psychodrama nach Moreno (1999) einen zentralen Stellenwert. Die EXA grenzte sich bei allen Gemeinsamkeiten gleichzeitig von der rein körperorientierten Therapie in einigen Punkten ab. Sie stellte das Künstlerische als eine natürliche ganzheitliche Ausdrucksweise ins Zentrum, nahm einen ressourcenorientierten Fokus mit einer Zuwendung zur Gesundheit ein und verstand den künstlerischen Ausdruck als körperlich-sinnlich und imaginativ. Dabei wird die Umdeutung des symbolischen Gehaltes eines Werkes durch spirituelle oder psychologische Theoriekonzepte abgelehnt. Der interdisziplinäre Ansatz beruhte auf der Idee die unterschiedlichen Reflexionsweisen der künstlerischen Ausdrucksformen für den Klienten nutzbar zu machen und war an die Polyästhetik des Mozarteum Salzburg (Schwarzbauer, 2001) angelehnt. Der Fokus liegt bei der EXA bei der Vollendung des künstlerischen Werks, dass dann etwas im Erschaffenden anspricht oder ihm etwas mitteilen möchte. 3.2. Werkorientierter Ansatz der kunstorientierten Therapie KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 14 Knill und Eberhart (2009) haben in der Schweiz eine eigenständige Therapierichtung entwickelt, die sich gegenüber der EXA abzugrenzen begann und in den 90er Jahren zu dem werkorientierten Ansatz der kunstorientierten Therapie (von nun an kurz: kunstorientierte Methoden) führte. Im Gegensatz zur EXA wird in den künstlerischen Methoden mehr auf den Gestaltungsprozess, denn auf das Werk fokussiert. Klienten werden als Menschen in einer Notenge-Situation verstanden, in die sie zum Beispiel durch Konflikte geraten. Das Ziel einer Therapie ist die Spielraumerweiterung. Techniken um Spielräume zu erweitern sind imaginative Techniken, die im Tun und Wahrnehmen andere Erlebensbereiche und Sichtweisen ermöglichen, die nicht vorhergesagt werden können. Fast alle therapeutischen Schulen nutzen solche imaginären Wirklichkeitsräume, z.B. Imaginationen oder auch Hypothesen. Das künstlerische Handeln hat dabei eine Brückenfunktion, da es einerseits imaginativen Charakter hat, jedoch gleichzeitig auch durch das entstehende Werk dinglich anwesend ist. Künstlerische Prozesse können überraschende Momente fördern, indem sie die häufig in Notenge-Situationen auftretenden engen Sprachschablonen verlassen und in ein sinnlich-erlebensorientiertes Setting wechseln. Eine zentrale Interventionsform ist dabei die intermodale Dezentrierung. Hier findet der Wechsel aus einem Gespräch in ein künstlerisches Medium statt, ohne dabei einen klaren Bezug zur Problemstellung herzustellen. Es soll dem Klienten damit eine alternative Welterfahrung ermöglicht werden. Wichtig bei der Auswahl der Techniken in der Dezentralisierung ist das Prinzip des Low-Skill-High-Sensitivity. Es bedeutet, dass auf anspruchsvolle Techniken verzichtet werden, und gleichzeitig eine hohe Sensibilität für den Umgang mit Farbe, Form, Material, Bewegung, Zeit, Raum und Ausdruck in die Reflexion eingebracht werden soll. Bei der Dezentrierung zeigen sich in einem intermodalen Strukturprinzip Analogien zwischen den Herausforderungen, die KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 15 eine Problematik an einen Klienten stellt, und den Herausforderungen, die an den Klienten durch die Herausforderungen des Gestaltungsprozesses gestellt werden. Durch das Erschaffen eines hörbaren oder sichtbaren Werkes, ist es für Therapeutin und Klient möglich, gleichzeitig aus dem Gespräch herauszutreten, sich vom Gespräch zu dezentrieren und neue Rollen einzunehmen. Dabei übernimmt der Therapeut eher die Rolle eines Kunst-Coaches, ermutigt den Klienten, sich an neuen Materialien und Ausdrucksformen zu versuchen. Durch den Prozess der Werkgestaltung entsteht zwischen Therapeutin und Klientin ein imaginativer Raum, zu dem beide gleichzeitig und unmittelbar Zugang haben. 3.3. Kristallisation durch Intermodalität Das Prinzip der Kristallisation (Knill, 2002) geht davon aus, dass Künste von ihrem Wesen her intermodal angelegt sind. Sie haben jedoch unterschiedliche Ausprägungen der kommunikativen und sinnlich-sensorischen Modalitäten. So steht bei der visuellen Kunst das bildlich-imaginative im Vordergrund, jedoch sind auch die sensomotorischen, taktilen und auditorischen Sinne beteiligt. Das bedeutet, dass die Intermodalität in der künstlerischen Auseinandersetzung schon enthalten ist, jedoch durch die Wahl eines künstlerischen Mediums eine dieser Kunstdisziplin eigene Imaginationsmodalität in den Vordergrund geholt werden kann. Bilder kristallisieren sich also am deutlichsten in einer Skulptur oder einem Gemälde, Klang und Rhythmus in der Musik, Worte in der Geschichte oder im Gedicht, Handlungen im Theater und Bewegung im Tanz. Daraus ergeben sich auf unterschiedlichen Ebenen Interventionsmöglichkeiten. Wird in Gruppen gearbeitet, so fördert Malen und Bildhauen eher die Individuation, Musik eher die Sozialisation, während Tanz und Bewegung eine Beziehungsaufnahme innerhalb einer Gruppe ermöglicht. Dadurch können durch die Wahl des künstlerischen Mediums unterschiedliche Umgebungsbedingungen für Therapieprozesse geschaffen werden. Durch den KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 16 intermedialen Transfer kann bei einem Medienwechsel zudem die Aussage des Werkes intensiviert oder eben kristallisiert werden. Es spielen neben den in den Kunstdisziplinen enthaltenen Eigenheiten auch individuelle und soziale Voraussetzungen des Klienten eine Rolle. Dazu zählt die durch Erfahrungen, kulturelle und soziale Bedingungen erworbene emotionale Haltung zu einem künstlerischen Medium. Auch haben Künste unterschiedliche rituelle und religiöse Anwendungen, und gewinnen durch diese Verknüpfung an zusätzlicher Bedeutung. Durch die Intermodalität können diese häufig bedeutenden persönlichen und kulturellen Verknüpfungen nutzbar gemacht werden, und damit die Kristallisation eines zentralen und oftmals zunächst unbewussten Themas ermöglicht werden. 3.4. Therapie als kunstanaloger Prozess Zwischen der Therapeutin und der Klientin soll sich bei den kunstorientierten Methoden der therapeutische Prozess wie ein Kunstwerk entwickeln und Therapie wird als ein gemeinsam zu schaffendes Werk verstanden. Die Therapie stellt einen kunstanlogen Prozess dar. Die spielerisch-künstlerische Beziehungserfahrung ist von einer ästhetischen Logik bestimmt, angelehnt an die Konzepte der Affektlogik von Ciompi (1997). Sie unterscheidet sich auch durch ihre Sinnlichkeit von der Alltagslogik und kann durch diese alternative Welterfahrung das Denken und Handeln im Alltag verändern. Die Dynamik der Beziehung zwischen Klient, Therapeut und Werk, hat für Eberhart und Knill (2009) drei Aspekte: Das „Mittelbare“, das vom Therapeuten als Mittel eingesetzt wird und beschreib- und reproduzierbar ist. Das „Unmittelbare“, was im Zwischenraum geschieht, wie die therapeutische Beziehung oder das Entstehen eines unerwarteten Zusammenhangs, das zwar beschreibbar ist, jedoch weitgehend unkontrollierbar und schwer reproduzierbar ist. Und dann das „Unvermittelbare“, das überraschend geschieht, für das lediglich Rahmenbedingungen geschaffen werden KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 17 können und das kaum definierbar ist. Dies wird als „das Dritte“ bezeichnet, ist im Nachhinein beschreibbar und analysierbar und ermöglicht häufig unerwartete Wendungen. 