Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger-Modell“ Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger-Modell“ Neue Perspektiven für gesundes Aufwachsen von Kathrin Forch In der herkömmlichen Psychotherapie wird das Symptom in der Regel als Eigenschaft eines Einzelnen angesehen. Dies findet seinen Ausdruck auch in den diagnostischen Vorgaben der Krankenkassen. Diese brauchen eine einzelne Person, auf die sich Diagnose und Behandlungsplan konzentrieren. Wer sonst noch z.B. aus einer Familie mit der Entstehung der „Störung“ zu tun hat, ist erst einmal nachrangig. Um eine Therapie zu bewilligen, interessiert die Krankenkasse die genaue Diagnose eines einzelnen Patienten und ein Behandlungsplan, der sich auf diesen Patienten bezieht. Der diagnostizierte Patient erscheint oft als der Schuldige, der durch seine Krankheit das Funktionieren der Familie stört. Dieses „Krankheitserreger-Modell“ hängt mit einem Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen zusammen und legt den Trugschluss nahe, Heilung könne durch Eliminieren des störenden Verhaltens erreicht werden, beispielsweise durch die Gabe von entsprechenden Medikamenten oder durch Umlernen des unerwünschten Verhaltens in erwünschtes Verhalten. Der Patient wird leicht zum Sündenbock und erscheint in diesem vereinfachten Denkmodell allein verantwortlich für all das, was schief läuft. In unserer heutigen Gesellschaft ist der Druck auf Kinder und Jugendliche, perfekt zu funktionieren, größer denn je. Sei es in der Schule, im Sportverein oder beim Erlernen eines Instrumentes. Eltern stehen heutzutage vielfach unter einem Erfolgsdruck: Aus Angst vor dem möglichen sozialen Abstieg erziehen sie das perfekte Kind. Nur wenn man in jungen Jahren das Beste aus seinen Kindern herausholt, kann aus diesen später etwas werden. Der Grundstein für das Lebensglück Der diagnostizierte Patient erscheint oft als der Schuldige, der durch seine Krankheit das Funktionieren der Familie stört. wird in der Kindheit gelegt. So lautet der Trugschluss. Mit steigendem Erfolgsdruck sinkt jedoch die Bereitschaft, abweichendes Verhalten zu akzeptieren. Verhaltensweisen, die früher noch als jugendtypisch angesehen wurden, gelten heute als Anzeichen einer psychiatrischen Störung. Statt auf den Spielplatz schickt man die Kinder heutzutage zum Therapeuten. Foto: ASP Wegenkamp Die Familientherapie hat in den 1960er Jahren den Blick vom Einzelnen auf die gesamte Familie erweitert. Doch auch sie blieb teilweise im kausalen Denken verhaftet. So gerieten nun zwar nicht mehr die Kinder, dafür aber deren Eltern – und besonders die Mütter – als Verursacher des Problems in den Fokus. Die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, bleiben dieselben. Die systemische Therapie ist nicht neu, ihre Anfänge liegen bereits in den 1970er Jahren. Auch gibt es nicht den einen systemischen Ansatz oder die eine systemische Therapie. Allen verschiedenen Ansätzen gemeinsam ist jedoch, dass sie das lineare Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen überwinden und stattdessen eine zirkuläre Perspektive einnehmen. Seit 2009 besteht die Möglichkeit, systemisch zum Kinder- und Jugendpsychotherapeuten zu approbieren. Für betroffene Familien und diejenigen, die mit ihnen arbeiten, bieten sich dadurch neue Möglichkeiten der Therapie und der Bewältigung von leidvollen Situationen. Grenzen des Ursache-Wirkungs-Denkens Die Entdeckung, dass einer Wirkung eine Ursache vorangeht, war ein immenser Fortschritt und legte die Grundlage für die modernen Naturwissenschaften. Sicherlich musste der eine oder andere Leser schon die Beobachtung machen, dass das Marmeladenbrötchen