I. Einleitung Wahlen sind fundamental für eine Demokratie. Sie sind

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SEMINARIO ANNUALE DELL’ASSOCIAZIONE “GRUPPO DI PISA”
“LA GIUSTIZIA ELETTORALE”
FIRENZE, 16 NOVEMBRE 2012 - FACOLTÀ DI GIURISPRUDENZA – UNIVERSITÀ DI FIRENZE
MARTIN MORLOK
WAHLRECHTSSCHUTZ IN DEUTSCHLAND
I. Einleitung
Wahlen sind fundamental für eine Demokratie. Sie sind der Mechanismus, durch welchen
die Legitimation vom Volk als Ursprung aller Herrschaftslegitimation auf weitere Organe,
insbesondere auf das Parlament, übertragen wird. Die korrekte Durchführung der Wahlen ist
deswegen
legitimationskritisch;
nur
ordnungsgemäße
Wahlen
können
ihren
Legitimationsauftrag erfüllen.
Die gewählten Parlamente sind die Zentralorgane der repräsentativen Demokratie. Sie
entscheiden über die Regierung, sie haben die Macht, Gesetze zu setzen und sie bestimmen
über Steuern und die staatlichen Ausgaben. Die Funktionsfähigkeit eines demokratischen
Staatswesens hängt also von der Existenz eines Parlamentes ab. Wegen ihrer entscheidenden
Bedeutung müssen gewählte Parlamente nach Möglichkeit auch erhalten bleiben: Gewählte
Parlamente bedürfen des Bestandsschutzes. Das bedeutet, Wahlergebnisse sollen – nach
Möglichkeit – erhalten bleiben.
Freilich ist zu sehen, dass Wahlen einzigartige Massenverfahren sind, an denen auch viele
Laien, sogar in tragenden Rollen, beteiligt sind. Daraus ergibt sich eine hohe
Fehleranfälligkeit von Parlamentswahlen. Eine realistische Betrachtung muss sehen, dass es
ausgeschlossen erscheint, fehlerfreie Wahlen in größerem Maßstab durchzuführen.
Damit ist ein Widerstreit zweier Ziele gegeben: Einerseits sollen Wahlen möglichst
fehlerfrei durchgeführt werden, andererseits ist der in einer Wahl entäußerte Wille des Volkes
nach Möglichkeit zu schützen. Es gilt also, eine angemessene Balance herzustellen zwischen
der Sicherung der Fehlerfreiheit der Wahlen und dem Schutze des in einer Wahl entäußerten
Willen des Volkes und damit des Bestandes des Parlaments.
Um dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden, empfiehlt es sich, Fehler des
Wahlverfahrens bereits vor der Wahl zu beheben, auch um eine aufwändige und teure
Wiederholungswahl zu vermeiden (zum Rechtsschutz vor der Wahl II.). Die Balance
zwischen Sicherung der Korrektheit der Wahl und Bestandsschutz des Parlaments ist einem
spezifischen Verfahren anvertraut, dem Wahlprüfungsverfahren (hierzu III.). In einem
weiteren Teil möchte ich einige Beispiele dafür geben, wie mit tatsächlichen oder behaupteten
Wahlfehlern in Deutschland umgegangen wird (IV.), ehe ich ein kleines Fazit versuche (V.).
2
II. Rechtsschutz vor der Wahl
In Deutschland gab es viele Jahre lang keine Möglichkeit des Rechtsschutzes vor der
Wahl. Eine Bestimmung im Bundeswahlgesetz (§ 49) machte die nachträgliche Wahlprüfung
praktisch zum ausschließlichen Beanstandungsverfahren für Wahlfehler. Trotz der Kritik in
der Wissenschaft hielt das Bundesverfassungsgericht daran fest, dass dies keine Verletzung
der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG sei. Dies konnte nicht überzeugen, weil
gerade das Wahlrecht ja das vornehmste Recht des Bürgers (im Sinne des Citoyen) war, das
in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes sogar ein Instrument ist, um die
Verträge zur Herstellung und Fortschreibung der Europäischen Union gerichtlicher Kontrolle
zu unterwerfen. Diese inhaltliche Aufladung des Wahlrechtes der Bürger passte nicht
zusammen mit dem Ausschluss jeglichen Rechtsschutzes vor der Wahl.
Für eine solche Beschränkung des Rechtsschutzes vor der Wahl gibt es allerdings auch
nachvollziehbare Gründe: Rechtsschutz braucht Zeit. Bei uneingeschränkter Gewährung
subjektiven Rechtsschutzes wird es kaum möglich sein, die Durchführung einer Wahl zu
einem bestimmten Zeitpunkt sicher zu stellen. Vorgängig gerichtlich angeordnete Korrekturen
von Fehlern im Wahlverfahren können Verschiebungen – schlimmstenfalls sogar mehrfach –
des Wahltermines erforderlich machen. Dies ist nicht nur aus Kostengründen problematisch,
vor allen Dingen geht es auch um die rechtzeitige Konstituierung eines neuen Parlamentes
und damit um die Erneuerung der Legitimation staatlichen Handelns. Das Demokratieprinzip
verlangt Wahlen und schützt ihre tatsächliche termingerechte Durchführung. Damit erscheint
grundsätzlich eine gesteigerte Fehlerunempfindlichkeit des Wahlverfahrens gerechtfertigt –
und mithin auch eine Restriktion der Anfechtungsmöglichkeiten. Diese Begründung trägt
allerdings nur soweit, wie Rechtsschutz vor der Wahl tatsächlich die termingerechte
Durchführung der Wahl verhindert.
Das ändert nichts daran, dass wir in Deutschland eine empfindliche Lücke im Rechtsschutz
hatten. Dieser Umstand wurde vor der Bundestagswahl 2009 einer breiteren Öffentlichkeit ins
Bewusstsein gehoben. Eine Partei mit dem Namen „Die Partei“ wurde aufgrund jedenfalls
fragwürdiger Annahmen über diese Partei nicht zur Bundestagswahl zugelassen. Ihre
Nichtzulassung konnte vor der Wahl nicht repariert werden, der nach der Wahl erhobene
Einspruch im Wahlprüfungsverfahren scheiterte ebenfalls.1 Die anschließende
Wahlprüfungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht war unzulässig.2 Die
Nichtzulassung dieser Partei hat eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit gefunden, auch die
Wahlbeobachter der OSZE haben in ihrem Abschlussbericht die Empfehlung ausgesprochen,
gerichtliche Kontrollen vor der Wahl einzuführen. Ich darf auch darauf hinweisen, dass das
Institut für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung auch eine
Tagung zu diesem Problem durchgeführt hat, an u.a. dem Richter des
Bundesverfassungsgerichts und Bundestagsabgeordnete teilgenommen haben, eine
Veranstaltung, die wohl einen entscheidenden Impuls für eine Änderung der Rechtslage
gegeben hat.
