Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger

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Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger-Modell“
Systemische Therapie – ein Ausweg
aus dem „Krankheitserreger-Modell“
Neue Perspektiven für gesundes Aufwachsen
von Kathrin Forch
In der herkömmlichen Psychotherapie wird das Symptom in
der Regel als Eigenschaft eines Einzelnen angesehen. Dies
findet seinen Ausdruck auch in den diagnostischen
Vorgaben der Krankenkassen. Diese brauchen
eine einzelne Person, auf die sich Diagnose
und Behandlungsplan konzentrieren.
Wer sonst noch z.B. aus einer Familie
mit der Entstehung der „Störung“ zu
tun hat, ist erst einmal nachrangig.
Um eine Therapie zu bewilligen,
interessiert die Krankenkasse die
genaue Diagnose eines einzelnen Patienten und ein Behandlungsplan, der sich auf diesen
Patienten bezieht. Der diagnostizierte Patient erscheint oft als
der Schuldige, der durch seine
Krankheit das Funktionieren
der Familie stört. Dieses
„Krankheitserreger-Modell“
hängt mit einem Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen
zusammen und legt den Trugschluss
nahe, Heilung könne durch Eliminieren des störenden Verhaltens erreicht
werden, beispielsweise durch die Gabe von
entsprechenden Medikamenten oder durch Umlernen des unerwünschten Verhaltens in erwünschtes
Verhalten. Der Patient wird leicht zum Sündenbock und erscheint in diesem vereinfachten Denkmodell allein verantwortlich für all das, was schief läuft.
In unserer heutigen Gesellschaft ist der Druck auf Kinder und
Jugendliche, perfekt zu funktionieren, größer denn je. Sei es
in der Schule, im Sportverein oder beim Erlernen eines Instrumentes. Eltern stehen heutzutage vielfach unter einem Erfolgsdruck: Aus Angst vor dem möglichen sozialen Abstieg
erziehen sie das perfekte Kind. Nur wenn man in jungen Jahren das Beste aus seinen Kindern herausholt, kann aus diesen
später etwas werden. Der Grundstein für das Lebensglück
Der diagnostizierte Patient erscheint oft als
der Schuldige, der durch seine Krankheit das
Funktionieren der Familie stört.
wird in der Kindheit gelegt. So lautet der Trugschluss. Mit
steigendem Erfolgsdruck sinkt jedoch die Bereitschaft, abweichendes Verhalten zu akzeptieren. Verhaltensweisen, die früher noch als jugendtypisch angesehen wurden, gelten heute als Anzeichen einer psychiatrischen Störung.
Statt auf den Spielplatz schickt man
die Kinder heutzutage zum Therapeuten.
Foto: ASP Wegenkamp
Die Familientherapie hat in den
1960er Jahren den Blick vom
Einzelnen auf die gesamte Familie erweitert. Doch auch sie
blieb teilweise im kausalen
Denken verhaftet. So gerieten
nun zwar nicht mehr die Kinder, dafür aber deren Eltern –
und besonders die Mütter – als
Verursacher des Problems in den
Fokus. Die Schwierigkeiten, die
sich daraus ergeben, bleiben dieselben.
Die systemische Therapie ist nicht neu,
ihre Anfänge liegen bereits in den 1970er
Jahren. Auch gibt es nicht den einen systemischen Ansatz oder die eine systemische Therapie. Allen verschiedenen Ansätzen gemeinsam ist jedoch, dass sie
das lineare Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen überwinden und stattdessen eine zirkuläre Perspektive einnehmen. Seit 2009 besteht die Möglichkeit, systemisch zum Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zu approbieren. Für betroffene Familien und diejenigen, die mit ihnen arbeiten, bieten sich dadurch neue Möglichkeiten der Therapie und der
Bewältigung von leidvollen Situationen.
Grenzen des Ursache-Wirkungs-Denkens
Die Entdeckung, dass einer Wirkung eine Ursache vorangeht,
war ein immenser Fortschritt und legte die Grundlage für die
modernen Naturwissenschaften. Sicherlich musste der eine
oder andere Leser schon die Beobachtung machen, dass das
Marmeladenbrötchen herunterfällt, wenn man es loslässt –
dabei gerne auch auf die lecker bestrichene Seite. Und der
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KRANK GESCHRIEBEN?