herunterfällt, wenn man es loslässt – dabei gerne auch auf die lecker bestrichene Seite. Und der FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2013 25 l KRANK GESCHRIEBEN? Grund für die Kleckerei am morgendlichen Frühstückstisch ist bekannt: Die Schwerkraft ist die Ursache, das auf dem Boden liegende Brötchen die Wirkung. Dieser einfache lineare Zusammenhang lässt sich mit einer Kausalkette darstellen, die nach Belieben in die Vergangenheit hinein verlängert werden kann. Das Brötchen wäre nicht heruntergefallen, hätte ich es besser festgehalten. Ich hätte es besser festhalten können, hätte ich mich nicht so erschrocken, weil mein Sohn in seinem Zimmer so laut Musik gehört hat. Nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in unserem Alltag wenden wir täglich Kausalketten an. Wir sind das Denken in Ursache-Wirkungs-Beziehungen so gewohnt, dass es uns fast nicht mehr auffällt. Eltern stehen heutzutage vielfach unter einem Erfolgsdruck: Aus Angst vor dem möglichen sozialen Abstieg erziehen sie das perfekte Kind. zu senken, beispielsweise durch weites Öffnen der Fenster, führen lediglich dazu, dass die Heizung noch stärker heizt, um die Temperatur auf dem gewünschten Soll-Wert zu halten. Das System strebt weiterhin nach seinem erwünschten Zustand und begegnet Versuchen von außen, diesen Zustand zu ändern, mit Gegenmaßnahmen. Man könnte auch sagen, es zeigt Widerstand. Bei komplexen Phänomenen gerät dieses Denkmodell jedoch an seine Grenzen. Stellen Sie sich eine Heizung vor mit einem Dennoch handelt es sich bei der Heizung nur um einen sogeThermostat, mit dem eine gewünschte Temperatur nannten einfachen Automaten. Die Heizung verfügt eingestellt werden kann. Die Heizung beüber keine inneren Zustände, ihre ReaktioFoto: I. Breiholz ginnt zu heizen. Ist die gewünschte nen sind immer die gleichen und daher Temperatur erreicht, erkennt das auch von außen recht vorhersehThermostat dies und die Heibar. Wenn ich möchte, dass sie zung schaltet sich ab. Der stärker heizt, drehe ich das Raum ist zunächst angeThermostat höher. Soll sie nehm warm und beginnt aufhören zu heizen, schaldann langsam, sich abzute ich das Thermostat kühlen. Sinkt die Temaus. Stellen Sie sich nur peratur unter den geeinmal vor, wie viel wünschten Wert, schalkomplizierter die Lage tet sich die Heizung wird, wenn die Heizung wieder ein und wärmt innere Zustände, also den Raum wieder auf. Launen besäße, von deDaraufhin schaltet sie sich nen ihre Reaktionen abhinwieder ab und so weiter. In gen. Bei guter Laune und der Mechanik wird dies als Sonnenschein reagiert sie beim selbst-regulierendes System beHöherdrehen des Thermostats mit zeichnet. Fragt man nun: „Was ist die mehr Heizen. Bei schlechter Laune Ursache dafür, dass die Heizung aus ist?“, hingegen mit weniger Heizen und bei Reso lässt sich diese Frage nicht beantworten. Sie ist gen tut sie einfach gar nichts, egal wie viel ich jetzt aus, weil im Raum die gewünschte Temperatur erreicht schalte und drehe. Doch zum Glück können Heizkörper wurde. Doch es macht keinen Sinn, das Zimmer dafür verantweder denken noch fühlen. wortlich zu machen, dass es dort nun zu warm ist, schließlich hat die Heizung selbst dafür gesorgt. Diese trägt jedoch auch Familienmitglieder jedoch schon!!! Die systemische Therapie keine Verantwortung dafür, dass sie geheizt hat, denn schließgeht davon aus, dass Familien ebenfalls sich-selbst-regulierenlich war das Zimmer zuvor kalt und hat dadurch selbst die de Systeme sind, allerdings sehr komplexe. Die einzelnen MitHeizung zum Heizen angeregt … An dieser Stelle gerät man glieder eines Familiensystems verfügen über unzählige innere in eine Endlosschleife, wenn man