Mittlerweile erfolgte eine Rechtsänderung auf der Ebene des einfachen Gesetzes wie auch
der Verfassung und hat Abhilfe geschaffen. Parteien und Vereinigungen, die vom
Bundeswahlausschuss nicht gemäß § 18 BWahlG als Partei anerkannt wurden und deswegen
nicht an Bundestagswahlen teilnehmen können, haben jetzt die Möglichkeit, gegen die
negative
Entscheidung
über
ihre
Parteiqualität
Beschwerde
vor
dem
Bundesverfassungsgericht einzulegen. Hierfür wurde das Grundgesetz geändert (Art. 93 Abs.
1 Nr. 4c GG), ebenso das Bundeswahlgesetz (§ 9, 19, 18 Abs. 4a, 52), weiter das
Wahlprüfungsgesetz (§§ 1, 11) und auch das BundesverfassungsgerichtG (§§ 96 a – 96 d)
1
Beschluss des Deutschen Bundestages vom 7.10.2010 – Plen.Prot. 17/65, S. 6841, aufgrund der
Beschlussempfehlung des Wahlprüfungsausschusses vom 30.09.2010 – DtBT Drs. 17/3100, Anlage 18.
2
BVerfG B. vom 12.04.2011 – 2 BvC 12/10.
3
angepasst.3 Nicht zugelassene Parteien können das Bundesverfassungsgericht anrufen,
zwangsläufig innerhalb einer knapp bemessenen Frist: von 4 Tagen nach Bekanntgabe der
Entscheidung des Bundeswahlausschusses. Der Beschleunigung dient auch die Besonderheit,
dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung ohne Begründung bekannt geben kann.
Die Möglichkeit einer Partei, gegen ihre Nichtzulassung zur Wahl ein Gericht anzurufen,
ist auch deswegen dringend geboten gewesen, weil eine spätere Feststellung, dass eine Partei
zu Unrecht nicht zugelassen worden war, fast zwangsläufig Neuwahlen nach sich gezogen
hätte – weil dieser Fehler kaum anders als durch eine Neuwahl zu reparieren gewesen wäre:
Wer will schon schätzen, wie viele Stimmen diese Partei bei Zulassung erhalten hätte und
welchen anderen Parteien diese Stimmen entgangen wären?
III. Das Wahlprüfungsverfahren
Nach der Durchführung einer Wahl gibt es die besondere Einrichtung des
Wahlprüfungsverfahrens, um deren Korrektheit zu kontrollieren. Es dient dazu
sicherzustellen, dass der Wählerwille in der Mandatsverteilung korrekt abgebildet wird. Dies
ist dann der Fall, wenn die verschiedenen wahlrechtlichen Vorschriften eingehalten wurden.
Das Ziel des Wahlprüfungsverfahrens ist insofern der Schutz des objektiven Wahlrechts.
Dieses sogenannte objektive Beanstandungsverfahren dient zugleich – bislang nur als
Nebeneffekt – dem Schutz des subjektiven Wahlrechts. Im praktischen Ergebnis kann die
hauptsächliche Ausrichtung auf objektiven Rechtsschutz oder subjektiven Rechtsschutz
allerdings dahinstehen.
Das deutsche Wahlprüfungsverfahren ist zweistufig ausgestaltet, es ist in Art. 41 GG und
einem eigenen Wahlprüfungsgesetz in seinen Einzelheiten geregelt.
a) Die erste Stufe der Wahlprüfung ist Sache des Bundestages. Das Parlament selbst übt
die Kontrolle über die Richtigkeit seiner Zusammensetzung aus. Dies ist insofern nicht
unbedenklich, als es sich um eine „Entscheidung in eigener Sache“ handelt. Dieses Muster der
Wahlprüfung kennt man auch aus anderen Ländern, es ist letztlich historisch begründet: Das
Parlament als Organ der Bürger, das sich gegen den Monarchen durchsetzen musste,
misstraute anderen staatlichen Stellen und hat deswegen seine Organisation, aber eben auch
seine Wahl selbst in die Hand genommen.
Im Bundestag beschäftigt sich zunächst ein spezieller Ausschuss, der
Wahlprüfungsausschuss, mit einem Einspruch gegen die Gültigkeit der Wahl und formuliert
dann eine Beschlussempfehlung an das Plenum des Bundestages, worüber dann das Plenum
entscheidet. Dieses Verfahren dauert – leider – häufig länger, so dass es regelmäßig erst in der
zweiten Hälfte der Legislaturperiode abgeschlossen wird.
Auch ist festzustellen, dass in der Geschichte der Bundesrepublik noch kein Einspruch im
Wahlprüfungsverfahren beim Bundestag erfolgreich war. Der Bundestag selbst prüft nicht die
Verfassungsmäßigkeit der Wahlgesetze, denn dass der Gesetzgeber selbst ein von ihm
gemachtes Gesetz für verfassungswidrig hält, ist auch wenig wahrscheinlich.
b) Gegen die Entscheidung des Bundestages im Wahlprüfungsverfahren kann eine
Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht erhoben werden. Damit ist die mit der
Entscheidung in eigener Sache verbundene Problematik entschärft. Zum Prüfprogramm des
Bundesverfassungsgerichts zählt auch die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechtes.
Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Kontrolle ist nur die Überprüfung der Wahl selbst,
nicht des vorausgegangenen Verfahrens im Bundestag. Dort aufgetretene Verfahrensfehler
sind unbeachtlich. Wenn also Abgeordnete, deren Wahl angefochten worden war, gleichwohl
im Ausschuss oder Plenum mit der Entscheidung über die Gültigkeit ihrer eigenen
Wahlteilnahmen befasst sind, so stellt dies zwar einen Verfahrensfehler im Parlament dar,
dem das Verfassungsgericht aber nicht nachgeht.