Grund für die Kleckerei am morgendlichen Frühstückstisch
ist bekannt: Die Schwerkraft ist die Ursache, das auf dem Boden liegende Brötchen die Wirkung. Dieser einfache lineare
Zusammenhang lässt sich mit einer Kausalkette darstellen,
die nach Belieben in die Vergangenheit hinein verlängert
werden kann. Das Brötchen wäre nicht heruntergefallen, hätte
ich es besser festgehalten. Ich hätte es besser festhalten können, hätte ich mich nicht so erschrocken, weil mein Sohn in
seinem Zimmer so laut Musik gehört hat. Nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in unserem Alltag wenden
wir täglich Kausalketten an. Wir sind das Denken in
Ursache-Wirkungs-Beziehungen so gewohnt, dass es uns fast
nicht mehr auffällt.
Eltern stehen heutzutage vielfach unter
einem Erfolgsdruck: Aus Angst vor
dem möglichen sozialen Abstieg
erziehen sie das perfekte Kind.
zu senken, beispielsweise durch weites Öffnen der Fenster,
führen lediglich dazu, dass die Heizung noch stärker heizt, um
die Temperatur auf dem gewünschten Soll-Wert zu halten.
Das System strebt weiterhin nach seinem erwünschten Zustand und begegnet Versuchen von außen, diesen Zustand zu
ändern, mit Gegenmaßnahmen. Man könnte auch sagen, es
zeigt Widerstand.
Bei komplexen Phänomenen gerät dieses Denkmodell jedoch
an seine Grenzen. Stellen Sie sich eine Heizung vor mit einem
Dennoch handelt es sich bei der Heizung nur um einen sogeThermostat, mit dem eine gewünschte Temperatur
nannten einfachen Automaten. Die Heizung verfügt
eingestellt werden kann. Die Heizung beüber keine inneren Zustände, ihre ReaktioFoto: I. Breiholz
ginnt zu heizen. Ist die gewünschte
nen sind immer die gleichen und daher
Temperatur erreicht, erkennt das
auch von außen recht vorhersehThermostat dies und die Heibar. Wenn ich möchte, dass sie
zung schaltet sich ab. Der
stärker heizt, drehe ich das
Raum ist zunächst angeThermostat höher. Soll sie
nehm warm und beginnt
aufhören zu heizen, schaldann langsam, sich abzute ich das Thermostat
kühlen. Sinkt die Temaus. Stellen Sie sich nur
peratur unter den geeinmal vor, wie viel
wünschten Wert, schalkomplizierter die Lage
tet sich die Heizung
wird, wenn die Heizung
wieder ein und wärmt
innere Zustände, also
den Raum wieder auf.
Launen besäße, von deDaraufhin schaltet sie sich
nen ihre Reaktionen abhinwieder ab und so weiter. In
gen. Bei guter Laune und
der Mechanik wird dies als
Sonnenschein reagiert sie beim
selbst-regulierendes System beHöherdrehen des Thermostats mit
zeichnet. Fragt man nun: „Was ist die
mehr Heizen. Bei schlechter Laune
Ursache dafür, dass die Heizung aus ist?“,
hingegen mit weniger Heizen und bei Reso lässt sich diese Frage nicht beantworten. Sie ist
gen tut sie einfach gar nichts, egal wie viel ich
jetzt aus, weil im Raum die gewünschte Temperatur erreicht
schalte und drehe. Doch zum Glück können Heizkörper
wurde. Doch es macht keinen Sinn, das Zimmer dafür verantweder denken noch fühlen.
wortlich zu machen, dass es dort nun zu warm ist, schließlich
hat die Heizung selbst dafür gesorgt. Diese trägt jedoch auch
Familienmitglieder jedoch schon!!! Die systemische Therapie
keine Verantwortung dafür, dass sie geheizt hat, denn schließgeht davon aus, dass Familien ebenfalls sich-selbst-regulierenlich war das Zimmer zuvor kalt und hat dadurch selbst die
de Systeme sind, allerdings sehr komplexe. Die einzelnen MitHeizung zum Heizen angeregt … An dieser Stelle gerät man
glieder eines Familiensystems verfügen über unzählige innere
in eine Endlosschleife, wenn man nach einer linearen UrsaZustände und Reaktionsweisen und sind daher in ihrem Verche-Wirkungs-Beziehung sucht. Der Zusammenhang an diehalten in wesentlich geringerem Maße vorhersehbar. Schon
ser Stelle ist nicht linear, sondern zirkulär.