nach einer linearen UrsaZustände und Reaktionsweisen und sind daher in ihrem Verche-Wirkungs-Beziehung sucht. Der Zusammenhang an diehalten in wesentlich geringerem Maße vorhersehbar. Schon ser Stelle ist nicht linear, sondern zirkulär. das simple Heizungsbeispiel hat gezeigt, dass lineares Denken bei sich-selbst-regulierenden Systemen keinen Sinn ergibt – das gilt genauso und erst recht bezogen auf eine Familie. Das Die systemische Perspektive als Ausweg lineare Denken in Kausalbeziehungen, dass in unserem Alltag aus der Kausalitätsschleife so nützlich und hilfreich ist, führt in der Psychotherapie in eine Sackgasse, man endet in einer Endlosschleife und ist zusamWas hat eine Heizung nun mit Familien zu tun? Ganz einfach: men mit dem Klienten gefangen in einem Teufelskreis aus geDie geschilderte Heizung mit dem Thermostat ist ein genseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen. sich-selbst-regulierendes System. Das bedeutet, es strebt nach einem Soll-Zustand und hält diesen selbstständig aufrecht. Ebenso hat das Heizungsbeispiel gezeigt, dass es unter UmEingriffe von außen mit dem Ziel, die Temperatur im Zimmer ständen kontraproduktiv ist, einseitig auf das System einzu- 26 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2013 Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger-Modell“ wirken. Wenn wir uns vorstellen, dass das warme Zimmer ein Symptom ist, dass therapiert werden soll, so wird schnell klar, dass Maßnahmen wie das Öffnen der Fenster das Problem sogar noch verschlimmern: Die Heizung heizt mehr! Menschen, die sich mit anderen in einem Konflikt befinden, sehen häufig nur die eine Seite des Kreislaufes. Man erhält so eine lineare Ursache-Wirkungs-Beziehung und steht im Einklang mit dem alltäglichen Denken. Eine Mutter bringt ihren achtjährigen Sohn zur Therapie, weil dieser abends schreckliche Angst bekommt, er selber oder seine Familie könne sterben und daraufhin in Weinkrämpfe ausbricht. Die Mutter legt sich dann zu ihm ins Bett und die Angst verschwindet. Jeden Abend, wenn sie ihren Sohn ins Bett bringt, denkt die Mutter „Hilfe! Was soll ich nur machen? Ich habe Angst, dass er gleich wieder anfängt zu weinen.“ Der Sohn spürt die Angst der Mutter und denkt sich „Es wird sicher bald etwas Schreckliches passieren. Wenn sogar Mama Angst hat, dann stimmt etwas nicht.“ Der Sohn fängt an zu weinen und kann sich erst nach langem Zureden der Mutter beruhigen. Mit jedem Abend, der auf diese Weise endet, steigert sich die Angst der Mutter vor dem Weinen ihres Sohnes. Das spürt dieser und bekommt daraufhin noch mehr Angst. Durch einseitige Maßnahmen ist beiden nicht geholfen. Das lineare Denken in Kausalbeziehungen endet in einem Teufelskreis aus gegenseitigen Anschuldigungen und Vorwürfen. der Familie stört. Vielmehr wird das Problem als Wirklichkeitskonstruktion der Familie verstanden. Es wird durch das System erzeugt und beeinflusst. Bewusst oder unbewusst haben sich alle Beteiligten aus guten Gründen für die momentane Situation entschieden, deren Änderung derzeit einen zu hohen Preis haben würde und die daher beibehalten wird. Unter dieser Perspektive werden Probleme immer als Lösungsversuche der Klienten verstanden, die jedoch ihrerseits viele Nebenwirkungen nach sich ziehen und daher als belastend, ungünstig und problematisch erlebt werden. Ziel der Therapie ist es daher, die Klienten bei der Suche nach einer passenderen Lösung zu unterstützen, die weniger Leidensdruck erzeugt. Das Vorgehen ist dabei konsequent lösungsorientiert. Durch den Fokus auf die Entstehungsgeschichte des Leidens wird in Psychotherapien häufig viel Zeit aufgewendet, ohne dass dabei neue Impulse