3
All dies im Gesetz zur Verbesserung des Rechtsschutzes in Wahlsachen vom 12.07.2012, BGBl. I 2012, S.
1501.
4
Im Übrigen müsste das Gericht wegen eines Verfahrensmangels im Parlament die Sache an
dieses zurückverweisen – was nur eine unnötige Verzögerung bedeutete.
Die anfänglich geschilderte Problematik von Wahlen, nämlich fehleranfällig zu sein, hat
dazu geführt, dass das Wahlrecht das klassische Feld der Fehlerfolgenbeschränkung ist. Der
leitende Gesichtspunkt dabei ist derjenige der Mandatsrelevanz. Nicht jeder Fehler führt zur
Ungültigkeit der Wahl. Das Parlament genießt Bestandsschutz insofern, als Fehler nur für
erheblich erachtet werden, wenn in ihrer Folge die personelle Zusammensetzung des
Parlamentes sich geändert hat oder wenn es jedenfalls nicht auszuschließen ist, dass die
Mandate anders verteilt worden wären. Dabei wird nach der Entscheidungspraxis kein
Maßstab eines hypothetisch möglichen Auswirkung auf die Zusammensetzung des
Parlamentes angelegt, sondern ein Maßstab der praktischen Wahrscheinlichkeit; das bedeutet,
das Fehler zu Lasten einer unbedeutenden Gruppierung trotz ihrer denkmöglichen
Mandatsrelevanz nicht für beachtlich erklärt werden, weil man es für „praktisch“
unwahrscheinlich hält, dass diese Gruppierung größeren Zuspruch in der Wahl erfahren hätte.
In Konsequenz dieser Rigidität hat auch das Bundesverfassungsgericht bei insgesamt 218
Wahlprüfungsbeschwerden noch nie eine Neuwahl angeordnet. Zu bemängeln ist nochmals
die Dauer des Verfahrens,4 das Bundesverfassungsgericht entscheidet regelmäßig erst im
vierten Jahr nach der Wahl, also im letzten Jahr der Legislaturperiode, was auch die Neigung
vermindert, eine Wahl für ungültig zu erklären.
Das bislang für die Zulässigkeit einer Wahlprüfungsbeschwerde erforderliche Quorum von
100 Unterschriften diente dem Bestandsschutz des Parlamentes, ist mit der letzten Änderung
aber aufgegeben worden, so dass die Wahlprüfung stärker den Charakter des Rechtsschutzes
des Wahlrechtes des einzelnen Bürgers hat.
Wenn das Bundesverfassungsgericht einen Wahlfehler gefunden hat, so gibt es gleichwohl
mehrere Varianten, wie es entscheiden kann.
- Es kann feststellen, dass das subjektive Wahlrecht eines Bürgers verletzt worden war,
auch wenn dies nicht mandatsrelevant war; der Entscheidungsausspruch beschränkt sich dann
auf diese Feststellung. Die Wahl selbst bleibt – wegen fehlender Mandatsrelevanz – gültig.
- Wenn sich ein festgestellter Wahlfehler auf die Zusammensetzung des Parlaments
ausgewirkt hat oder mit gewisser Wahrscheinlichkeit hätte auswirken können, so wird die
Wahl für ungültig erklärt – aber möglichst beschränkt auf den Bereich, der vom Fehler
betroffen war. Zu denken ist also etwa an die Ungültigkeit der Wahl in einem Wahlkreis. Es
gilt wiederum ein Prinzip der möglichsten Fehlerbeschränkung.
- Wenn eine Wahl, auch in einem begrenzten räumlichen Gebiet, für ungültig erklärt
worden ist, wird eine Wiederholungswahl angeordnet, jedenfalls dann, wenn eine
rechnerische Berichtigung des Wahlfehlers ohne Neuwahl nicht möglich ist. Schließlich kann
das Bundesverfassungsgericht auch die Unvereinbarkeit von wahlrechtlichen Vorschriften mit
dem Grundgesetz feststellen. Dies ist in jüngerer Zeit auf Bundesebene zwei Mal geschehen,
auch im Land Schleswig-Holstein. Genau betrachtet gibt es bei der Feststellung der
Verfassungswidrigkeit eines Wahlgesetzes auch zwei Möglichkeiten: Das Gericht kann das
Wahlgesetz für nichtig erklären oder es kann nur die Unvereinbarkeit des Wahlgesetzes mit
der Verfassung feststellen und den Gesetzgeber auffordern, innerhalb einer bestimmten Frist
die verfassungswidrige Regelung zu ändern. Ich komme auf das Problem des
verfassungswidrigen Wahlgesetzes noch zurück.
IV. Typische Probleme im Rahmen der Wahlprüfungsbeschwerde
Wie auch sonst im Leben können auch bei Wahlen die unterschiedlichsten Probleme
auftreten, die die menschliche Phantasie kaum vorhersagen kann. Im Folgenden sollen einige
Beispiele gegeben werden, welche Wahlfehler aufgetreten sind und wie die Gerichte
4
Das VerfG Saarl. hat eine solche Verzögerung als Verletzung der Rechtsschutzgarantie gewertet, A. vom
31.01.2011 – LV 13/10 -. Zum Beschleunigungsgebot in der Wahlprüfung
5
(Landesverfassungsgericht oder Bundesverfassungsgericht) damit umgegangen sind.
Erfahrungen mit der Anfechtungsmöglichkeit der Nichtzulassung einer Partei zur
Bundestagswahl liegen noch nicht vor.
1. Kandidatenaufstellung
Der erste Schritt des staatlich geregelten Wahlverfahrens besteht in der Aufstellung der
Kandidaten typischerweise innerhalb einer Partei. Hierbei aufgetretene Wahlfehler wurden
viel diskutiert. Klassischer Fall war die Kandidatennominierung der CDU für die Wahl zur
Hamburger Bürgerschaft 1991. Das deutsche Wahlrecht schreibt vor, dass die Kandidaten
einer Partei von den im Wahlkreis ansässigen Parteimitgliedern in demokratischer Wahl zu
bestimmen sind. Dies gilt für die Benennung der Einzelkandidaten im Wahlkreis wie für die
Aufstellung der Listen einer Partei in größeren gebietlichen Bereichen. Hier entscheidet
anstelle einer Mitgliederversammlung die Versammlung der von den Basiseinheiten einer
Partei gewählten Delegierten.
