Theorie und Kritik der gesellschaftlichen Praxis

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Theorie und Kritik der gesellschaftlichen Praxis
Herbstakademie vom 26.-30.September 2008 in Werftpfuhl bei Berlin
Veranstaltet von Helle Panke e.V. und Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler (BdWi)
Die Wirklichkeit kann nur angemessen analysiert werden, schreibt Marx in den
Feuerbachthesen, wenn sie als Praxis, als sinnliche und gegenständliche Tätigkeit gedacht wird
– und damit als „revolutionäre“ (MEW3, 5). Veränderungsmöglichkeiten denken zu können –
und damit die Verhältnisse verändern und revolutionieren zu können -, hängt also davon ab,
die vorliegenden Verhältnisse als Ergebnis menschlichen Handelns zu fassen, darin Herrschaft
und Gegenmacht zu denken. Dies ist zunächst eine gesellschafts- und erkenntnistheoretische
Frage an die Analyse des Kapitalismus als Konstellation von Kräfteverhältnissen. Die
Geschichte des Marxismus ist voller Beispiele, wie diese praxistheoretische Linie administrativ
still gestellt wurde. Wir wollen diese Linie theoretisch – zumindest in Teilen – rekonstruieren
und erarbeiten: von Marx’ Feuerbachthesen über Luxemburg, Gramsci, Brecht und Bloch.
Gleichzeitig ist diese Rekonstruktion keine reine Gedankenübung, sondern steht im
Zusammenhang mit dem Ringen um neue Konzepte gesellschaftsverändernder Praxis.
Gewerkschaften und soziale Bewegungen suchen in den veränderten Verwertungs- und
Kräfteverhältnissen nach neuen Ansätzen: Die gegenwärtigen Debatten um Organizing und
interventionistische Organisierung können hier als Hinweis dienen. Lässt sich ein
klassentheoretischer Zugriff auf die Verhältnisse mit neuen Kämpfen – „Klassenkämpfen?“ verbinden?
Die Struktur der diesjährigen Herbstakademie unterscheidet sich von der früherer Jahre: sie ist
stärker auf die Beteiligung aller Anwesenden und auf Textarbeit und Diskussion in
Arbeitsgruppen angelegt. Die Tage beginnen mit einem Grundlagenreferat, zu dem sich
unterschiedliche AGs bilden, die am Abend zu einer gemeinsamen Diskussion (mit den
Referentinnen und Referenten) zusammenfinden.
(Der aktuelle Plan wird noch um kürzere Input-Referate ergänzt werden).
Ablauf der Herbstakademie
26.9.
12.30h
Mittagessen, Zimmerverteilung
14h-16h
Mario Candeias: Klassenkämpfe und Differenzpolitiken
Konservative wie Paul Nolte scheuen sich nicht, die verschärfte Polarisierung von Einkommen,
Macht, Bildung und Konsumweisen als Neukonturierung der Klassengesellschaft zu
bezeichnen. Nolte plädiert sogar für mehr Klassenbewusstsein der bürgerlichen Klasse
gegenüber der urban underclass. Jenseits und innerhalb der Nationalstaaten hat sich eine
transnationale Bourgeoisie etabliert, der angesichts von Prekarisierung und globaler
Proletarisierung zunehmend fragmentierte Gruppen von Subordinierten gegenüber stehen,
vielfältig gespalten entlang von Klassenzugehörigkeit, geschlechtlicher oder ethno-nationaler
Zuschreibungen sowie unterschiedlicher Produktionsweisen (Davis). Oder es wird von links
gleich das Ende der Arbeiterklasse (Beaud/Pialoux) beklagt bzw. in ein plurales Geflecht
unverbindlicher post-politischer Gruppen (Beck) aufgelöst.