entstehen. Die systemische Therapie geht davon aus, dass es sinnvoller ist, sich auf Wünsche, Ziele und Ausnahmen vom Problem zu konzentrieren, als in eine Problem-Trance zu verfallen. Der systemische Ansatz interessiert sich nicht vordergründig für das Warum, sondern hauptsächlich In diesem Sinne geht es immer auch für das Wie. Warum-Fragen folgen eium Aufweichung festgefahrener Sichtner linearen Ursache-Wirkungs-Bezieweisen. Der Klient ist nicht per se depreshung. Warum macht das Kind ins Bett? WaFoto: ASP Wegenkamp siv, trotzig, unkonzentriert, sondern eine Seirum streiten sich die Geschwister? Oder, um bei te von ihm verhält sich unter bestimmten Umständem oben genannten Beispiel zu bleiben: Warum hat den depressiv, trotzig, unkonzentriert usw. Das Symptom der Sohn abends Angst, dass etwas Schlimmes passieren wird? als Verhalten anstatt als Eigenschaft zu betrachten, eröffnet Die systemische Therapie stellt die Selbstorganisation der FaHandlungsspielräume sowohl für den Therapeuten als auch milie in den Mittelpunkt. Die Frage, wie diese sich um ein Profür die Familie. Das Symptom enthält (unbewusste) bezieblem herum organisiert. Sie fragt nicht nach den Gründen, sonhungsgestaltende Fähigkeiten (Auswirkungen) und (unbedern nach den Auswirkungen eines Verhaltens: Wie reagiert wusste) Bedürfnis-informationen. Es gehört nicht einem die Mutter, wenn das Kind nachts ins Bett gemacht hat? Was Einzelnen, sondern allen Mitgliedern des Systems gleichermacht der Vater, während die Mutter fluchend die Bettwäsche maßen, denn das Verhalten des Einzelnen stellt immer ein wechselt? Wie verhalten sich die Eltern, wenn die Geschwister Beziehungsangebot an die anderen dar, zu dem diese sich sich streiten? Wie reagiert der Vater, wenn sich die Mutter jeverhalten müssen. Man kann sich nicht nicht verhalten! In den Abend zum Sohn ins Bett legt? der Therapie geht es darum, herauszufinden, welche Beziehungsinformationen und Bedürfnisse in dem Symptom entEs geht nicht darum, den „Krankheitserreger“ zu finden, der halten sind und wie diese auf einer anderen, bewussten Ebedurch sein Verhalten die Gesundheit und das Funktionieren ne berücksichtigt werden können, damit das Symptom seinen Dienst beenden und gehen kann. Statt auf den Spielplatz schickt man die Kinder heutzutage zum Therapeuten. Welches System betrachtet wird, hängt von dem konkreten Problem ab. Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2013 27 l KRANK GESCHRIEBEN? dabei zumeist um die Familie bzw. die Schule (oder auch beides). Aber auch Arbeitskollegen, Vereine und Nachbarn können relevante Systeme bilden und Probleme erzeugen. Zweck, das System zu stabilisieren. Eine zu schnelle Selbstständigkeit ihres Sohnes würde für die Mutter bedeuten, eine wichtige Aufgabe zu verlieren und sich wertlos zu fühlen. Unbewusst kann sie eine Selbstständigkeit ihres Jüngsten nicht wollen! Das Symptom und seine Funktion – ein Fallbeispiel Eine Therapie, die nur beim Sohn ansetzt, ist daher zum Scheitern verurteilt. Auch lässt sich plötzlich gar nicht mehr genau sagen, wer denn nun die Störung hat. Mutter und Sohn erzeugen gemeinsam das Symptom. Es ermöglicht dem Sohn, die Vorteile des Jüngsten zu genießen. Zudem bestimmt er, was die Mutter alleine tun darf und was nicht. Die Familienhierarchie ist damit gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Dies fällt jedoch den anderen Mitgliedern des Systems nicht auf und kann dem Sohn auch nicht angelastet werden, zumal er ja noch klein und schutzbedürftig ist. Kommen wir noch einmal auf dass oben schon mal angerissene Beispiel zurück. Der Sohn ist das jüngste von drei Geschwistern. Der berufstätige Vater kommt häufig