Wann diese Kandidatenbestimmung dem Postulat der Demokratie entspricht, ist nun
umstritten. Im Hamburger hatte das Hamburger Verfassungsgericht die Wahl zur
Bürgerschaft für ungültig erklärt wegen fehlerhafter Kandidatennominierung innerhalb der
CDU. Dabei ging es um zwei Fehler: Zum einen hatten Kandidaten der innerparteilichen
Opposition nur sehr wenig Redezeit, um sich vorzustellen, der „Titelverteidiger“ hingegen
hatte sehr viel mehr Zeit eingeräumt bekommen. Zum anderen war ein Wahlsystem für die
Aufstellung der Liste der Partei praktiziert worden, bei dem einzelne Kandidaten nicht
abgelehnt werden konnten, sondern immer nur die Liste insgesamt; damit bestand praktisch
keine Möglichkeit, einzelne missliebige Kandidaten nicht zu wählen. Die Alternative, eine
völlig andere Liste insgesamt aufzustellen als die vom Parteivorstand vorgeschlagene, ist
praktisch in aller Regel verschlossen.
Die Nominierung der Kandidaten innerhalb der Parteien ist eine wesentliche Entscheidung
für die letztliche personelle Zusammensetzung der Volksvertretung. Zu Recht wird deswegen
die innerparteiliche Kandidatenaufstellung auch kontrolliert: Sie hat eine durchschlagende
Fernwirkung auf die öffentlichen Wahlen.
Im Hamburger Fall vor 21 Jahren wurde aber lebhaft diskutiert,5 welche Folgen
angemessen seien, wenn eine parteiinterne Kandidatenaufstellung mit erheblichen Fehlern
belastet war. Das Gericht hatte, wie gesagt, die gesamte Parlamentswahl für ungültig erklärt.
Eine andere Möglichkeit besteht darin, in einem solchen Fall, nur die Liste derjenigen Partei
nicht zu berücksichtigen, die einen Fehler gemacht hat. Alle anderen Parteikandidaten waren
ja korrekt nominiert worden und es ist, so könnte man argumentieren, im Einklang mit dem
Prinzip der Fehlerfolgenbeschränkung, das nur die fehleraffizierte Liste nicht gewertet wird.
Dies bedeutet, so ist dem entgegen zu halten, freilich auch, dass all diejenigen Wähler, die
sich für die Partei, die den Fehler begangen hat, entschieden haben, ihre Stimme in dem Sinne
verloren haben, als dass sie keinerlei Auswirkungen hat. Da die Fehlerbehaftetheit dieser
Liste erst nach der Wahl bekannt wurde, hatten diese Wähler auch keine Möglichkeit, ihre
Stimme einer anderen Partei zu geben. Insofern dürfte nur die Disqualifizierung der
bemakelten Liste ausscheiden.
Eine andere Frage ist die, ob die Partei, die eine fehlerhafte Kandidatenaufstellung
vorgenommen hat, im Falle von deswegen angesetzten Neuwahlen die Kosten hierfür zu
tragen hat. Allerdings kann dies schnell eine Höhe erreichen, welche die Partei ruiniert. Auch
bedürfte es für eine solche Sanktion einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage. Ehe eine
solche Regelung eingeführt wird, müsste man allerdings auch bedenken, dass eine solche
Haftung die Wahlteilnahme zu einem finanziell möglicherweise nicht tragbaren Risiko macht,
eine Auswirkung, die wohl auch vermieden werden sollte.
5
Hamburger VerfG NVwZ 1993, 1083 ff.
6
Mittlerweile steht in den deutschen Wahlgesetzen ausdrücklich formuliert, dass alle
Teilnehmer einen Anspruch auf hinreichende Vorstellungszeit haben.
Die Anforderungen an die Korrektheit der innerparteilichen Kandidatenaufstellung dürfen
allerdings auch nicht überspannt werden. So hatte das Verfassungsgericht des Saarlandes
darüber zu entscheiden, ob die Kandidatenaufstellung in einem Wahlkreis korrekt war, ob
wohl möglicherweise Parteimitglieder daran teilgenommen haben, die mittlerweile nicht mehr
in diesem Wahlkreis ihren Wohnsitz hatten. Die Partei hatte aber eine Kontrolle anhand der
aktuellen Mitgliederliste und unter Vorlage der Personalausweise durchgeführt. Dass der neue
Wohnsitz noch nicht im Personalausweis vermerkt war, durfte nicht der Partei angelastet
werden. Im Ergebnis wurde somit kein Wahlfehler festgestellt. Die verallgemeinerbare
Maxime lautet: Die Parteien müssen nur die ihnen rechtlich wie tatsächlich möglichen und
zumutbaren Anstrengungen unternehmen, um Wahlrechtsverstöße zu vermeiden.6
Zumutbar und möglich ist für die Parteien aber eine Auszählung der innerparteilichen
Wahlergebnisse, die von den Parteimitgliedern kontrolliert werden kann und deren Ergebnis
protokolliert wird. Gleichwohl auftretende Zählfehler, die erst nachträglich entdeckt werden,
sollen die Gültigkeit der Wahl dann nicht mehr berühren, wenn trotz geeigneter
Kontrollmaßnahmen ein solcher Fehler stehen geblieben ist. Das Wahlrecht zielt also nicht
auf die völlige Fehlerfreiheit der Wahl, will aber systematische, vor allen Dingen in
manipulativer Absicht erfolgende Verfälschungen der Wahlergebnisse vermeiden.
2. Gestaltung der Stimmzettel
Unmittelbarer Gegenstand der Wahlentscheidung der Bürger ist der Wahlzettel. Dessen
Gestaltung kann sich auf das Wahlergebnis auswirken. Im Hinblick auf den Wahlzettel darf
ich zwei Fragenkreise ansprechen.
a) Wenn mehrere Kandidaten oder Parteien zur Wahl stehen, müssen diese auf dem
Wahlzettel in eine bestimmte Reihenfolge gebracht werden – in welche? Nach welchen
Kriterien sollen die Kandidaten auf dem Wahlzettel aufgeführt werden? In Betracht kommt
entweder die alphabetische Reihenfolge, eine ausgeloste Reihenfolge oder eine Reihung nach
dem letzten Wahlergebnis.