3.5. Die kunstanaloge Haltung des Therapeuten Die Therapeutin folgt in den kunstorientierten Methoden in ihrem Handeln dem sich entfaltenden Prozess, bleibt jedoch dem Dritten gegenüber offen und ist bereit vorgefasste Ziele und Überlegungen anzupassen. Angelehnt an die Systemtheorie bezüglich Prozesse und Entwicklungsverläufe verwerfen die kunstorientierten Methoden linear-kausale Modelle und nehmen wechselnde Dynamiken, Rückkopplungsvorgänge, qualitative Sprünge und eine fehlende Vorhersagbarkeit an. Sprungartigen Veränderungen sind in diesem Verständnis auch bei geringfügiger Veränderung eines bedeutungsvollen Umweltaspektes möglich, wenn sich, analog zu den synergetischen Theorien in der Physik, das System in einem labilen Zustand befindet (Haken & Schiepek, 2006). Auf dieser Basis definieren Eberhart und Knill (2009) die kunstanaloge Haltung mit drei zentralen Faktoren. Erstens ist es die Offenheit dem Klienten gegenüber, also dem Bemühen das Gegenüber so zu akzeptieren, wie es ist. Dann geht es um das genaue Beobachten und Hinhören, also das Bemühen, den Klienten so differenziert wie möglich zu erfassen. Und drittens benötigt der Therapeut eine hohe Präsenz, die sich durch ein konzentriertes Dabeisein ohne Vorbehalte auszeichnet. Das Ziel dieser kunstanalogen therapeutischen Haltung ist das Ermöglichen von Begegnung, wie Buber (1962) sie verstanden hat und die durch „eine tiefe Verwandtschaft auf existenzieller Ebene“ die Möglichkeit beinhaltet „neue Räume zu öffnen, was im Beratungsablauf oft zu überraschenden Wendungen führt“ (Eberhart & Knill, 2009, S.59). KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 18 4. Die Wirksamkeit von systemischer Therapie und kunstorientierten Methoden in der Behandlung depressiver Störungen Das depressive Syndrome wird anderorts vielfältig und ausführlich diagnostisch, ätiologisch und epidemiologisch beschrieben (Perrez & Baumann, 2011, S.852-891). Es besteht über die diagnostischen Kriterien weitgehender Konsens zwischen ICD-10 und DSM-IV-TR, die unipolare Depression und die Major Depression entsprechen sich und die Begriffe werden im Folgenden synonym verwendet. Die klassischen Symptome einer Depression, von denen einige oder auch alle bei einer depressiven Erkrankung vorkommen, sind in Tabelle 1 zusammengefasst. In den nächsten Abschnitten dieses Kapitels wird die Wirksamkeit der systemischen Therapie und der ausdrucksorientierten Methoden bei depressiven Syndromen dargestellt. Tabelle 1: Symptome einer Depression (Perrez & Baumann, 2011, S.856) KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 19 4.1. Die Wirksamkeit der systemischen Therapie In einer Metaanalyse wurde erstmalig die Effizienz von systemischer Therapie bei Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen ausgewertet (Pinquart, Oslejsek & Teubert, im Druck), in der Studien bis zum Mai 2014 berücksichtigt wurden. Es wurden dabei ausschliesslich Studien (n=45) berücksichtigt, bei denen die Interventionen auf einem systemischen Theoriekonzept aufbauen, die kontrolliert und randomisiert waren, bei denen das Durchschnittsalter mehr als 18 Jahre war und der Hauptfokus der Studie auf der systemischen Therapie beruhte. Die systemische Therapie zeigte eine gegenüber Kontrollgruppen deutliche erhöhte Wirksamkeit, allgemein eine kurzzeitige und langzeitige mittlere Wirkstärke, was den bona fide Therapien entspricht. Sie war vor allem kurzzeitig den alternativen aktiven Behandlungsmethoden in der Wirksamkeit deutlich überlegen. Die Dropout-Rate war bei der systemischen Therapie niedriger, als bei anderen psychotherapeutischen Verfahren, was auf eine gute Akzeptanz der systemischen Therapie bei den Betroffenen schliessen lässt (Pinquart, Oslejsek & Teubert, im Druck). Zur Auswertung der Wirksamkeit der systemischen Therapie bei der depressiven Störung wurden sieben Studien eingeschlossen. Die systemische Therapie zeigte sich wirksam, jedoch im Gegensatz zu Essstörungen und schizophrenieformen Störungen war hier die Wirkstärke (g=0.38) tiefer als in der kognitiven Verhaltenstherapie (g=0.4 bis g=1.34). Die beiden Verfahren wurden jedoch bisher noch nicht direkt miteinander verglichen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die systemische Therapie aufgrund der aktuellen Wirksamkeitsnachweise nicht die erste Wahl für die psychotherapeutische Behandlung des depressiven Sydroms darstellt, dies zum aktuellen Zeitpunkt und mit der aktuellen Datenlage jedoch nicht abschliessend beurteilbar ist. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 20 4.2. Die Wirksamkeit der kunstorientierten Methoden Es existieren nach Recherche in PsyContent und Pubmed keine Studien zur Wirksamkeit der Expressive Art Therapy oder der kunstorientierten Methoden bei Depressionen. Das sinnvollste Vorgehen schien es zu sein, die Wirksamkeitsnachweise der künstlerischen Einzelmethoden darzustellen, auch wenn keine der Studien direkt den multimodalen Einsatz von künstlerischen Methoden im Sinne der kunstorientierten Methoden untersucht und sich die therapeutische Haltung bei den vorgestellten Studien deutlich von der zuvor beschriebenen unterscheidet. Es erscheint dennoch plausibel, dass eine Wirksamkeit bei den einzelnen künstlerischen Disziplinen zumindest Anhaltspunkte über die Wirksamkeit der kunstorientierten Methoden bei depressiven Erkrankungen geben kann. 4.2.1. Die Wirksamkeit von Tanz- und Bewegungstherapie und von körperorientierten Methoden Die Datenlage bezüglich der evidenzbasierte Behandlungselemente in der Rehabilitation von Patienten mit Depression wird in einem Review untersucht und es wird dabei auch auf die künstlerischen Therapien eingegangen (Dirmaier, Krattenmacher, Watzke, Koch, Schulz & Barhaan, 2010). Die Bewertung der Evidenz für die körperpsychotherapeutischen Verfahren und die Tanz- und Bewegungstherapie wird zunächst anhand des Reviews dargestellt. Für die Musiktherapie, die Maltherapie und das expressive Schreiben wird die Datenlage gesondert dargestellt. In der Tanz- und Bewegungstherapie wurden einige randomisierte und kontrollierte Studien veröffentlicht, jedoch wiesen sie schwerwiegende methodische Mängel auf. So wurden jeweils nur die direkten und unmittelbaren Auswirkungen der KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 21 Interventionen auf die Affekte bestimmt und somit lassen sie wenig Aussagen über den Verlauf der depressiven Störung zu. Auch zu den körperpsychotherapeutischen Verfahren gibt es keine hochwertigen Studien, inwiefern depressive Symptomatiken sich durch körperpsychotherapeutische Interventionen verändern lassen. Von den zwei vorhandenen Studien verwendete eine nur ein für dieses Verfahren entwickeltes Selbstbeurteilungsinstrument, bei dem keine depressionsspezifischen Verbesserungen festgestellt werden konnten. Die andere Studie war eine Kohortenstudie bei der lediglich 72 von 253 Patienten eine Depression hatten, es keine Kontrollgruppe und eine hohe Dropout Rate gab. Nach zwei Jahren zeigte sich eine deutliche Symptomverbesserung, die Übertragbarkeit ist aufgrund der langen Therapiedauer (sechs Monate bis sieben Jahre) schwierig und es fanden viele (52-105) Sitzungen statt. 