erst spät abends nach Hause. Die Mutter kümmert sich um den Haushalt und die Kinder. Das Wohl der Familie ist ihr wichtiger als ihre eigenen Bedürfnisse. Im Verlauf der Therapie wird schnell deutlich, dass sich der Jüngste in der Rolle des Nesthäkchens sehr wohl fühlt. Er muss nicht allein zur Schule gehen, sondern wird von der Mutter hingefahren und auch wieder abgeholt. Die Älteren müssen mehr Pflichten im Haushalt übernehmen als er. Sollte ihm langweilig sein, ist immer die Mutter zur Stelle, um sich um ihn zu kümmern. Dies gefalle ihm gut, sagt er, deswegen wolle er auch gar nicht älter werden. Auch nach mehreren Therapiestunden möchte er nicht allein bei der Therapeutin bleiben und verbietet seiner Mutter, in der Zwischenzeit einkaufen zu gehen. An diesem Beispiel wird das Beziehungsangebot des Symptoms deutlich. Der jüngste Sohn signalisiert durch sein Weinen den anderen Mitgliedern des Systems, dass er noch klein und hilfsbedürftig ist. Besonders für seine Mutter scheint diese Botschaft wichtig zu sein, da für sie die Familie der Mittelpunkt ihres Lebens ist. Die beiden älteren Geschwister sind abends und an den Wochenenden häufig mit Freunden unterwegs. Der Vater ist beruflich stark eingespannt. Die Trennungsangst vermittelt der Mutter: „Ich bleibe bei dir Mama. Ich brauche dich noch ganz viel.“ Auf der bewussten Ebene leidet die Mutter unter den Ängsten ihres Sohnes und möchte, dass ihr Sohn selbstständig wird. Auf der unbewussten Ebene erfüllt das Symptom jedoch den Die systemische Therapie stellt die Selbstorganisation der Familie in den Mittelpunkt. Sie fragt nicht nach den Gründen, sondern nach den Auswirkungen eines Verhaltens. 28 FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2013 Andererseits versichert der Sohn der Mutter auf diese Weise, gebraucht zu werden. Dadurch erspart er seiner Mutter, sich der Auseinandersetzung stellen zu müssen, wie sie ihr Leben gestalten möchte, wenn die Kinder einmal aus dem Haus sind. Diese Aufgabe stellt sich allen Eltern, manchen bereitet sie weniger Schwierigkeiten als anderen. Da die Mutter nicht gewohnt ist, ihre Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen und ihr Leben stark auf die Familie ausFoto: I. Breiholz richtet, ist zu vermuten, dass ihr diese Umstellung schwerer fallen wird als ihrem Mann. Durch den Entschluss des Sohnes, für immer klein zu bleiben, bewahrt er seine Mutter vor der Bewältigung dieser Lebensaufgabe. Das System wird durch das Symptom stabilisiert. Es erzeugt zwar einen Leidensdruck bei den Beteiligten, erfüllt jedoch andererseits wichtige Aufgaben. Eine Therapie, die einseitig darauf ausgerichtet ist, die kindlichen Ängste verschwinden zu lassen (beispielsweise durch Psychopharmaka oder durch „abgewöhnen“), wird schnell an ihre Grenzen stoßen. Am Anfang werden in der Regel rasche Fortschritte erzielt, im Verlauf der Therapie geht es dann jedoch plötzlich nicht mehr so richtig voran. Man stößt auf Widerstände beim Klienten, die Therapiestunden werden ermüdend, Termine werden abgesagt oder „vergessen“. Manche brechen die Therapie auch an dieser Stelle ab, weil ja „alles schon viel besser geworden“ sei. In der systemischen Perspektive steht die Funktion des Symptoms im Mittelpunkt. Mit dem Sohn lässt sich beispielsweise in der nächsten Therapiestunde gemeinsam eine Krone für ihn basteln, während die Mutter etwas für sich erledigt. Da- Systemische Therapie – ein Ausweg aus dem „Krankheitserreger-Modell“ Das System wird durch das Symptom stabilisiert. Es erzeugt zwar einen Leidensdruck bei den Beteiligten, erfüllt jedoch andererseits wichtige Aufgaben. durch wird die Umkehrung der Familienhierarchie für alle Mitglieder des Systems sichtbar. Gleichzeitig erscheint sie humorvoll überspitzt. Ein großer Erfolg ist, wenn alle über die Krone und somit über sich selbst lachen können. Dadurch wird ein kleines Stück Distanz geschaffen. Diese ist notwendig, damit die Familie für sich ein neues Gleichgewicht finden kann. Paargespräche können hilfreich sein, um gemeinsam Ideen zu entwickeln, wie die Zeit aussehen könnte, wenn die Kinder das Haus verlassen haben. Hypothetische Fragen („Was denken Sie, welches Ihrer drei Kinder wird zuerst ausziehen?