das simple Heizungsbeispiel hat gezeigt, dass lineares Denken
bei sich-selbst-regulierenden Systemen keinen Sinn ergibt –
das gilt genauso und erst recht bezogen auf eine Familie. Das
Die systemische Perspektive als Ausweg
lineare Denken in Kausalbeziehungen, dass in unserem Alltag
aus der Kausalitätsschleife
so nützlich und hilfreich ist, führt in der Psychotherapie in eine
Sackgasse, man endet in einer Endlosschleife und ist zusamWas hat eine Heizung nun mit Familien zu tun? Ganz einfach:
men mit dem Klienten gefangen in einem Teufelskreis aus geDie geschilderte Heizung mit dem Thermostat ist ein
genseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen.
sich-selbst-regulierendes System. Das bedeutet, es strebt nach
einem Soll-Zustand und hält diesen selbstständig aufrecht.
Ebenso hat das Heizungsbeispiel gezeigt, dass es unter UmEingriffe von außen mit dem Ziel, die Temperatur im Zimmer
ständen kontraproduktiv ist, einseitig auf das System einzu-
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wirken. Wenn wir uns vorstellen, dass das warme Zimmer ein
Symptom ist, dass therapiert werden soll, so wird schnell klar,
dass Maßnahmen wie das Öffnen der Fenster das Problem sogar noch verschlimmern: Die Heizung heizt mehr!
Menschen, die sich mit anderen in einem Konflikt befinden,
sehen häufig nur die eine Seite des Kreislaufes. Man erhält so
eine lineare Ursache-Wirkungs-Beziehung und steht im Einklang mit dem alltäglichen Denken. Eine Mutter bringt ihren
achtjährigen Sohn zur Therapie, weil dieser abends schreckliche Angst bekommt, er selber oder seine Familie könne sterben und daraufhin in Weinkrämpfe ausbricht. Die Mutter legt
sich dann zu ihm ins Bett und die Angst verschwindet. Jeden
Abend, wenn sie ihren Sohn ins Bett bringt, denkt die Mutter
„Hilfe! Was soll ich nur machen? Ich habe Angst,
dass er gleich wieder anfängt zu weinen.“ Der
Sohn spürt die Angst der Mutter und denkt
sich „Es wird sicher bald etwas Schreckliches passieren. Wenn sogar Mama
Angst hat, dann stimmt etwas nicht.“
Der Sohn fängt an zu weinen und
kann sich erst nach langem Zureden der Mutter beruhigen. Mit jedem Abend, der auf diese Weise
endet, steigert sich die Angst
der Mutter vor dem Weinen ihres Sohnes. Das spürt dieser
und bekommt daraufhin noch
mehr Angst. Durch einseitige
Maßnahmen ist beiden nicht
geholfen.
Das lineare Denken in Kausalbeziehungen
endet in einem Teufelskreis aus gegenseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen.
der Familie stört. Vielmehr wird das Problem als Wirklichkeitskonstruktion der Familie verstanden. Es wird durch das
System erzeugt und beeinflusst. Bewusst oder unbewusst
haben sich alle Beteiligten aus guten Gründen für die momentane Situation entschieden, deren Änderung derzeit einen zu hohen Preis haben würde und die daher beibehalten
wird. Unter dieser Perspektive werden Probleme immer als
Lösungsversuche der Klienten verstanden, die jedoch ihrerseits viele Nebenwirkungen nach sich ziehen und
daher als belastend, ungünstig und problematisch erlebt werden. Ziel der Therapie ist es
daher, die Klienten bei der Suche nach
einer passenderen Lösung zu unterstützen, die weniger Leidensdruck
erzeugt. Das Vorgehen ist dabei
konsequent
lösungsorientiert.