4.2.2. Die Wirksamkeit der Kunsttherapie Im Bereich der Kunsttherapie gibt es eine randomisierte und kontrollierte Studie, die psychodynamische Kurzzeittherapie mit psychodynamischer Kunsttherapie in der Behandlung von depressiven Frauen vergleicht (Thyme et al., 2007). Es zeigte sich zwischen beiden Verfahren eine vergleichbare Wirksamkeit, wobei wegen des geringen Stichprobenumfangs (n=39), der Vernachlässigung von Störvariablen (Komorbidität, zusätzliche Therapiesitzungen) und der eingeschränkten Repräsentativität (nur Frauen, höherer Bildungsgrad) das Resultat nur eingeschränkt interpretierbar ist. 4.2.3. Die Wirksamkeit von expressivem Schreiben Es gibt keine Studien, die die Wirksamkeit bei Depressionen einer kreativen Schreibtherapie untersuchen. Eine Studie untersucht jedoch die Wirksamkeit von expressivem Schreiben auf eine depressive Symptomatik (Krpan et al., 2013), wobei die Diagnose einer depressiven Störung durch ein SKID Interview vor Studienbeginn gesichert wurde. Einer Stichprobe (n=44) wurde randomisiert entweder die Aufgabe KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 22 zugeteilt täglich während drei Tagen für 20min über ihre tiefsten Gedanken und Gefühle zu schreiben (Interventionsgruppe) und in der Kontrollgruppe in einem identischen Setting über Alltagsaktivitäten. Vor der Intervention, am fünften Tag und nach vier Wochen wurden Fragebögen ausgefüllt (Becks Depressions-Inventar (BDI), Patient Health Questionnaire-9(PHQ)). Es zeigte sich, dass die Werte sowohl des BDI als auch des PHQ direkt nach der Intervention und auch vier Wochen später in der Interventionsgruppe signifikant niedriger waren. Die Aussage der Studie wird eingeschränkt durch die kleine Stichprobe, die ungleiche Geschlechterverteilung (überwiegend Frauen), die ungenügende Abklärung von Co-Morbiditäten und der ausschliesslichen Selbstbeurteilung. Zudem fand keine ausführliche Erhebung und Auswertung der persönlichen Daten statt. Dennoch scheint trotz aller Einschränkungen, eine Veränderung der depressiven Symptomatik, zumindest bei gebildeten jungen Frauen durch expressives Schreiben stattzufinden. 4.2.4. Die Wirksamkeit der Musiktherapie Die Wirksamkeit von Musiktherapie wurde in einem systematischen Review (Gold, Solli, Kruger & Lie, 2009) bei psychischen Erkrankungen untersucht. Die Datenlage zeigte sich bereits vielversprechend, jedoch hatten die Studien methodologische Mängel. Um diese zu beheben, wurde in Finnland die Wirksamkeit von Musiktherapie auf das depressive Syndrom getestet (Erkkilä et al., 2011). Diese Studie wird ausführlich dargestellt, da sie, wie dann auch in der Diskussion ausgeführt, in ihrem Design ein gelungenes Beispiel für die Überprüfung der Wirksamkeit kunstorientierter Methoden darstellen könnte. Das Studiendesign wurde im Vorfeld veröffentlicht (, Tab 2). Eine einzeltherapeutische musiktherapeutische Intervention wurde in einer randomisierten und kontrollierten Studie (n=79) bei Erwachsenen mit der ICD-10 Diagnose einer rezidivierenden oder unipolaren depressiven Episode nach einem Mini-SCID randomisiert im Verhältnis 10:7 angeboten. Die Interventionsgruppe KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 23 (N=33) und die Kontrollgruppe (N=46) wurden von einem blinden klinischen Experten vor Beginn der Intervention untersucht. Tabelle 2: Übersicht über das Studiendesign (Erkkilä et al., 2008). Ausgeschlossen wurden 12 Teilnehmer aufgrund von wiederholtem suizidalem Verhalten in der Geschichte, einer so schweren Depression, dass eine aktive Teilnahme nicht möglich war oder aufgrund ungenügender Finnisch-Kenntnisse. Eine psychopharmakologische Medikation konnte beibehalten werden. Die Randomisierung zu den beiden Gruppen wurde von einer unabhängigen Person durchgeführt. Die Kontrollgruppe erhielt ein in Finnland übliches Behandlungsprogramm mit KurzzeitPsychotherapie, Antidepressiva und psychiatrischer Beratung. Die Intervention bestand aus zwanzig, zweimal wöchentlich stattfindenden Einzelsitzungen, in denen eine individuelle, auf dem Konzept einer psychodynamischen Musiktherapie beruhende, Behandlung angeboten wurde. Zehn nach höchstem finnischem Standard ausgebildete Musiktherapeuten (3 weiblich, 7 männlich) führten die Therapien unter häufiger KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 24 Supervision und Videoaufzeichnung durch. Alle Therapeuten erhielten im Vorfeld der Studie ein 15 Monate dauerndes Training in dem angebotenen Musiktherapiekonzept. Die Stichprobe bestand zu 62% aus Frauen, war durchschnittlich 35,65 Jahre alt, zwischen Kontrollgruppe und Interventionsgruppe bestanden in keinem Merkmal (schwere der Depression, Angst, musikalischer Hintergrund, Medikation, und psychiatrischen Testergebnissen) statistisch signifikante Unterschiede. 15 Klienten brachen aus medizinischen Gründen oder Motivationslosigkeit die Studie ab, prozentual mehr in der Kontrollgruppe. Nach drei und nach sechs Monaten wurden alle Teilnehmer von einem blinden klinischen Experten untersucht. Primär für den Outcome war die depressive Symptomatik (MADRS). Sekundär wurde auch die Angstsymptomatik (HADS-A), das soziale Funktionsniveau (GAF), die Lebensqualität (RAND-36) und die Alexithymie (TAS-20) untersucht. Als Therapieerfolg wurde eine 50% Reduktion im MADRS festgelegt. Nach drei Monaten zeigten sich sowohl bei der depressiven Symptomatik, bei der Ängstlichkeit und beim sozialen Funktionsniveau statistisch signifikante Verbesserungen in der Interventionsgruppe, die sich nach sechs Monaten leicht annäherten und somit statistisch nicht mehr signifikant waren, jedoch tendierten die Unterschiede zwischen den Gruppen dazu erhalten zu bleiben (siehe Tabelle 3). KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 25 Tabelle 3: Veränderungen in Testungen. (a) Montgomery-Asberg Depression Rating Scale; (b) Hospital Anxiety and Depression Scale – Anxiety; (c) Global Assessment of Functioning; (d) Toronto Alexithymia Scale – 20; (e) Health-related quality of life scale RAND-36. * P<0,05 (Erkkilä et al., 2011). Der Therapieerfolg unterschied sich statistisch signifikant zur Kontrollgruppe. Die Effektstärke lag im mittleren bis hohen Bereich (depressive Symptomatik g=0,65; Ängstlichkeit g=0,49, soziales Funktionsniveau g=0,62). Die NNT (number needed to treat) lag bei vier. Die ganze Studie beruhte auf dem Intention-to-treat Prinzip, deswegen ist es wahrscheinlich, dass die Effekte eher unterschätzt werden. Die Studie lässt einige Fragen unbeantwortet. Sie analysierte nicht, welche Komponenten der angebotenen Intervention zu dem verbesserten Therapieerfolg führten. Auch war die Stichprobe zu klein, um eine Veränderung nach sechs Monaten statistisch signifikant aufzuzeigen. Es gelang jedoch sehr deutlich