„Das Prekariat ist eine Art unmöglicher Gruppe, deren Geburt notwendigerweise unvollendet
bleibt“, es „verharrt im Zustand eines einfachen zusammengesetzten Konglomerats“, so Loïc
Wacquant. Oder findet doch ein „re-making of the working class“ statt? Denn das Prekariat
kämpft: spontan oder organisiert, alltäglich und politisch, wenn auch nicht gemeinsam,
sondern zumeist entlang von beruflicher, ethnischer, geschlechtlicher oder politischer
Segmente. Eine Vielfalt neuer Arbeitskämpfe und von labour unrest steht häufig unverbunden
nebeneinander sowie neben feministischen oder migrantischen Kämpfen oder
Auseinandersetzungen um das Öffentliche. Inwiefern kann ein entwickelter Klassenbegriff
behilflich sein, gesellschaftliche Umbruchprozesse zu begreifen und gruppenübergreifend
gemeinsame Interessen und Artikulationen von Kämpfen herzustellen? Wie kann produktiv mit
den Gefahren von Zersplitterung wie falscher, weil Differenzen negierender Vereinheitlichung
umgegangen werden? Inwiefern kann jenseits essentialistischer Vereinheitlichung eine
Verallgemeinerung von Interessen erarbeitet werden, die Differenzen respektiert? Welche
Rolle spielen dabei alte und neue Ansätze der (Selbst)Organisierung wie (neue Formen) der
politischen Repräsentation? Damit stellt sich die alte Frage nach den Subalternen als
politischem Subjekt (von Gramsci bis Spivak), was eine theoretische Überprüfung der
marxistischer Klassentheorie bzw. ihre Befreiung von vulgarisierndem Klassismus erfordert.
16.30h-18.30h
Arbeitsgruppen
Literatur:
- Paul Nolte: Klassengesellschaft oder „klasse Gesellschaft“ – wie diskutieren wir im
21.Jahrhundert über soziale Gerechtigkeit?
- Stuart Hall: Das ‚Politische’ und das ‚Ökonomische’ in der Marxschen Klassenanalyse
- Antonio Gramsci, Gefängnishefte, Band 7, hgg. v. K. Bochmann, W.F. Haug, P. Jehle,
Argument Verlag 1996, Auszug aus Heft 13, S. 1556-65: §{17}. Analyse der
Situationen: Kräfteverhältnisse
- Marion Candeias: Das „unmögliche“ Prekariat oder das Scheitern an den Widersprüchen
pluraler Spaltungen
AG-Vorschläge:
1) Marxsche Klassenanalyse nach Stuart Hall (Florian Becker)
19h: Abschlussdiskussion
21h: Vorstellungsrunde und Kennenlernen in der Kneipe
27.9.
9.30h-12.30h
Wolfgang Fritz Haug: Was heißt Philosophie der Praxis?
Als „Kernpunkt des historischen Materialismus“ hat bereits Antonio Labriola die „Philosophie
der Praxis“ begriffen. Antonio Gramsci hat daraus den Leitbegriff seiner Rekonstruktion
marxistischen Denkens gemacht. Ausgehend von den marxschen Feuerbach-Thesen wollen wir
im Dreieck von Marx, Gramsci und Brecht, mit Seitenblicken auf Lukács und Bloch, den
Impulsen dieses Denkens nachspüren und einige seiner Grundbegriffe erarbeiten. Kann
Objektivismuskritik vermeiden, in Subjektivismus zu fallen? Was unterscheidet Philosophie der
Praxis von bloßem Pragmatismus? Und wie steht es mit Louis Althussers Kritik, wonach „der
Primat der Praxis das erste Wort (vgl. Kant) jedes Idealismus“ sei?
14.30-17.30h
Arbeitsgruppen
Literatur:
- L.Althusser, „Die Veränderung der Welt hat kein Subjekt. Notiz zu den Thesen über
Feuerbach“, dt. v. B.Heber-Schärer, in: Neue Rundschau, 106. Jg., 1995, H. 3, 9-16
- Karl Marx: Thesen über Feuerbach, MEW3, 6
- Wolfgang Fritz Haug: Philosophieren mit Brecht und Gramsci, in: 13 Versuche,
marxistisches Denken zu erneuern
19h
Abschlussdiskussion: Fragen und Diskussionsbeiträge aus den Gruppen
28.9.
9.30h-12.30h
Frigga Haug: Einführung in Rosa Luxemburgs „revolutionäre Realpolitik“
Luxemburg stellt die aktuelle Frage, wie parlamentarische Politik, die ja immer Reformen
anzielen muss, zu verbinden ist mit einer revolutionären oder sozialistischen Perspektive. Für
dieses Projekt entwickelt sie mit Marx ihre Dialektik von Nah- und Fernziel, die bis heute nichts
an Brisanz verloren hat.