“ „Welche Aufgaben wird sich Ihre Frau dann suchen, wenn die drei das Haus verlassen haben?“), die sich auf die Zukunft beziehen, zwingen die Familie dazu, sich gedanklich damit auseinanderzusetzen, dass die Zeit nicht stehen bleibt. Zudem kann angeregt werden, dass nicht die Mutter, sondern der Vater die Aufgabe hat, Foto: I. Breiholz den Sohn abends ins Bett zu bringen und zu trösten. Die Mutter als „Profitrösterin“ darf dem Vater dabei Tipps geben, jedoch nicht selber trösten. Durch einen derartigen Rollentausch wird das eingespielte Gleichgewicht der Familie gestört. Auf diese Weise entsteht ein Freiraum, in dem sich neue Muster etablieren können. sein sollten, wenn sich zwischen den Sitzungen wenig verändert. Alle sechs bis acht Wochen bis zu einem Vierteljahr Abstand zwischen den einzelnen Terminen sind durchaus üblich, um der Familie Zeit zu geben, ein neues Gleichgewicht entstehen zu lassen. Bei vielen Veränderungen zwischen den einzelnen Sitzungen können die Abstände auch geringer sein, alle zwei bis vier Wochen. Wöchentliche Termine sind in der systemischen Therapie eher unüblich. Dies kommt auch dem modernen Familienalltag entgegen, der ohnehin von sehr vielen Terminen geprägt ist. Manche Familien scheuen den Aufwand, der durch einen weiteren wöchentlichen Termin auf sie zukommt und beginnen lieber gar keine Therapie bzw. warten sehr lange ab, bis sie sich dazu entschließen können. Sitzungsabstände von vier bis sechs Wochen lassen sich leichter in den familiären Ablauf einfügen. Zum Schluss In vielen Beratungsstellen verfügen die Mitarbeiter über eine systemische Weiterbildung. Und es gibt auch niedergelassene Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, die zwar über eine tiefenpsychologische oder verhaltenstherapeutische Approbation verfügen, jedoch ebenfalls systemisch orientiert sind. Seitdem 2009 die systemische Therapie für Kinder- und Jugendliche als wirksames Verfahren wissenschaftlich anerkannt ist, besteht die Möglichkeit, systemisch zu approbieren. Dies ist eine gute Nachricht nicht zuletzt für die betroffenen Familien, denn sie lässt hoffen, dass mit zunehmender Popularität der systemischen Sicht- und Arbeitsweise das „Krankheitserreger Modell“ in den Köpfen endgültig zum Auslaufmodel wird! Das Tempo der Veränderung wird dabei an die Familie angepasst. Generell gilt, dass die Sitzungsabstände größer Kathrin Forch Empfehlungen zum Weiterlesen: Retzlaff, R. 2009: Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Erschienen bei Klett-Cotta von Schlippe, A. u. Schweitzer, J. 2003: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung (Band I und II). Erschienen bei Vandenhoeck & Ruprecht ist Dipl. Psychologin und im zweiten Ausbildungsjahr zur approbierten systemischen Psychotherapeutin für Kinderund Jugendliche. Wienands, A. 2005: Choreographien der Seele. Lösungsorientierte systemische Psycho-Somatik. Erschienen bei Kösel Informationen über Weiterbildungsangebote in systemischer Therapie und zur systemischen Approbation findet man auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF): www.dgsf.org FORUM für Kinder und Jugendarbeit 2/2013 29