zu zeigen, dass der Einsatz von Musiktherapie bei Menschen, die an einer Depression leiden die Symptomatik deutlich verbessern kann und eine höhere Therapieerfolgsrate ermöglicht, auch wenn in einer Kontrollgruppe bereits eine hochwertige Standard-Therapie angeboten wird. 5. Reflexion der Praxis der kunstorientierten systemischen Therapie In diesem Abschnitt möchte ich meine eigene, bereits seit Jahren praktisch angewendete therapeutische Praxis darstellen, die ich als kunstorientierte systemische Therapie bezeichne. Während in den Kapiteln zwei und drei eher die theoretischen Hintergründe erläutert wurden, und eine therapeutische Haltung herausgearbeitet wurde, werden in diesem Kapitel anhand der therapeutischen Beispiele auch einzelne therapeutische Methoden vorgestellt, die in der systemischen Therapie und in den kunstorientierten Methoden angewendet werden. Dabei handelt es sich um einzelne herausgegriffene Elemente, die niemals die Vielfalt der therapeutischen Interventionen wiedergeben können. Die drei folgenden Therapieausschnitte entstammen meiner KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 26 Praxis, sind jedoch so abgewandelt, dass die Personen nicht wiedererkennbar sind. Zunächst werde ich jeweils einen kurzen Ausschnitt aus dem therapeutischen Prozess darstellen und ihn dann aus einer theoretischen Perspektive metakommentieren. 5.1. Eine Begegnung gestalten In diesem Beispiel möchte ich einen Eindruck vermitteln, was ich unter der Begegnungsgestaltung in einem sozial-konstruktivistischen Sinne verstehe und wie die kunstorientierten Methoden dazu beitragen können. 5.1.1. Fallbeschreibung: Frau K. ist eine 42-jährige Frau, die mir zum Erstgespräch gegenüber sitzt. Sie ist gepflegt gekleidet, das Gesicht ist geschminkt und die Mimik wirkt wenig lebendig, fast ein wenig maskenhaft, sehr kontrolliert. Als sie zu erzählen beginnt, was sie zu mir führt, beschreibt sie ihre komplexe familiäre Situation mit einer Tochter im Teenagereltern, einer zerrütteten Ehe und der Anstrengung, die es sie koste, ihre Arbeit in einem verantwortungsvollen Job aufrecht zu erhalten. Sie erzählt dabei, als ob sie das Leben einer fremden Frau schildere. In der Stimme fehlt die affektive Modulation. Das Leid, in dem sie steckt, ist aus der Schilderung heraus nachvollziehbar, jedoch wird es für mich nicht spürbar. Bei der Auftragsklärung arbeiten wir heraus, dass sie sich wünscht wieder souveräner im Umgang mit ihrem Leben und den auftretenden Herausforderungen zu werden. Während sie erzählt, wertet sie sich immer wieder dafür ab, dass sie nun hier in Psychotherapie sitze, dass sie gegenüber ihrer Tochter so viel falsch gemacht habe und dass sie ihren Mann verstehen könne, der von ihr enttäuscht sei. Wir entwickeln gemeinsam eine Skalierung ein, zwischen souveränen Umgang mit den Herausforderungen und völliger Hilflosigkeit. Durch das bisherige Gespräch sei sie noch weiter Richtung Hilflosigkeit gerutscht, all diese Gedanken verdränge sie sonst, sie wisse gar nicht, ob es ihr gut tue darüber zu sprechen. Ich frage sie, ob sie sich KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 27 vorstellen könnte, sich auf ein Experiment einzulassen. Ich biete ihr zwei Interventionen an und sie entscheidet sich nach meinen Erklärungen dafür, einmal auszuprobieren, wie es wäre, wenn sie ihre eigene Situation aus den Augen einer Freundin schildern würde. Ich lade sie ein einen dritten Stuhl im Raum zu platzieren und fordere sie dazu auf, sich wie wenn sie eine Theaterrolle spielen würde, in die Rolle ihrer Freundin Gaby einzufühlen. Ich lasse sie die Körperhaltung der Freundin einnehmen und sich ihre Kleider vorstellen. Ich bitte „Gaby“ dann, mir zu erzählen, wie es dazu komme, dass ihre beste Freundin die Hilfe einer Psychotherapeutin in Anspruch nehme. Als die „Freundin“ erzählt, wird deutlich wie grosse Sorgen diese sich macht, die Stimme klingt weicher und modulierter. Ich spreche sie darauf an und befrage sie zirkulär, wie es denn komme, dass ihre Freundin die Geschichte so anders erzähle. „Gaby“ erzählt von der starken Selbstabwertung und Selbstverurteilung ihrer Freundin, die mit sich so kritisch umgehe, immer alles perfekt sein müsse und die so oft die Verantwortung und Schuld bei sich suche. Auf die Frage, was sie denn ihrer Freundin schenken wollen würde, antwortete sie, dass sie sie gerne in den Arm nehmen würde. Dabei rollen ihr einige Tränen über die Wangen. Wünschen würde sie Frau K., dass sie spüren könne, was sie in ihrem Leben alles toll mache. Sie bewundere ihre Freundin oft, wie es ihr gelinge in dieser schwierigen Situation noch zu funktionieren. In der Reflexion des Interviews, ist Frau K. sehr nachdenklich, ihre Gesichtszüge wirken weicher, die Schminke ist leicht verlaufen. Frau K. möchte die Sitzung beenden, es sei für heute genug. Ich bitte sie kritisch zu prüfen, ob ihre Freundin mit ihren Vermutungen Recht haben könnte. Auf der Skala hat sich ihr Befinden nun deutlich Richtung Souveränität verschoben. Ich gebe ihr das Experiment mit, auszuprobieren was passiert, wenn sie sich im Alltag versucht, aus der Perspektive ihrer Freundin anzuschauen. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 28 5.1.2. Methodenreflexion: Während die Klientin mir schildert, was die Themen sind, die sie zu mir führen, höre ich ihren Worten zu und prüfe gleichzeitig, welche Impulse in mir spürbar werden. Ich beginne, Hypothesen (siehe Kapitel 2.2) darüber zu bilden, mit welchen Regeln, Vorstellungen, Gesetzen und Überzeugungen sie ihre Rolle in ihrem System gestaltet. Gleichzeitig versuche ich auf der Gesprächsebene gemeinsam mit ihr einen ersten therapeutischen Auftrag zu entwickeln. Anders als in der rein lösungsorientierten Therapie (de Shazer, 2009), lasse ich der Klientin Zeit, um auch ihr Problemsystem zu schildern. Dies ist für mich eine wichtige Quelle von Hypothesen und dient dem Pacing (Schmidt, 2013) und dem Respekt und der Wertschätzung für ihre bisherigen Lösungsversuche. Wichtig dabei ist mir in einer der systemischen Therapie entspringenden Haltung der Veränderungsneutralität (Levold & Wirsching, 2014) zu bleiben, da nur sie entscheiden kann, ob der Preis, den sie für eine Veränderung zahlen müsste, zu hoch sein könnte. Hier kann ich ihr wiederum nur begleitend zur Seite stehen. Der Auftrag, den die Klientin formuliert, passt zu meiner Hypothese, dass Frau K. eine ausgesprochen verantwortungsbewusste, sich sehr für andere engagierende Frau sein könnte, die in ihrem Leben viel Platz ihren Pflichten gegeneben hat, so dass für die Verarbeitung der schwierigen Themen wenig Raum vorhanden geblieben ist. Gleichzeitig war es möglicherweise auch sinnvoll ihren inneren Raum zu verkleinern, da sie sich über ihre Gedanken und Gefühle wie im Gespräch wohl immer weiter in eine Problemtrance (Schmidt, 2013) gedacht hätte. Im Sinne der Erweiterung der Wahlmöglichkeiten biete ich fast immer mehrere Interventionen an, aus denen die Klientin auswählen kann. Dies stärkt auch bereits über die getroffene Entscheidung die Selbstwirksamkeit. Die Intervention in ein Rollenspiel mit der besten Freundin zu gehen, könnte sowohl der systemischen Therapie als auch den kunstorientierten KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 29 Methoden zugeordnet werden. Aufgrund der Fokussierung auf die sinnlichen Aspekte, würde ich sie eher, als eine Intervention aus den kunstorientierten Methoden einordnen. Das Anbieten dieser Intervention diente dem Ziel die Hypothese, die in mir von all den möglichen Hypothesen am meisten Resonanz erzeugt hatte, von der Klientin überprüfen zu lassen und ihr eine Wahlmöglichkeit (siehe Kapitel 2.4) im Sinne einer alternativen Welterfahrung (siehe Kapitel 3.2) anzubieten, und eine andere Selbstbeziehung auszuprobieren. In meiner praktischen Erfahrung spielt die Selbstbeziehung in der Aufrechterhaltung von depressiven Symptomen oftmals eine wichtige Rolle und das Konzept der Selbstfreundschaft (Schmid, 2008) ist für mich zentraler Bestandteil von vielen Interventionen. 