Wiewohl die allgemeine Zuversicht in die Möglichkeit, eine sozialistische Perspektive
tatsächlich zu verwirklichen, geschwunden zu sein scheint, bleibt doch die Frage aktuell, was
eigentlich linke Abgeordnete als Linke im Parlament für eine Politik machen sollen und wie
ihre Perspektive durchschlägt auf realpolitische Aufgaben. Da es von Luxemburg keine
theoretische Durcharbeitung des Themas gibt, wird ihr Projekt aus ihren Interventionen in
Zeitungen, politischen Tagesreden usw. beispielhaft entwickelt.
14.30-17.30h
Arbeitsgruppen
Literatur:
- Rosa Luxemburg: Karl Marx, GW 1/2, S. 369-377
- Frigga Haug, Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik, 2. Kapitel: Revolutionäre
Realpolitik, S. 57-67
19h
Abschlussdiskussion: Zum Abschluss wird eine Utopie von Frauen als Übersetzung
luxemburgscher Vorschläge in eine Politik für die heutige Linke thesenhaft vorgestellt: Die
Vier-in-einem-Perspektive
29.9.
9.30-12.30h
Frank Deppe: Sozialismus im 20. Jahrhundert. Theorie und Praxis
antikapitalistischer Bewegungen.
Das 20. Jahrhundert war das „Jahrhundert der Katastrophen“ (Hobsbawm), aber auch
das „Jahrhundert des Sozialismus“; auf die Katastrophen der bürgerlich-kapitalistischen
Welt antworteten die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen und ihre
Organisationen; die antiimperialistischen Bewegungen führten den Zusammenbruch
der großen Kolonialreiche herbei, die noch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts
existierten. Die Konfrontation des Kalten Krieges in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts war eine Reaktion auf den Machtzuwachs des Sozialismus nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des europäischen Faschismus.
Allerdings erwiesen sich die Erfolge des Sozialismus als zwiespältig und temporär; denn
es gelang dem Kapitalismus immer wieder, sich zu reorganisieren und damit auch seine
Macht gegenüber dem Sozialismus auszuspielen.
14.30h-17.30h
Arbeitsgruppen
Literatur:
- Eric Hobsbawm, Zeitalter der Extreme, München 1998.
- Frank Deppe, Politisches Denken im 20. Jahrhundert, 4 Bände, Hamburg, 1999, 2004,
2006, 2008. im Reader:
- Bd. 3: Einleitung
- Bd. 3: Ausblick auf den vierten Band
- Bd. 4: 3. Der „neue Imperialismus; 3.1. Die neoliberale Globalisierung; 3.1.1.
Internationale Turbulenzen
- Bd.4: 4. Antiimperialismus heute; 4.1. Der „neue Imperialismus“
19h
Abschlussdiskussion
30.9.
9.30h-12.30h
Morus Markard: Erfahrung und Praxis als Austragungsfelder theoretischer und
ideologischer Konflikte
Praktische Erfahrung lehrt: „Anpassung an die Autorität der Ökonomie ist die Gestalt der
Vernunft in der bürgerlichen Wirklichkeit“ (Horkheimer). Der Gemeinspruch, dass man aus
Erfahrung klug werde, ist also so richtig, wie er falsch ist: Denn Erfahrung kann durchaus auch
zu Abstumpfung, Verblödung und Sprachlosigkeit führen. Inwieweit man aus Erfahrung klug
werden kann, hängt davon ab, welche Erfahrung man wie aufschlüsselt – und auch davon, was
man eigentlich unter „klug“ versteht. Dabei unterstellt schon die Alltags-Formulierung
„Erfahrungen machen“ das Subjekt der Erfahrung keineswegs als passiv, sondern sie impliziert
eine wie auch immer zu bestimmende Art gestaltender Aktivität des erfahrenden Individuums.
Auf Erfahrung/Praxis wird in Grundlagenwissenschaft, in angewandter Wissenschaft, in
wissenschaftlich sich legitimierender Praxis und im Alltag Bezug genommen, wobei eine
zentrale Funktion dieses Bezuges kritisch sich versteht: und zwar kritisch gegenüber
theoretischen Behauptungen, dogmatischen Setzungen, etc. – durchaus in der Tradition jenes
ideologiekritischen Motivs, das der Erfahrung seit dem 13. Jahrhundert gegenüber der
Scholastik zugesprochen wird.