Im Saarland sah das Wahlrecht nun vor, dass auf dem Wahlzettel die bislang im Landtag
vertretenen Parteien in der Reihenfolge ihrer letzten Wahlergebnisse aufgeführt wurden, die
beim letzten Mal erfolglosen Parteien sollten anschließend platziert werden, und zwar in
alphabetischer Reihenfolge. Bereits in dieser Heranziehung von zwei unterschiedlichen
Kriterien sah das Gericht eine Beeinträchtigung der Wahlrechtsgleichheit. Welches Kriterium
für die Reihenfolge angewandt werde, spiele keine Rolle, der Wechsel innerhalb eines
Wahlzettels von einem zum anderen Kriterium indiziere aber eine Verletzung des
Gleichbehandlungsanspruches der Parteien bei der Wahl.7 Der Bruch des vom Gesetzgeber
gewählten Systems – das auch ein anderes hätte sein können! – ist gleichheitswidrig und nur
dann verfassungsgemäß, wenn sich hierfür gute Gründe finden lassen.
Im konkreten Fall sah das saarländische Verfassungsgericht trotz dieser Verletzung der
Wahlrechtsgleichheit aber keinen Anlass, die Wahl für ungültig zu erklären. Es wandte
wieder einen Maßstab der „allgemeinen Lebenserfahrung“ an, wonach sich die Wähler nicht
in ihrer Entscheidung an der Reihenfolge auf dem Stimmzettel orientierten, sondern ihre
politischen Präferenzen nach dem Programmen und den Kandidaten bildeten.
b) Der Stimmzettel enthält Erläuterungen, die dem Wähler Hilfe geben zum korrekten
Ausfüllen des Stimmzettels. Dort heißt es etwa, dass ein oder zwei je nach Wahlsystem auch
mehrere Stimmen zu vergeben sind etc. Diese Erläuterung bei der vorletzten Landtagswahl im
Saarland machte dem Wähler nun auch graphisch klar, dass er seine Stimme durch Ankreuzen
6
BVerfGE 89, 243 (256 f.); Saarl. VerfGH NVwZ – RR 2012, 169 (173); dazu M. Morlok, NVwZ 2012, 913
(915).
7
Diese Rechtsprechung geht zurück auf R. Wendt, in: ders./Rixeker (Hrsg.), Saarländische Verfassung, 2009,
Art. 12, Rn. 15; R. Wendt, NVwZ, 1988, 778 (783).
7
eines leeren Kreises rechts von den aufgeführten Parteien und Kandidaten abzugeben habe.
Dies wurde auf dem Stimmzettel auch graphisch dem Wähler anschaulich gemacht, indem
nämlich ein Pfeil auf die Spalte mit den anzukreuzenden Kreisen zeigte. Die Besonderheit lag
nun darin, dass dieser Pfeil – auf dem Wahlzettel! – hinein reichte in das Feld der CDU. Man
kann, wenn man furchtbar kritisch ist, dies also lesen als Anleitung, man solle die CDU
wählen. Dies muss man wohl als mindestens theoretisch mögliche Beeinträchtigung der
Chancengleichheit der Parteien ansehen. (Auch) Aus diesem Grunde wurde die Landtagswahl
angefochten.
Für die Entscheidung darüber, ob dieser Fehler die Wahl ungültig gemacht hat, hat das
Gericht zwei Sachverständigengutachten eingeholt, um klären zu lassen, ob wie und
gegebenenfalls in welchem Ausmaß Wähler in ihrer Entscheidung durch diesen Pfeil
beeinflusst worden sein konnten. Die Sachverständigen kamen zu dem Ergebnis, der
Orientierungspfeil auf dem Stimmzettel habe sich nicht nennenswert auf das Wahlergebnis
ausgewirkt. Dem folgte das Gericht und gab insofern der Wahlprüfungsbeschwerde nicht
statt. Das Bemerkenswerte hieran ist, dass das Gericht die Perspektive der Empirie
eingenommen hat. Es wollte mit den Mitteln der Sozialwissenschaft geklärt haben, ob sich der
von ihm angenommene Wahlfehler in Gestalt des Pfeiles auf das Wahlergebnis tatsächlich
ausgewirkt habe.
Diese Vorgehensweise ist kritisch zu hinterfragen. Dass sich die gerichtliche Praxis um
Sachverständigenwissen bemüht, um empirisch beantwortbare Fragen einer empirischen
Klärung zuzuführen, ist richtig und lobenswert. Allerdings: Handelt es sich bei der Frage nach
der Beeinflussbarkeit der Wähler um eine empirisch zu beantwortende Frage oder um eine
normativ zu beantwortende Frage?
Mit anderen Worten: Es geht um das Wählerbild des Rechtes. Man könnte gegen diese
empirische Perspektive einwenden, das Recht setze von Rechts wegen, also normativ, voraus,
dass die Wähler ihre Wahlentscheidung nicht an solchen Nebensächlichkeiten orientieren,
sondern nach ihrer politischen Präferenz entscheiden. Zugespitzt formuliert: Das Recht geht
davon aus, dass der Wähler weiß, dass er bei der Wahl die Wahl hat. Im Recht arbeiten wir
auch an anderer Stelle mit normativen Unterstellungen. So gehen wir davon aus, dass
Minderjährige nicht uneingeschränkt geschäftsfähig sind, umgekehrt wird vermutet, dass
Volljährige ihr Handeln eigenverantwortlich steuern können und deswegen für begangene
Straftaten auch verantwortlich sind, es sei denn – ausnahmsweise – wird ihre
Unzurechnungsfähigkeit festgestellt. Solche in bestimmten Rechtsgebieten unterstellte
normative Annahmen passen sich einerseits in das normative Gesamtgefüge ein, wonach der
Mensch zur selbständigen Führung seines Lebens fähig ist und nicht der ständigen Anleitung
und Bevormundung bedarf. Zugleich immunisieren solche normativen Annahmen das Recht
gegenüber tatsächlichen Schwächen und Defiziten der Menschen. Ob und in welchem
Ausmaß die unterstellten Fähigkeiten tatsächlich vorliegen, ist in vielen Fällen nur schwer
positiv festzustellen.