Durch den Fokus auf die Entstehungsgeschichte des Leidens
wird in Psychotherapien häufig
viel Zeit aufgewendet, ohne
dass dabei neue Impulse entstehen. Die systemische Therapie geht davon aus, dass es
sinnvoller ist, sich auf Wünsche, Ziele und Ausnahmen
vom Problem zu konzentrieren,
als in eine Problem-Trance zu
verfallen.
Der systemische Ansatz interessiert sich nicht vordergründig für
das Warum, sondern hauptsächlich
In diesem Sinne geht es immer auch
für das Wie. Warum-Fragen folgen eium Aufweichung festgefahrener Sichtner linearen Ursache-Wirkungs-Bezieweisen. Der Klient ist nicht per se depreshung. Warum macht das Kind ins Bett? WaFoto: ASP Wegenkamp
siv, trotzig, unkonzentriert, sondern eine Seirum streiten sich die Geschwister? Oder, um bei
te von ihm verhält sich unter bestimmten Umständem oben genannten Beispiel zu bleiben: Warum hat
den depressiv, trotzig, unkonzentriert usw. Das Symptom
der Sohn abends Angst, dass etwas Schlimmes passieren wird?
als Verhalten anstatt als Eigenschaft zu betrachten, eröffnet
Die systemische Therapie stellt die Selbstorganisation der FaHandlungsspielräume sowohl für den Therapeuten als auch
milie in den Mittelpunkt. Die Frage, wie diese sich um ein Profür die Familie. Das Symptom enthält (unbewusste) bezieblem herum organisiert. Sie fragt nicht nach den Gründen, sonhungsgestaltende Fähigkeiten (Auswirkungen) und (unbedern nach den Auswirkungen eines Verhaltens: Wie reagiert
wusste) Bedürfnis-informationen. Es gehört nicht einem
die Mutter, wenn das Kind nachts ins Bett gemacht hat? Was
Einzelnen, sondern allen Mitgliedern des Systems gleichermacht der Vater, während die Mutter fluchend die Bettwäsche
maßen, denn das Verhalten des Einzelnen stellt immer ein
wechselt? Wie verhalten sich die Eltern, wenn die Geschwister
Beziehungsangebot an die anderen dar, zu dem diese sich
sich streiten? Wie reagiert der Vater, wenn sich die Mutter jeverhalten müssen. Man kann sich nicht nicht verhalten! In
den Abend zum Sohn ins Bett legt?
der Therapie geht es darum, herauszufinden, welche Beziehungsinformationen und Bedürfnisse in dem Symptom entEs geht nicht darum, den „Krankheitserreger“ zu finden, der
halten sind und wie diese auf einer anderen, bewussten Ebedurch sein Verhalten die Gesundheit und das Funktionieren
ne berücksichtigt werden können, damit das Symptom seinen Dienst beenden und gehen kann.
Statt auf den Spielplatz schickt man die
Kinder heutzutage zum Therapeuten.
Welches System betrachtet wird, hängt von dem konkreten
Problem ab. Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich
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dabei zumeist um die Familie bzw. die Schule (oder auch
beides). Aber auch Arbeitskollegen, Vereine und Nachbarn können relevante Systeme bilden und Probleme erzeugen.
Zweck, das System zu stabilisieren. Eine zu schnelle Selbstständigkeit ihres Sohnes würde für die Mutter bedeuten, eine
wichtige Aufgabe zu verlieren und sich wertlos zu fühlen.
Unbewusst kann sie eine Selbstständigkeit ihres Jüngsten
nicht wollen!
Das Symptom und seine Funktion –
ein Fallbeispiel
Eine Therapie, die nur beim Sohn ansetzt, ist daher zum
Scheitern verurteilt. Auch lässt sich plötzlich gar nicht mehr
genau sagen, wer denn nun die Störung hat. Mutter und Sohn
erzeugen gemeinsam das Symptom. Es ermöglicht dem Sohn,
die Vorteile des Jüngsten zu genießen. Zudem bestimmt er,
was die Mutter alleine tun darf und was nicht. Die Familienhierarchie ist damit gewissermaßen auf den Kopf gestellt.
Dies fällt jedoch den anderen Mitgliedern des Systems nicht
auf und kann dem Sohn auch nicht angelastet werden, zumal
er ja noch klein und schutzbedürftig ist.