Zumindest heutzutage aber ist die Annahme, dass dem Rekurs auf Erfahrung per se ein
(ideologie-) kritisches Moment innewohne, naiv. Drei damit verbundene Probleme sollen
exemplarisch behandelt werden:
1. Das Verhältnis von Begriffen und Erfahrung:
Was kann (wissenschaftlich) unter Bezug auf Erfahrung entschieden werden? Hierbei soll es
darum gehen, warum (1) über die Relevanz von empirischen Resultaten nicht methodisch
entschieden werden kann, und (2) dass für experimentell-statistisch verfahrende
psychologische Ansätze der Erfahrungsbegriff im Vollsinne nur für die wissenschaftlich
Arbeitenden gilt, während die Erfahrung der Untersuchten methodisch reguliert bis – mit
Adorno gesagt – „annulliert“ wird – oder mit Marx formuliert: das „Zeugnis der Sinne … zur
Sinnlichkeit der Geometrie“ verkürzt wird.
2. Das Verhältnis von Unmittelbarkeit und Vermitteltheit bzw. Mitteilbarkeit von Erfahrung:
Ob sich Unmittelbarkeit anderen vermitteln läst, ist mit der Klärung des Umstandes verbunden,
dass Erfahrungen im Medium gesellschaftlicher Denkformen (und damit gesellschaftlicher
Bedeutungen) gemacht werden bzw. darin aufzuschlüsseln sind: Das Unmittelbare und
Authentische von Erfahrungen bedeutet nicht solipsistische Verkapselung, sondern je meine
Realisierung von (gesellschaftlichen) Bedeutungen.
3. Die Konsequenzen für das Verhältnis von kritischer und affirmativer Praxis:
Erfahrung kann nur diskutiert und tendenziell kritisiert werden, wenn sie auf darin
beschlossene Denkformen hin analysiert wird, was einschließt, dass Beschreibung und Deutung
so gut wie möglich analytisch voneinander getrennt werden. In diesem Zusammenhang zeigt
sich, dass die Rede vom Theorie-Praxis-Verhältnis zu differenzieren ist. Denn dabei geht es –
auch – um ein Verhältnis ggf. gegensätzlicher Theorien, also um ein Theorie-Theorie-Verhältnis.
Literatur:
Holzkamp, Klaus, 1988: Praxis: Funktionskritik eines Begriffs. In: Dehler, J. & Wetzel, K. (Hg.),
Zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Psychologie. Marburg, 15– 48.
Markard, Morus, 2006: Wie klug macht Erfahrung? Bemerkungen zum Wandel und zur
Ambivalenz der Erfahrungsbegriffs. In: Herwig, Rita, Michael Brodowski & Jens Uhlig (Hg.),
Wissen als Ware. Aspekte zur Bedeutung des Wissens in der Gesellschaft. Berlin, 53-65
Ders., 2007: Von der Praxis zur Theorie und zurück. In: Bildung – Beruf – Praxis. Bildungsreform
zwischen Elfenbeinturm und Verwertungslogik (hg. von BdWi, fzs und GEW), 8-11
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Organisatorisches
Teilnahmegebühr: Pro Person 50,00 Euro, inkl. Unterkunft und Vollverpflegung im Doppeloder Mehrbettzimmer für 5 Tage Seminardauer. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhalten
vor der Tagung Reader und Vorbereitungsthesen.
Aufgrund begrenzter Platzkapazitäten bitten wir um eine verbindliche Anmeldung. Die
Tagung wird von den VeranstalterInnen finanziell bezuschusst.
Überweisung des Teilnahmebeitrags an:
BdWi
Volksbank Mittelhessen, Konto: 16 40 88 08, BLZ: 513 900 00
Verwendungszweck: Herbstakademie
Tagungsort: Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein
Freienwalder Chaussee 8–10, 16356 Werftpfuhl
Das Haus liegt im Nordosten von Berlin, 30 km von der Stadtmitte am Rande des
Erholungsgebietes “Gamengrund”.
Zeitpunkt: Freitag, 26. September 2008, 12:30 Uhr bis Dienstag, 30. September 2008, 14:00
Uhr
Anmeldung: Mit dem Anmeldeformular auf der Webseite
http://www.bdwi.de/termine/event_13435.html oder direkt bei:
BdWi, Gisselberger Str. 7, 35037 Marburg
Tel.: (06421) 2 13 95, Fax (06421) 16 32 66 (Fax ab 1.8.)
E-Mail: [email protected]
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