5.2. Etwas ganz anderes tun In diesem Fallbeispiel soll die Technik des Dezentrierens vorgestellt werden. Es ist ein Beispiel, in dem durch eine kunstorientierte Methode ein relativ rascher Wechsel in einen ressourcourcenreicheren Zustand möglich ist und ein gemeinsames Werk entsteht. 5.2.1. Fallbeschreibung: Es ist die zweite Sitzung mit Herr F., einem 50-jährigen Ingenieur, der mit weinerlicher Stimme, immer wieder die Hoffnungslosigkeit seiner Situation erläuterte. Er war psychomotorisch angetrieben, stand immer wieder im Gespräch auf, schüttelte fast stereotyp wirkend den Kopf und liess resigniert immer wieder Hände und Schultern sinken. Direkten Blickkontakt vermied er. Als Ziel liess sich herausauarbeiten, dass er sich wünschte, sich nicht mehr so hilflos, sondern als Handelnder zu erleben. Er konnte sich aber nicht vorstellen, wie dies gehen könnte. Ich schlug ihm vor, für ein paar Minuten etwas völlig anderes zu machen. Er konnte sich nach einigen Informationen, über das Konzept das dahinter steht, auf das künstlerische Arbeiten mit Ton einlassen. Wir wechselten Stühle und ich wechselte in KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 30 meine Rolle als Kunst-Coachin, erklärte ihm, dass es nicht um Fähigkeiten gehe, sondern um den Prozess des Tuns, dass er seinen Händen freien Lauf lassen könne, dabei vielleicht auch die Augen schliessen und das Material erspüren könnte. Tatsächlich schloss er die Augen und die Finger bewegten sich zunächst zögerlich, dann jedoch immer entschlossener, er atmete hörbar, schon bald stand er mit halbgeschlossenen Augen auf, bearbeitete den Lehm mit steigender Intensität. Die Bewegungen werden rhythmischer, und nach einem genickten Einverständnis nahm ich ein Djembe, und fing an, ganz fein in seinem Bewegungsrhythmus zu trommeln. Seine Bewegungen gewannen dabei noch weiter an Kraft, und ich passte mein Trommeln an. Er begann den Lehm immer heftiger auf den Tisch zu schlagen. Er wurde langsamer und die Hände begannen wieder mehr zu formen. Als er fertig war, legte ich das Djembe zur Seite und wechselte wieder in meine Rolle als Therapeutin und wir wechselten zurück auf die Gesprächsstühle. Sein Werk nahm Herr F. mit. Herr F. war einen ganzen Moment lang still, dann schaute er lange auf die Formen, die unter seinen Händen entstanden waren. Er war sehr überrascht über die Kraft und auch die Wut, die er in sich gespürt hatte. Er nannte sein Werk „George“. Wir besprechen miteinander, was sich denn ändern würde, wenn er in Zukunft „George“ häufiger spüren könnte, wer dies als erstes bemerken würde, und was auch gute Gründe sein könnten, dass er „George“ in den letzten Monaten nicht mehr gelebt hatte. Diese Frage überraschte ihn, er wusste keine Antwort darauf. Ich las ihm eine Passage aus einem Brief von Rilke (2007) über die Kostbarkeit von Fragen vor. Ich gab ihm die Anregung mit, diese Frage mit sich zu tragen und gelegentlich zu prüfen, ob es bereits Zeit für eine erste Antwort sein könnte. Wir verankerten die Erfahrung „George“ sinnlich körperlich, um sie für ihn abrufbar zu machen. Es fällt auf, wie Herr F. im aktuellen Zustand ganz anders auf seine Situation schaut, und sie auch KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 31 anders beschreibt. Trotz bleibender Schwierigkeiten erscheinen Veränderungen möglich. 5.2.2. Methodenreflexion: Die Methode der künstlerischen Dezentrierung (siehe Kapitel 3.2), also „etwas ganz anderes“ tun, hat sich in meiner Praxis speziell bei Menschen bewährt, die sehr in ihren Gedanken festhängen und nach Verstörungen durch Fragen immer wieder in vorgedachte Gedankenspiralen zurückkehren. Die Dezentrierung mit ihrem radikalen Verlassen des verbalen Austausches über ein Thema, in der auch ich meine Rolle zu einem Kunst-Coach verändere, ist in meinem Erleben stärker verstörend, als die kreativen Methoden der systemischen Therapie (Levold & Wirsching, 2014, S.234250). Der Fokus der Aufmerksamkeit wechselt zum künstlerischen Prozess und zum entstehenden Werk. Durch das Erschaffen eines Werkes entsteht die Möglichkeit gemeinsam aus dem therapeutischen Prozess herauszutreten und eine gemeinsame und sinnlich erfahrbare alternative Welterfahrung (siehe Kapitel 3.2) zu schaffen. Über die sinnliche Erfahrung entsteht ein unmittelbarer Kontakt mit der Körperlichkeit und somit auch mit anderen emotionalen Energien des Körpers. Über diese Erfahrung werden andere Erlebnisnetzwerke (Schmidt, 2013) und somit andere Fühl-, Denk-, und Verhaltensweisen (Ciompi, 1997) aktiviert. Die Reflexion des künstlerischen Prozesses bedeutet gemeinsam verstehen zu lernen, wie es Herrn F. gelingen konnte, seine Ressourcen zu aktivieren um wieder gestalterisch tätig werden zu können. Also geht es darum, das von Herrn F. unwillkürlich Erlebte auch dem bewussten Denken zugänglich zu machen. Durch das gemeinsam Erlebte, kann ich auch meine eigenen Wahrnehmungen und Impulse Herrn F. anbieten. Gelegentlich biete ich an, mich an dem künstlerischen Prozess aktiv zu beteiligen, wie hier durch das Trommeln geschehen. Wiederum fusst mein Angebot auf einer Hypothese. Ich hatte die Vermutung, dass es für Herr F. eher ein neues Muster sein KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 32 könnte, sich in einem intensiven Prozess begleiten und unterstützen zu lassen, anstatt sich alleine durchzukämpfen. Ich wollte also mit meiner Begleitung einen Unterschied machen, der einen Unterschied macht (Bateson, 1982, S.582). Herr F. bestätigte mir in einem späteren Gespräch diese Hypothese. Was während dieses kunstorientierten Prozesses sichtbar wurde, war die Veränderung von Sprache, Körperhaltung, Mimik, Blickkontakt und Stimmmodulation. Durch die gestaltende Kunst ist direkt ein fassbares Werk entstanden, dass die Verknüpfung mit der gemachten Erfahrung auch ausserhalb des therapeutischen Settings erleichtert. Es entsteht ähnlich einem Ritual (Eberhart & Knill, 2009, S39f.) ein mit Bedeutung aufgeladenes Objekt „George“. Durch die Kommunikation über das Werk entsteht häufig auch eine bildhaftere, sinnlichere Sprache, die mit ihren Metaphern aus den engen Sprachschablonen ausbricht und nicht mehr mit den vorbestehenden Gedankenspiralen ins Problemerleben verbunden ist. Nach Luhmann (siehe Kapitel 2.4) ist die Veränderung des kommunikativen Prozesses über ein Thema im Zentrum der systemischen Therapie. Hier zeigt sich in meinem Verständnis deutlich, wie kunstorientierte Methoden und systemische Therapie sich in ihrer Wirkung wechselseitig verstärken. Die Abklärung von Auswirkungen der möglichen Veränderung ist zentraler Bestandteil der systemischen Therapie (siehe Kapitel 2.5) und der Preis der Veränderung, so meine Hypothese, wird im weiteren Verlauf zu einem zentralen Inhalt der Therapie werden. Der Text von Rilke ist als eine weitere kunstorientierte Intervention zu verstehen, um die metaphorisch-bildhafte Sprache zu fördern und damit auch gerade bei Menschen mit linearem Leistungsdenken, den Druck wegzunehmen, auf alle Fragen gleich Antworten wissen zu müssen und stattdessen für prozesshafte, langsam entstehende Antworten und die Kostbarkeit von Fragen zu werben. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 33 5.3. Das Kristallisieren In diesem letzten Fallbeispiel soll die Intermodalität der kunstorientierten Methoden im Zusammenspiel mit systemischen Methoden praktisch dargestellt werden. Es soll verständlich werden, wie durch den Wechsel der Kunstmodalitäten ein wichtiges Bedürfnis für die Klienten herauskristallisiert und genutzt werden kann. 5.3.1. Fallbeschreibung: Frau R. ist eine 25-jährige, schlanke Frau, in abgetragen wirkenden Kleidern, die zu mir in Einzeltherapie kommt, jedoch auch an einem Gruppenangebot teilnimmt. Sie berichtet schon seit Jahren immer wieder an Phasen tiefer Niedergeschlagenheit zu leiden. Zunehmend habe sie jedoch auch Magenbeschwerden, sie könne nachts nur noch mit hochgestelltem Bett schlafen, die Schmerzen seien teilweise fast „unerträglich“. Ihr Hausarzt gehe von einer psychosomatischen Beschwerde im Rahmen der Depression aus. Ziel für die Therapie sei es für sie, dass die Bauchschmerzen nicht mehr kämen. Ihre bisherigen Lösungsversuche waren Tabletten einzunehmen, sich ins Bett zu legen, einen warmen Tee zu trinken und abzuwarten. Über Fragen nach Ausnahmen, nach verschlimmernden Umständen und zirkulärem Fragen über die Auswirkungen des Symptoms im System, konnte ich eher nachvollziehen, wie das Symptom in das Leben der Klientin eingebunden war. Dennoch machten die Fragen, genau wie die „Wunderfrage“, in ihrem Erleben keinen Unterschied in ihrem Denken oder ihrem Empfinden. Ich schlug ihr vor, etwas ganz anderes zu tun. Sie willigte ein. Wir stellten uns in eine andere Ecke des Raumes, die ich zuvor mit Seilen als eine Bühne markiert hatte und fragte sie, welcher Titel ihr für ein Theaterstück mit einem Happy-End gerade einfallen würde. Sie entscheidet sich für „Der Weg zur Freiheit“. Ich fragte sie nun, als Regisseurin dieses Theaterstücks, über das Bühnenbild und das KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 34 Casting aus. Die Hauptrolle hätte die junge Frau Andrea, die zu Fuss, auf dem Weg durch eine wilde Landschaft sei, immer auf der Wanderung um einen Ort zu finden, an dem sie sich wohl fühlt. Andrea würde beim Happy-End entdecken, dass sie diesen Wohlfühlort in sich trägt. Ich gab ihr die Anregung mit ein Drehbuch für dieses Theaterstück zu schreiben und in der nächsten Gruppentherapie wollte sie dieses Theaterstück aufführen. Als Frau R. in der nächsten Gruppentherapie Andrea die Anweisungen gibt und der Gruppe die Szenerie beschreibt, merkt sie, wie in ihr ein Gefühl von Einsamkeit aufsteigt, dass sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Sie entschied sich spontan das Drehbuch zu ändern und eine Lagerfeuerszene darstellen zu lassen. Sie ging auf meinen Vorschlag ein, die im Kreis sitzenden Schauspieler Lieder singen zu lassen. Einer der Teilnehmer konnte tatsächlich Gitarre spielen und stimmte ein Lagerfeuerlied an. Während Frau R. zuhörte, begann ihr Bauch zu schmerzen. Sie wollte zunächst das Theaterstück abbrechen und nach Hause gehen, wir vereinbaren ein Time-Out. Sie meinte, dass sichzurückziehen ihrem üblichen Muster entsprechen würde und erklärte sich bereit einen anderen Weg zu probieren. Ich bot ihr die Rolle der Hauptdarstellerin zu übernehmen. Sie kann sich dazu durchringen, es zu probieren. Jeder Muskel in ihrem Körper scheint sich anzuspannen. Dann beginnen die Schauspieler zu singen, sie blickt in die Runde, die Frau neben ihr legt ihr die Hand um die Schulter. Frau R. beginnt lautlos schluchzend zu weinen. Die Musik geht weiter, ihre Schluchzer werden rhythmischer und sie beginnt mitzusummen. In der Reflexion meint sie, dass es ein wundervolles Gefühl gewesen sei, in der Gruppe mit ihren Tränen akzeptiert zu werden. Die Bauchschmerzen hätten während des Weinens nachgelassen, und es habe sich ein angenehmes Gefühl in ihrer Brust gesammelt. Dieses sei wie ein oranger, weicher Ball in der Mitte ihrer Brust, der Wärme ausstrahlt und die Farben um sie herum leuchtender mache. Ich biete der ganzen Gruppe KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 35 an, von denen viele ebenfalls in Kontakt mit intensiven Gefühlen gekommen sind, sich Farben auszuwählen und mit geschlossenen Augen und direkt mit den Fingern zu malen zu beginnen. Bei Frau R. entsteht ein Bild in leuchtendem Orange, vermischt mit einem Grasgrün, durch die intensiven Kontrastfarben extrem leuchtend. Als sie mit offenen Augen weitermalt arbeitet sie die Formen eines angedeuteten grüngrauen Gesichtes heraus, das von einer orangen Blüte umhüllt wird. Bis zum nächsten Mal wollte sie sich für dieses Bild einen Rahmen suchen und es über ihrem Bett aufhängen. Bei der nächsten Einzelsitzung meldete sie zurück, dass die Bauchschmerzen zwar immer noch kämen, sie jedoch, wenn sie das Bild anschaue, sie mit ihnen besser umgehen könne. Sich das Orange vorzustellen tue ihr dann gut. 5.3.2. Methodenreflexion: Die systemischen Fragetechniken helfen mir in diesem Beispiel Hypothesen über die Funktion des Symptoms in dem System der Klientin zu generieren, jedoch verändert sich bei Frau F. wenig auf der emotionalen Ebene. Es entsteht kein Unterschied, der einen Unterschied macht (Bateson, 1982, S.582). Etwas ganz anderes zu tun, also eine Dezentrierung anzubieten (siehe Kapitel 3.2) macht einen Unterschied. Der Unterschied, der dann wirklich einen Unterschied macht, ist eine Veränderung des Drehbuchs. Der Auftrag, den Frau F. zunächst in der Therapie gegeben hatte, war die Begleitung zu einer stärkeren Individuation, so waren auch alle bisher versuchten Lösungsversuche bei den Bauchschmerzen weitere Individuationsinterventionen. Eigentlich lag in ihr die Sehnsucht nach einer Bezogenheit zu anderen Menschen, die sie verlernt hatte zu spüren. Über diese Bezogenheit als Akteurin in ihrem Theaterstück, kann sie sich im Malen eine aus der Bezogenheit entstehende Individuation, oder der „bezogenen Individuation“ wie Stierlin (2003) es bezeichnete, erschaffen. Dieses Beispiel zeigt auf wie durch die kunstorientierten Methoden eines der systemischen Kernkonzepte für Frau F. erlebbar wird. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 36 Dieses Beispiel veranschaulicht auch, wie jede der kunstorientierten Methoden ihre eigene Ausdrucksformen oder Sinnlichkeit hat (siehe Kapitel 3.3), wodurch bei jedem Wechsel der künstlerischen Disziplin im Sinne des Konstruktivismus (siehe Kapitel 2.5) eine andere Wirklichkeitskonstruktion angeboten wird. Durch das Erleben dieser unterschiedlichen Wirklichkeiten, oder alternativen Welterfahrungen, und ihrer Reflexion kristallisiert sich ein für Frau F. als zentral erlebtes Bedürfnis heraus, dass zunächst gelebt werden möchte, bevor weitere Schritte möglich werden. Abschlussbemerkung zu den Beispielen: Die Beispiele schienen mir passend, meine therapeutische Haltung zu reflektieren, um einige der zentralen Konzepte und einzelne von mir verwendeten Interventionen darzustellen. Es sind für mich Momente in denen der Zugewinn der kunstorientierten Methoden in der systemischen Therapie deutlich sichtbar wurde. Sie stellen jedoch gleichzeitig auch eine Vereinfachung dar, die dem therapeutischen Arbeiten und seiner Vielfältigkeit nicht annähernd gerecht werden kann. 6. Diskussion Diese Arbeit versucht die Hypothese zu verifizieren oder falsifizieren, ob die kunstorientierten Methoden die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei der psychotherapeutischen Behandlung der depressiven Störung erhöhen. In diesem letzten Teil dieser Arbeit, werde ich zunächst die bisherigen Resultate zusammenfassen, dann diskutieren, was dies für die Synthese von kunstorientierten Methoden und systemischer Therapie bedeuten könnte, um zum Abschluss meine Hypothese zu verifizieren oder zu falsifizieren und einen möglichen Ausblick zu bieten. 6.1. Diskussion der bisherigen Befunde Die Interventionen der systemischen Therapie beruhen (siehe Kapitel 2) auf einem sehr breiten und durch die Überlegungen vieler Naturwissenschaftler, Forscher und KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 37 Philosophen durchdachten Grundsätzen und wurden bereits wiederholt auch kontrovers diskutiert. Dadurch wirkt das theoretische Konzept der systemischen Therapie sehr viel ausgereifter und stabiler als dasjenige der kunstorientieren Methoden, das vor allem auf den Gedanken von Eberhart und Knill (2009) beruht. Dadurch lässt sich ein sehr viel klareres Bild herausarbeiten, was unter systemischer Therapie verstanden wird und ermöglicht damit auch eine gezielte Erforschung der Wirksamkeit der systemischen Methoden. Was die Integration der kunstorientierten Methoden in die systemische Therapie erleichtert, ist, dass beide Therapieformen aus einer sehr ähnlichen Haltung angeboten werden, die sich auf den sozialen Konstruktivismus beziehen (siehe Kapitel 2.5). Dadurch können die Interventionen der systemischen Therapie und der ausdrucksorientierten Methoden ohne grössere Anpassungen der theoretischen Konzepte angeboten werden, was auch meiner Erfahrung entspricht. Bei der systemischen Therapie ist die Wirksamkeit mittlerweile gut durch randomisierte und kontrollierte Studien in der Behandlung der depressiven Störung solide belegt, auch wenn die Wirksamkeit geringer ist, als zum Beispiel bei den Essstörungen und der Schizophrenie. Die kürzlich erschienene Meta-Analyse von Pinquart et al. (im Druck) erscheint qualitativ hochwertig. Interessanterweise weist die kognitive Verhaltenstherapie gegenüber der systemischen Therapie gerade bei der depressiven Störungen nach aktueller Datenlage eine höhere Wirksamkeit auf, jedoch ohne bisher gegeneinander verglichen worden zu sein. Bei den kunstorientierten Methoden ist die Datenlage zur Wirksamkeit sehr viel weniger aussagekräftig. Sowohl die kunstorientierten Methoden als auch die Expressive Arts sind in Bezug auf die Wirksamkeit bei Depressionen wissenschaftlich nicht überprüft. Wirksamkeitsnachweise für die Behandlung der Depression haben in sehr unterschiedlichem Umfang hingegen die einzelnen kunsttherapeutischen Disziplinen KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 38 erbracht, wobei die Interventionen, die auf ihre Wirksamkeit untersucht werden, zwar von der künstlerischen Modalität den einzelnen künstlerischen Modalitäten der kunstorientierten Methoden entsprechen, jedoch die zugrunde liegenden therapeutischen Konzepte ausgesprochen divers sind. Keine der Studie arbeitet heraus, was genau die Wirkfaktoren bei den Interventionen sind, so dass die Anwendung der Ergebnisse auf die kunstorientierten Methoden noch weiter eingeschränkt wird. Dennoch erscheint es mir plausibel, dass bei allen formulierten Einschränkungen, die Wirksamkeitsnachweise der künstlerischen Therapieformen, eine gewisse Relevanz auch für die Wirksamkeit der kunstorientierten Methoden aufweisen. Die Musiktherapie hat anhand vor allem einer qualitativ exzellenten, kontrollierten und randomisierten Studie eine gute Wirksamkeit in einer Gruppe mit depressiver Störung zeigen können (Erkkilä et al., 2011). Die Wirksamkeit der Kunsttherapie, der Tanztherapie und der körperorientierten Methoden in der Behandlung der Depression kann als mittelgradig gesichert angesehen werden (Dirmaier et al, 2010). Das expressive Schreiben hat zwar eine gewisse Wirksamkeit gezeigt (Krpan et al, 2013), jedoch weist die Studie, obwohl randomisiert und kontrolliert, methodologisch viele Mängel auf. Dazu erscheint es zwar plausibel, jedoch keinesfalls gesichert, dass sich die Effekte des expressiven Schreibens auf das Schreiben in den kunstorientierten Methoden übertragen lassen. Zusammenfassend lässt sich die Datenlage zur Wirksamkeit der kunstorientierten Methoden als wenig aussagekräftig bezeichnen, es besteht allenfalls aufgrund der Nachweise der künstlerischen Einzelverfahren eine gewisse Plausibilität für eine Wirksamkeit. Beide Therapieverfahren sind im Vergleich zur kognitiven Verhaltenstherapie eher bescheiden erforscht, obwohl beide Therapieverfahren mittlerweile als gut etabliert gelten können. Möglicherweise ist der Grund dafür die die Lösungs- und Ressourcenorientiertheit der beiden Konzepte. Somit besteht gegenüber den aktuellen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-V und den klinisch gut evaluierten Fragebögen KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 39 mit den tendenziell psychopathologie-orientierten Items ernsthafte Kritik (siehe Kapitel 2.3). Diese kritische Haltung ist deutlich ausgeprägter als in der kognitiven Verhaltenstherapie. Zudem werden die für einen systemischen oder kunstorientierten Therapeuten zentralen Parameter des therapeutischen Prozesses in der aktuellen Wirksamkeitsforschung kaum berücksichtigt. Aus einer Haltung des sozialen Konstruktivismus heraus, geht es weniger eine Reduktion der Psychopathologie, sondern um Veränderungen z.B. vom Selbstwert, von salutogenetischen Faktoren, des Ressourcen-Zugriffs, der Qualität der sozialen Beziehungen, des Zugang zur Kreativität, des Sinnerlebens und des Selbstumgangs. Gerade in den kunstorientierten Methoden arbeiten zudem deutlich weniger Ärzte und Psychologen, also der Berufsgruppen, die in der Psychotherapieforschung am meisten Forschungsarbeiten publizieren. 