Kommen wir noch einmal auf dass oben schon mal angerissene Beispiel zurück. Der Sohn ist das jüngste von drei Geschwistern. Der berufstätige Vater kommt häufig erst spät
abends nach Hause. Die Mutter kümmert sich um den
Haushalt und die Kinder. Das Wohl der Familie ist ihr
wichtiger als ihre eigenen Bedürfnisse. Im Verlauf der
Therapie wird schnell deutlich, dass sich der Jüngste in der
Rolle des Nesthäkchens sehr wohl fühlt. Er muss
nicht allein zur Schule gehen, sondern
wird von der Mutter hingefahren und
auch wieder abgeholt. Die Älteren müssen mehr Pflichten im
Haushalt übernehmen als
er. Sollte ihm langweilig
sein, ist immer die Mutter zur Stelle, um sich
um ihn zu kümmern.
Dies gefalle ihm gut,
sagt er, deswegen wolle er auch gar nicht älter werden. Auch nach
mehreren Therapiestunden möchte er nicht allein
bei der Therapeutin bleiben
und verbietet seiner Mutter, in
der Zwischenzeit einkaufen zu
gehen.
An diesem Beispiel wird das Beziehungsangebot
des Symptoms deutlich. Der jüngste Sohn signalisiert durch
sein Weinen den anderen Mitgliedern des Systems, dass er
noch klein und hilfsbedürftig ist. Besonders für seine Mutter
scheint diese Botschaft wichtig zu sein, da für sie die Familie
der Mittelpunkt ihres Lebens ist. Die beiden älteren Geschwister sind abends und an den Wochenenden häufig mit
Freunden unterwegs. Der Vater ist beruflich stark eingespannt. Die Trennungsangst vermittelt der Mutter: „Ich bleibe
bei dir Mama. Ich brauche dich noch ganz viel.“
Auf der bewussten Ebene leidet die Mutter unter den Ängsten
ihres Sohnes und möchte, dass ihr Sohn selbstständig wird.
Auf der unbewussten Ebene erfüllt das Symptom jedoch den
Die systemische Therapie stellt die Selbstorganisation der Familie in den Mittelpunkt.
Sie fragt nicht nach den Gründen, sondern
nach den Auswirkungen eines Verhaltens.
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Andererseits versichert der Sohn der Mutter
auf diese Weise, gebraucht zu werden.
Dadurch erspart er seiner Mutter,
sich der Auseinandersetzung
stellen zu müssen, wie sie ihr
Leben gestalten möchte,
wenn die Kinder einmal
aus dem Haus sind. Diese Aufgabe stellt sich allen Eltern, manchen bereitet
sie
weniger
Schwierigkeiten als anderen. Da die Mutter
nicht gewohnt ist, ihre
Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen und ihr Leben stark auf die Familie ausFoto: I. Breiholz
richtet, ist zu vermuten, dass ihr
diese Umstellung schwerer fallen
wird als ihrem Mann. Durch den Entschluss des Sohnes, für immer klein zu bleiben,
bewahrt er seine Mutter vor der Bewältigung dieser Lebensaufgabe. Das System wird durch das Symptom stabilisiert. Es
erzeugt zwar einen Leidensdruck bei den Beteiligten, erfüllt
jedoch andererseits wichtige Aufgaben.
Eine Therapie, die einseitig darauf ausgerichtet ist, die kindlichen Ängste verschwinden zu lassen (beispielsweise durch
Psychopharmaka oder durch „abgewöhnen“), wird schnell an
ihre Grenzen stoßen. Am Anfang werden in der Regel rasche
Fortschritte erzielt, im Verlauf der Therapie geht es dann jedoch plötzlich nicht mehr so richtig voran. Man stößt auf Widerstände beim Klienten, die Therapiestunden werden ermüdend, Termine werden abgesagt oder „vergessen“. Manche
brechen die Therapie auch an dieser Stelle ab, weil ja „alles
schon viel besser geworden“ sei.