Im Übrigen: Auch die sozialwissenschaftliche Empirie ist nicht fehlerfrei. Die Gültigkeit
einer Wahl davon abhängig zu machen, dass ein, zwei oder drei Sachverständige eine
Auswirkung für möglich oder unmöglich halten, ist mit der Schwierigkeit behaftet, dass
wissenschaftliche Untersuchungen fast immer methodisch anfechtbar sind. Jedenfalls gibt es
häufig einen steigerbaren Grad methodischer Korrektheit, so dass hier ein neues
unübersichtliches Diskussionsfeld eröffnet würde, von dem die Gültigkeit der Wahl nicht
abhängen sollte. Dies wird noch gesteigert durch den wissenschaftlichen Fortschritt, der heute
das gestern für sicher gehaltene für widerlegt halten kann.
Ich plädiere also dafür, das Recht in bestimmten Fragen auf normativ gesetzte Annahmen
aufzubauen. Genauer gesagt, dieses wird so praktiziert. Die schwierige Frage liegt nun darin
zu unterscheiden, welche Annahmen von Rechts wegen vorausgesetzt werden dürfen und
welche Fragen als Tatsachenfragen zu behandeln sind.
8
3. Öffentlichkeitsarbeit der Regierung
a) Es ist eine weit verbreitete Praxis der Regierungen, mit Informationen auf die
Öffentlichkeit einzuwirken. Hierzu gehört Aufklärung über aktuelle Fragen, hierzu zählen
auch Empfehlungen, etwa sich umweltbewusst zu verhalten, Recyclingbehälter zu benutzen
und anderes mehr. Ein Staat, der nicht nur mit Befehl und Zwang arbeitet, wird in nicht
unerheblicher Weise an die Vernunft und die Mitwirkungsbereitschaft seiner Bürger
appellieren. Solche informationellen Einwirkungen auf die Bürger sind also grundsätzlich
zulässig.
Davon abzugrenzen ist eine Einwirkung mit einseitiger parteipolitischer Tendenz auf die
politische Willensbildung der Bürger. Hier greift eine Pflicht der staatlichen Organe zur
parteipolitischen Neutralität. Dies gilt für die Staatsorgane generell und in gesteigertem Maße
für alle Aktivitäten, die aus Steuermitteln bezahlt werden – diese stehen nämlich den
Oppositionsparteien nicht zur Verfügung. Diese Pflicht zur staatlichen Neutralität hat in
Deutschland das Bundesverfassungsgericht deutlich herausgearbeitet.8
Zwischen diesen beiden Arten von Öffentlichkeitsarbeit der Regierung gilt es eine
Grenzlinie zu ziehen. Hierfür sind zwei Kriterien maßgeblich: Die zeitliche Nähe zur Wahl
und der werbende Charakter zugunsten der Regierungsparteien.
In zeitlicher Hinsicht gilt: Die staatlichen Instanzen haben sich umso stärkere
Zurückhaltung aufzuerlegen, je näher der Wahltag rückt. Die Vorwahlzeit wurde in
Absprachen zwischen den Regierungen in Deutschland auf eine Zeit von fünf Monaten
festgelegt.
Der werbende Charakter von Informationen für die Öffentlichkeit bemisst sich danach, ob
die Parteizugehörigkeit der jeweiligen Regierung genannt wird, ob kritische Äußerungen über
die Oppositionsparteien gemacht werden, ob eine Hervorhebung der Leistungen der eigenen
Regierung unternommen wird. Hier kommt es auf das Gesamtbild der Informationstätigkeit
an.
b) In einem Fall, der wiederum im Saarland spielte, hatte die Landesregierung werbende
Anzeigen geschaltet und außerdem wurde vor der Wahl ein Brief des Ministerpräsidenten an
die Beamten des Landes versandt, in dem dieser die Leistungen der Landesregierung, deren
Parteigetragenheit benannt worden war, hervorgehoben wurden. Das Verfassungsgericht hatte
die Verfassungswidrigkeit dieser Werbemaßnahmen festgestellt.
Nach den allgemeinen Grundsätzen der Wahlprüfung kam es für die Gültigkeit der Wahlen
auf die Mandatsrelevanz dieser unzulässigen Einwirkung auf die Wähler an. Hier hat das
Gericht den Maßstab der praktischen Lebenserfahrung angelegt und eine Einwirkung, die für
das Gesamtwahlergebnis erheblich war, für äußerst unwahrscheinlich erklärt. Es stützte sich
dabei wiederum auf zwei Sachverständigengutachten. Diese Sachverständigen hatten
ausgeführt, zwar seien Auswirkungen der unzulässigen Regierungspropaganda nicht
auszuschließen, solche Effekte seien aber neutralisiert worden durch entgegengesetzte
Einflussfaktoren; auf den Wähler wirkten die verschiedensten Wahlimpulse ein, so dass der
einzelne kaum entscheidend sei. Damit kam das Gericht zum Ergebnis, die erforderliche
Mandatsrelevanz der verfassungswidrigen Einwirkung auf die Öffentlichkeit sei nicht
gegeben.
c) Dieser Begründung ist deutlich zu widersprechen. Das entscheidende Argument, die
unzulässige Einwirkung sei neutralisiert worden durch Werbeimpulse, die in die andere
politische Richtung wirkten, befremdet. Rechtlich Unzulässiges darf nicht dadurch um seine
Bedeutung gebracht werden, dass rechtlich Zulässiges dagegen aufgerechnet wird. Vielmehr
ist im gedanklichen Modell festzuhalten, dass ohne die illegalen Effekte die legalen eine
stärkere Wirkung hätten entfalten können. Man kann dies auf die Formel bringen: Legale
Einflussfaktoren müssen es nicht hinnehmen, dass sie durch illegale konterkariert werden. Die
8
BVerfGE 44, 125 (139 ff.); weiter 66, 369 (380).
9
Chancengleichheit im Wahlkampf bedeutet, dass sich alle Seiten nur legaler Mittel bedienen
dürfen.