6.2. Diskussion der Synthese von kunstorientierten Methoden und systemischer Therapie zur kunstorientierten systemischen Therapie bei der Behandlung der Depression Die systemische Therapie ist anderen Therapien, auch der kognitiven Verhaltenstherapie im Bereich der Schizophrenie und den Essstörungen zumindest ebenbürtig. Im Bereich der depressiven Erkrankungen ist sie von der Wirksamkeit her nach aktueller Datenlage der kognitiven Verhaltenstherapie unterlegen. Genau dieser Eindruck, dass bei Menschen mit depressiver Erkrankung die systemische Therapie eingeschränkt wirksam ist, war mir in meiner praktischen Tätigkeit auch aufgefallen. Gerade bei Menschen mit depressiven Symptomen fand ich den zusätzlichen Einsatz der kunstorientierten Methoden als besonders bereichernd. Die wohl zentralsten Therapiestrategien der kognitiven Verhaltenstherapie bei der Behandlung der Depression sind der Aufbau positiver Aktivitäten, die Verbesserung sozialer Fertigkeiten und das verändern von negativen Kognitionen (Hautzinger 2003). KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 40 Die Kernkompetenz der systemischen Therapie liegt wohl in der Verbesserung der sozialen Fähigkeiten, da die systemische Therapie ja explizit auf die Veränderung der Beziehungen in Systemen abzielt. Auch die Veränderungen von Kognitionen sind z.B. durch das zirkuläre Fragen und die Dekonstruktion von Wirklichkeitskonstruktionen zentraler Bestandteil jeder systemischen Therapie. Was möglicherweise in der systemischen Therapie weniger zentral verankert ist als in der kognitiven Verhaltenstherapie, ist die Arbeit an den positiven Aktivitäten. Diese werden von den systemischen Therapeuten weniger explizit eingefordert, sondern eher angeboten. Im systemischen Setting entsteht somit durch den Therapeuten ein geringerer Druck wodurch es den Klienten schwerer fallen könnte, Einengungen im Handeln zu Durchbrechen. Die kunstorientierten Methoden ermöglichen in den therapeutischen Sitzungen das direkte Erleben einer Selbstwirksamkeit, eines positiven Erfahrens eigener Gestaltungsräume und durch das entstehende Werk eine Erinnerung oder Verankerung dieser Energien. Dies könnte der systemischen Therapie durch die starke Fokussierung auf das sinnlich-Erlebnisorientierte ermöglichen, eines der Kernelemente der kognitiven Verhaltenstherapie, nämlich positive Aktivitäten zu fördern, in den therapeutischen Prozess zu integrieren. Durch die Integration der kunstorientierten Methoden könnte somit die sozial konstruktivistische Grundhaltung beibehalten werden, und dabei im therapeutischen Prozess der Erlebensaspekt gefördert werden. 6.3. Beurteilung der Hypothese und Ausblick Während ich diese Arbeit erstellt habe, hat sich für mich das, was ich aus meiner praktischen therapeutischen Arbeit bereits vermutet hatte, bestätigt. Die Konzepte und Methoden der systemischen Therapie um die kunstorientierten Methoden zu erweitern, scheint mir weiterhin ein vielversprechender Ansatz zu sein. Gerade im Bereich der depressiven Erkrankungen erscheint aufgrund der Resultate der Meta-Analyse zur KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 41 Wirksamkeit der systemischen Therapie die Suche nach ergänzenden Konzepten sinnvoll. Ich möchte die Hypothese, dass die kunstorientierten Methoden die Wirksamkeit der systemischen Therapie bei der psychotherapeutischen Behandlung der depressiven Störungen erhöhen nach dem jetzigen Kenntnisstand nicht verwerfen, kann sie jedoch auch (noch) nicht annehmen. Auf theoretischer und praktischer Ebene kann ich meine Erfahrungen bestätigen und daraus würde ich eine Erhöhung der Wirksamkeit vermuten, um die Hypothese jedoch annehmen zu können, fehlt die empirische Basis. Um die Hypothese annehmen zu können, müsste die kunstorientierte systemische Therapie in einem ersten Schritt zumindest in einer randomisierten und kontrollierten Studie eine Wirksamkeit in der Behandlung von Menschen mit einer depressiven Störung gegenüber einer Kontrollgruppe nachweisen. Vom Forschungsdesign her wäre eine Orientierung an der Wirksamkeitsstudie der Musiktherapie von Erkkilä et al (2011) wünschenswert, die in Kapitel 5b vorgestellt wurde. In einem weiteren Schritt sollte die Wirksamkeit mit anderen therapeutischen Verfahren, idealerweise der systemischen Therapie und der kognitiven Verhaltenstherapie verglichen werden. Der Vergleich mit einer Kontrollgruppe, die mit systemischer Therapie behandelt wird, würde ein Annehmen oder Ablehnen der Hypothese auf empirischer Basis ermöglichen. Der Vergleich mit einer Kontrollgruppe mit kognitiver Verhaltenstherapie als Intervention würde Aufschlüsse darüber geben können, ob die kunstorientierte systemische Therapie als ein Standardverfahren in der Behandlung der depressiven Störungen angesehen werden könnte. Sollte es die kognitive Verhaltenstherapie die Verfahrensweise sein, die die beste Wirksamkeit hat, würde ich Menschen, die an einer Depression leiden, an einen Kollegen empfehlen, der mit kognitiver Verhaltenstherapie arbeitet oder versuchen Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie in meine Therapie einzubauen, ohne jedoch meine therapeutische Haltung zu verändern. Die dargestellte KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 42 Art Menschen zu begegnen ist für mich nicht durch Wirksamkeitsstudien in Frage zu stellen, sondern entspricht meiner persönlichen Überzeugung. Beim Schreiben der Arbeit bin ich in eine zunehmende Ambivalenz geraten, da für mich die Lösungs- und Ressourcenorientierung ein zentraler Grundsatz ist und ich damit die Zweifel an einer psychopathologischen Ausrichtung der Wirksamkeitsforschung habe und ich mir gleichzeitig wünschen würde, dass die kunstorientierten Methoden ihre Wirksamkeit, die ich täglich erlebe, auch belegen könnten. Nur so würden die kunstorientierten Methoden mehr Menschen mit depressiven Symptomen angeboten werden können. Ich fände es auf übergeordneter Ebene für die Psychotherapieforschung zentral, dass mehr und mehr andere Faktoren als die Reduktion der Psychopathologie in der Wirksamkeitsforschung zentral werden. Für mich sollte die Steigerung der Lebensqualität der an einer depressiven Störung leidenden Menschen und nicht eine Abnahme der Psychopathologie im Zentrum des therapeutischen Tuns und der Psychotherapieforschung stehen. KUNSTORIENTIERTE SYSTEMISCHE THERAPIE 43 Literaturverzeichnis Anderson, H. (1999). Das therapeutische Gespräch: Der gleichberechtigte Dialog als Perspektive der Veränderung. Stuttgart: Klett-Cotta. Bateson, G. (1981). Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bateson, G. & Ruesch, J. (2012). Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie (2. Aufl.). Heidelberg: Carl Auer. Ciompi, L. (1997). Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik (3. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Bertalanffy, L. von (1968). General Theory of Systems: Foundations, development, applications (17. Aufl.). New York: Braziller. De Shazer, Steve (2012). 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