In der systemischen Perspektive steht die Funktion des Symptoms im Mittelpunkt. Mit dem Sohn lässt sich beispielsweise
in der nächsten Therapiestunde gemeinsam eine Krone für
ihn basteln, während die Mutter etwas für sich erledigt. Da-
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Das System wird durch das Symptom
stabilisiert. Es erzeugt zwar einen
Leidensdruck bei den Beteiligten, erfüllt
jedoch andererseits wichtige Aufgaben.
durch wird die Umkehrung der Familienhierarchie für alle
Mitglieder des Systems sichtbar. Gleichzeitig erscheint sie
humorvoll überspitzt. Ein großer Erfolg ist, wenn alle über die
Krone und somit über sich selbst lachen können. Dadurch
wird ein kleines Stück Distanz geschaffen. Diese ist notwendig, damit die Familie für sich ein neues
Gleichgewicht finden kann.
Paargespräche können hilfreich sein,
um gemeinsam Ideen zu entwickeln,
wie die Zeit aussehen könnte,
wenn die Kinder das Haus verlassen haben. Hypothetische Fragen („Was denken Sie, welches
Ihrer drei Kinder wird zuerst
ausziehen?“ „Welche Aufgaben wird sich Ihre Frau dann
suchen, wenn die drei das
Haus verlassen haben?“), die
sich auf die Zukunft beziehen,
zwingen die Familie dazu, sich
gedanklich damit auseinanderzusetzen, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Zudem kann angeregt
werden, dass nicht die Mutter,
sondern der Vater die Aufgabe hat,
Foto: I. Breiholz
den Sohn abends ins Bett zu bringen
und zu trösten. Die Mutter als „Profitrösterin“ darf dem Vater dabei Tipps geben, jedoch nicht selber trösten. Durch einen
derartigen Rollentausch wird das eingespielte
Gleichgewicht der Familie gestört. Auf diese Weise entsteht ein Freiraum, in dem sich neue Muster etablieren können.
sein sollten, wenn sich zwischen den Sitzungen wenig verändert. Alle sechs bis acht Wochen bis zu einem Vierteljahr
Abstand zwischen den einzelnen Terminen sind durchaus
üblich, um der Familie Zeit zu geben, ein neues Gleichgewicht entstehen zu lassen. Bei vielen Veränderungen zwischen den einzelnen Sitzungen können die Abstände auch
geringer sein, alle zwei bis vier Wochen. Wöchentliche
Termine sind in der systemischen Therapie eher unüblich.
Dies kommt auch dem modernen Familienalltag entgegen,
der ohnehin von sehr vielen Terminen geprägt ist. Manche
Familien scheuen den Aufwand, der durch einen weiteren
wöchentlichen Termin auf sie zukommt und beginnen
lieber gar keine Therapie bzw. warten sehr lange
ab, bis sie sich dazu entschließen können.
Sitzungsabstände von vier bis sechs Wochen lassen sich leichter in den familiären Ablauf einfügen.
Zum Schluss
In vielen Beratungsstellen verfügen die Mitarbeiter über
eine systemische Weiterbildung. Und es gibt auch niedergelassene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, die zwar über eine tiefenpsychologische oder verhaltenstherapeutische Approbation
verfügen, jedoch ebenfalls systemisch orientiert sind. Seitdem
2009 die systemische Therapie für
Kinder- und Jugendliche als wirksames Verfahren wissenschaftlich anerkannt ist, besteht die Möglichkeit, systemisch zu approbieren. Dies ist eine gute Nachricht nicht zuletzt für die betroffenen Familien,
denn sie lässt hoffen, dass mit zunehmender Popularität der
systemischen Sicht- und Arbeitsweise das „Krankheitserreger Modell“ in den Köpfen endgültig zum Auslaufmodel
wird!
Das Tempo der Veränderung wird dabei an die Familie angepasst. Generell gilt, dass die Sitzungsabstände größer
Kathrin Forch
Empfehlungen zum Weiterlesen:
Retzlaff, R. 2009: Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Erschienen bei Klett-Cotta
von Schlippe, A. u. Schweitzer, J. 2003: Lehrbuch der systemischen
Therapie und Beratung (Band I und II). Erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht
ist Dipl. Psychologin und im
zweiten Ausbildungsjahr zur
approbierten systemischen
Psychotherapeutin für Kinderund Jugendliche.
Wienands, A. 2005: Choreographien der Seele. Lösungsorientierte
systemische Psycho-Somatik. Erschienen bei Kösel
Informationen über Weiterbildungsangebote in systemischer Therapie und zur systemischen Approbation findet man auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF): www.dgsf.org
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