Das Wahl- wie das Parteienrecht sind eine besondere Art von Wettbewerbsrecht. Hier gilt
die Maxime: Kein Vorsprung durch Rechtsbruch. Verstöße gegen die Wettbewerbsregelungen
müssen geahndet werden. Es ist nämlich höchst unbefriedigend, dass nach der
Rechtsprechung, die sich auf die praktische Wahrscheinlichkeit stützt, Verletzungen der
staatlichen Neutralitätspflicht im Wahlkampf fast immer folgenlos bleiben müssen. Dies wirkt
der Rechtstreue entgegen. Die empirisch fundierte These, einzelne Einwirkungen im
Wahlkampf blieben relative folgenlos, mag zwar zutreffen, sie stellt aber eine Einladung zum
Verfassungsbruch dar.
Schließlich ist wiederum zu fragen, ob die Auswirkungen von Wahlkampfmaßnahmen
nicht wiederum in normativer Betrachtung abzuschätzen sind. Ich meine, dass von Rechts
wegen davon ausgegangen wird, dass Wahlkampfmaßnahmen wirksam sind. Gerade
deswegen gibt es rechtliche Sicherungen der Chancengleichheit im Wahlkampf, gerade
deswegen gibt es Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung. Wenn es ohnehin
gleichgültig ist, was öffentlich verhandelt wird, werden diese zentralen Gewährleistungen
eines freiheitlichen Willensbildungsprozesses tendenziell irrelevant. Ich stelle also die These
auf: Das Recht unterstellt, dass die Bürger im demokratischen Meinungsbildungsprozess sich
eine eigene Meinung bilden, die ihnen zur Kenntnis gelangenden Informationen
berücksichtigen und verarbeiten und dass demgemäß die Bürger sich in ihren politischen
Präferenzen bestätigt fühlen oder diese auch verändern. Eine Verletzung dieser Sicherungen
eines freiheitlichen und chancengleichen Meinungsbildungsprozesses sollte von diesem
normativen Bild des Wählers her Konsequenzen haben.
4. Vorzeitige Twittermeldungen über das Wahlergebnis
Die Chancen der Wähler, das Wahlergebnis zu beeinflussen, müssen gleich sein. Vor
Schließung der Wahllokale darf niemand Informationen über den bisherigen
Abstimmungserfolg der einzelnen Parteien haben. Damit ist eine strategische Stimmabgabe in
Kenntnis von bisherigen Wahlergebnissen ausgeschlossen. Vorzeitige Meldungen über das
voraussichtliche Wahlergebnis können diese Chancengleichheit aller Wähler, unabhängig
davon, wann sie wählen, beeinträchtigen.
In dem saarländischen Wahlprüfungsverfahren, auf das ich hier häufig zurückkomme, war
auch gerügt worden, dass während der Öffnungszeit der Wahllokale Wahlergebnisse über
„Twitter“ veröffentlicht worden seien. Das Gericht hat diese Wahlprüfungsbeschwerde schon
bereits deswegen für unbegründet erklärt, weil in den Tweets nur die Rede gewesen sei von
einer „Prognose“ und eben nicht darauf abgehoben worden war, dass diese Prognose sich aus
Nachwahlbefragungen, am Ausgang des Wahllokals gestützt hätten.
Unabhängig von diesem konkreten Ablauf darf man eine Wahl nicht wegen solcher
Twittermeldungen oder ähnlicher Veröffentlichungen für ungültig erklären. Die Gültigkeit der
Wahl darf nicht in die Hände von Privaten gelegt werden. Die Bestandskraft der Parlamente
genießt hier Vorrang.9
5. Verfassungswidrige Wahlgesetze
Die Korrektheit der Wahl umfasst – selbstverständlich – auch die Verfassungsmäßigkeit
der Wahlgesetze. Die parlamentarische Stufe der Wahlprüfung in Deutschland unterstellt die
Verfassungsmäßigkeit der Wahlgesetze, stellt diese nicht in Frage. In der Tat ist ein
Parlament, das ein Wahlgesetz erlassen hat, ein schlechter Kontrolleur seiner eigenen
Produkte. Wohl aber gehört die Verfassungsmäßigkeit der Wahlgesetze zum Prüfprogramm
der Verfassungsgerichte im Wahlprüfverfahren. Wie oben bereits kurz gesagt, kann die
Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Wahlgesetzes verbunden werden mit der
Aufforderung, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt die festgestellte Verfassungswidrigkeit zu
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Zum Problem von Twittermeldungen ausführlich Ch. Hientzsch, DöV 2010, 357 ff.
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beseitigen, auch kann die Nichtigkeit des Gesetzes ausgesprochen werden. Dies ist pro futuro
immer möglich, auch kann die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes ohne große Probleme
festgestellt werden, wenn dieses Gesetz noch nicht die Grundlage einer Wahl war. Das
deutsche Bundesverfassungsgericht hat im vergangenen Sommer eine Wahlrechtsänderung
für verfassungswidrig erklärt, diese Änderung war aber noch nicht praktiziert worden.
Anders und schwieriger liegen die Dinge, wenn im Wahlprüfungsverfahren festgestellt
wird, dass die Wahl aufgrund eines verfassungswidrigen Gesetzes durchgeführt worden war.
Dann muss die Wahl für ungültig erklärt werden. Dies geschah in Schleswig-Holstein.10
Wenn festgestellt wird, dass eine Parlamentswahl nach einem verfassungswidrigen Gesetz
durchgeführt wurde, so begründet dies ein Dilemma:
- Ein auf verfassungswidriger Grundlage gewähltes Parlament kann man eigentlich
nicht weiter agieren lassen.
- Andererseits ist die Auflösung dieses Parlamentes mit dem Problem behaftet, dass
dann niemand mehr vorhanden ist, der ein verfassungsmäßiges Wahlgesetz verabschieden
kann. Ohne Parlament existiert kein Gesetzgeber mehr.
In diesem Dilemma scheint es keine andere vernünftige Möglichkeit zu geben, als dass das
mit einem Makel behaftete Parlament für begrenzte (!) Zeit weiter agiert und in dieser Zeit als
vorrangige Aufgabe ein neues, jetzt verfassungsmäßiges Wahlgesetz verabschiedet. So lautete
denn auch die Entscheidung des Verfassungsgerichtes in Schleswig-Holstein.
V. Fazit
Ich komme zu einem Fazit.
1. Das Grundproblem der Wahlprüfung
Die Überprüfung einer durchgeführten Wahl muss mit der Schwierigkeit umgehen, dass
zwei widerstreitende Interessen in Einklang gebracht werden müssen: Einerseits soll die
Richtigkeit der Wahl sichergestellt und sollen aufgetretene Fehler geahndet werden.
Andererseits ist aber auch der Bestand des einmal gewählten und zusammengetretenen
Parlamentes zu wahren. Eine großzügige Haltung bei der Zulassung von Neuwahlen führte
nicht nur zu hohen Kosten, vielmehr ist zu sehen, dass angesichts der Fehlerträchtigkeit einer
Parlamentswahl auch eine erneute Wahl das Risiko birgt, unter Fehlern zu leiden. Auch
entwerteten häufige Neuwahlen den Wahlakt als solchen.
Zwischen den beiden Zielen der Richtigkeit der Wahl und dem Bestandsschutz des
gewählten Parlaments muss im Wahlprüfungsverfahren die Balance gehalten werden.
2. Notwendigkeit von Rechtsschutz vor der Wahl
Um diese Problematik abzumildern, sollten so viele Wahlfehler wie möglich vor der
Durchführung der Wahl vermieden werden. Deswegen ist der Rechtsschutz vor der Wahl
auszubauen. Das Abstellen von Fehlern vor der Wahl macht Neuwahlen überflüssig. Das
deutsche Recht hat – endlich – für Parteien, die nicht zur Wahl zugelassen worden sind, nun
eine Rechtsschutzmöglichkeit vor der Wahl geschaffen.
Gleichwohl besteht noch eine Rechtsschutzlücke: Es gibt nach wie vor keinen
Individualrechtsschutz für Wähler. Wird das Wahlrecht eines Wählers verletzt, so steht
diesem kein aussichtsreicher Rechtsschutz zur Verfügung. Vor der Wahl kann er etwa gegen
seine Nichtzulassung zur Wahl nichts unternehmen, nach der Wahl ist eine Wahlprüfung in
aller aller Regel aussichtslos, weil die eine Stimme höchst selten sich auf die
Zusammensetzung des Parlaments ausgewirkt haben wird, also Mandatsrelevanz besitzt. Eine
Verfassungsbeschwerde wegen Entzug des Wahlrechtes kommt nicht in Betracht, weil die
Rechtsstreitigkeiten um eine Wahl im Wahlprüfungsverfahren monopolisiert sind, so § 49
BWahlG. Diese relative Schutzlosigkeit des Wahlrechtes des einzelnen Bürgers ist umso
überraschender, als das deutsche Bundesverfassungsgericht gerade das Wahlrecht als
Instrument eingeführt hat, um die Prozesse der europäischen Vereinigung durch den einzelnen
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Siehe Schleswig-Holsteinisches Verfassungsgericht JZ 2011, 261 ff.; Dazu M. Morlok, JZ 2011, 234 ff.
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Bürger vor dem Verfassungsgericht angreifbar zu machen. Das Wahlrecht enthalte das Recht
jeden Bürgers, über die wesentlichen politischen Fragen mitentscheiden zu dürfen, deswegen
dürften nicht zu viele Kompetenzen an die Europäische Union abgegeben werden.
3. Strenger Maßstab der Wahlrechtsgleichheit
Für die Feststellung von Wahlfehlern sollte ein strenger Maßstab gelten. Die
Verfassungsgerichte in Deutschland praktizieren dies auch, insbesondere im Hinblick auf die
Chancengleichheit der Parteien und der Kandidaten.
4. Weniger strenge Maßstäbe für die innerparteiliche Phase der Wahlvorbereitung.
Die innerparteilichen Prozesse der Wahlvorbereitung werden an einem weniger strengen
Maßstab gemessen. Es muss möglich sein, dass die Bürger in ihrem freiwilligen
Zusammenschluss in Parteien wirksame Wahlvorschläge zusammenstellen und sich mit
diesem an staatlichen Wahlverfahren beteiligen. Die Parteien müssen deswegen nur die ihnen
möglichen und zumutbaren organisatorischen Anstrengungen unternehmen.
5. Mandatsrelevanz von Wahlfehlern
Die Strenge bei der Feststellung von Wahlfehlern findet ihr Gegengewicht im Kriterium
der Mandatsrelevanz. Wahlfehler, die festgestellt wurden, führen nur dann zu einer
Ungültigkeit der Wahl, wenn sich diese Fehler auch auf die Zusammensetzung des
Parlamentes ausgewirkt haben. Bei der Feststellung der Mandatsrelevanz wird ein Maßstab
der praktischen Wahrscheinlichkeit angelegt, eine nur theoretische mögliche Auswirkung auf
die Zusammensetzung des Parlamentes genügt nicht. Anders formuliert: Der gesunde
Menschenverstand wird auch bei der Einschätzung von Wahlfehlern und den hypothetischen
Chancen von Kandidaten und Parteien, die unter einem Wahlfehler litten, appliziert.
Darüber hinaus wird ein mandatsrelevanter Wahlfehler auf das notwendige Mindestmaß
beschränkt. Falls nur in einem Wahlkreis ein Fehler auftrat, so wird nur in diesem Wahlkreis
eine neue Wahl durchgeführt.
6. Die Frage nach dem Wählerbild des Rechtes
Eine in verschiedenen Konstellationen sich stellende Frage ist die nach dem Wählerbild
des Rechtes. Bei der Einschätzung der Mandatsrelevanz kann man entweder rein empirisch
vorgehen und damit die Faktizität der Wähler der Entscheidung zugrunde legen, jedenfalls der
Faktizität, wie sie von den Sozialwissenschaften festgestellt wird. Dem steht eine normative
Fassung Wählers entgegen, wonach dieser ein aufgeklärter Bürger ist, der einerseits weiß,
dass er die freie Wahl hat, der andererseits aber auch sich an den ihm zugänglichen
Informationen orientiert. Dies ist eine auch theoretisch interessante Frage, die auch in anderen
rechtlichen Zusammenhängen eine Rolle spielen kann.
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