7. Bremer Kongress für Palliativmedizin Freitag, 25. 3. 2011, 15.30 – 16.00 Ethische und rechtliche Entscheidungsfindungen bei Schwerstbehinderten Dr. jur. Peter Holtappels Dres. von Waldersee in Dankbarkeit zugeeignet. Die Wissenschaften der Mediziner und Juristen verbindet jedenfalls die Einsicht, es sei sinnvoll, sich der Bedeutung jener Begriffe zu versichern, die man im Diskurs verwenden will, bevor man ihn beginnt: Versuchen wir also als erstes den Begriff des Schwerstbehinderten zu definieren. Es handelt bei diesem Wort um einen Superlativ (Behindert – schwerbehindert - schwerstbehindert). Das Wort stammt aus dem Lateinischen - „superlatio“ - und wird üblicherweise mit „Übertreibung“ übersetzt. Doch genau darum geht es bei dem Schwerstbehinderten nicht. Schon diese offensichtlich mangelhafte Präzision bei ihrer Bezeichnung ist für den bisherigen Umgang mit den Schwerstbehinderten symptomatisch; es fehlte an einem nachhaltigen Bemühen, sie zu verstehen. In der heute üblichen Definition wird als Schwerstbehinderter ein Mensch bezeichnet, bei dem mehrere seiner Fähigkeiten beeinträchtigt sind und die Summe dieser Beeinträchtigungen dazu führt, dass ihm gezielte Bewegungen in der Regel nur mit Hilfestellung möglich sind und/oder dass er in der Regel zwar eindrucksfähig aber häufig nicht mehr ausdrucksfähig ist. Wird dem Schwerstbehinderten so viel Unterstützung zu teil, dass er damit seine Beeinträchtigungen – jedenfalls annähernd - ausgleichen kann, so vermag er, sein eigenes Leben wunschgemäß zu leben.1 Dem entspricht die in den 90ger Jahren des letzten Jahrhunderts erkämpfte neue Zielvorstellung des Umgangs der deutschen Gesellschaft mit ihren Schwerstbehinderten und derselben mit ihren Mitbürgern: An die Stelle der Integration tritt nunmehr die Inklusion als Ziel des gesellschaftlichen Umgangs miteinander. Statt den Schwerstbehinderten einer Gesellschaft einzugliedern, der er vermeintlich nicht angehört, soll im Wege der Inklusion nunmehr seine von Geburt an bestehende Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft als deren gleichberechtigtes Mitglied aufrecht erhalten werden. Barrierefreie Technologie gilt nun als Garant von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung.2 Dahinter ver1 Im Jahre 2009 lebten in der Bundesrepublik 7.1 Mio. Schwerbehinderte von denen 31% einen Behinderungsgrad von 50% und 25% einen von 100% aufwiesen. Bei letzteren (also 1.8 Mio.) dürfte es sich überwiegend um Schwerstbehinderte handeln. 2 Dazu insbesondere Valentin Aichele „Behinderung und Menschenrechte“ in „Menschen mit Behinderungen“ ( APuZ 23/2010, S.13–19). In der Anthroposophie spricht man dagegen von Seelenpflegebedürftigkeit und definiert diese wie folgt: Der Terminus "Seelenpflegebedürftig" weist auf der individuellen leiblich-seelischen Ebene darauf hin, dass jeder Mensch nicht nur entwicklungsbedürftig, sondern auch entwicklungsfähig ist. Unsere mehr oder weniger offenkundigen Ungleichgewichtigkeiten treten bei Menschen mit Behinderungen nur stärker ins Bewusstsein. Auf diese individuellen "Konstitutionsmerkmale" antwortet die diagnostische und therapeuti- 1 birgt sich die bekannte Technikgläubigkeit. Man glaubt, die Umwelt durch technische Maßnahmen universell zugänglich und nutzbar machen zu können. Gelänge dies – so wird argumentiert - so gäbe es keine Benachteiligungen mehr, weil behinderte Menschen nicht mehr ausgeschlossen oder auf diskriminierende Weise auf Sondernutzungen und Sonderwege verwiesen würden. Nicht alles ist jedoch machbar und man wird sich zu fragen haben, inwieweit man mit derartigen Methoden den Problemen der behinderten Menschen gerecht werden kann. Niemand guten Willens aber wird bestreiten wollen, dass unsere Gesellschaft bei der tatsächlichen Verwirklichung dieses Ziels einen gehörigen Schritt vorangekommen ist. Dass es in der faktischen Wirklichkeit immer noch beklagenswerte Defizite insbesondere bei der Beseitigung geistiger Barrieren in den Köpfen der nicht behinderten Mitbürger gibt3, ist zutreffend, darf aber auch nicht verwundern. Derartige Prozesse lassen sich nicht binnen eines Dezenniums restlos abwickeln. Aber grundsätzlich angekommen und angenommen sind die Schwerstbehinderten in der deutschen Gesellschaft m.E. schon. Ohne Einschränkung lässt sich das von der hier relevanten, rechtlichen Position der Schwerstbehinderten sagen. In ihren Verfassungsrechten stehen sie den Mitbürgern, die eine Behinderung nicht zu ertragen haben, völlig gleich. Sie sind Träger von Grundrechten wie jeder andere Mensch. Zusätzlich dazu sind ihnen – in dem Bestreben, ihre restlose Inklusion zu ermöglichen - eine Fülle von Rechtsansprüchen gewährt und Schutzvorschriften für sie erlassen worden.4 Die Tatsache, dass die deutsche Justiz mit der Anwendung dieser Vorschriften – soweit sie neueren Datums sind - „hinterherhinkt“, ist deren Überlastung geschuldet, ändert aber an der Existenz dieser Ansprüche und Geltung der Schutzrechte nichts. Wer sich zum Beispiel – nicht nur vorübergehend - in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, kann sich nicht mehr selbst bestimmen. Er hat seine Autonomie5 verloren. Diese Tatsache hat nach unserer Rechtsordnung nun aber keinerlei Einfluss auf seine Position als Träger von Grundrechten sche Zuwendung zum Kind mit heilpädagogischen Angeboten, die ihm Ausgleichsmöglichkeiten geben. In Menschen, die wir als behindert bezeichnen, treten uns häufig Persönlichkeiten entgegen, deren Lebensintensität, Willenskraft und Sozialfähigkeit uns zutiefst beeindrucken können. Sie machen uns bewusst, dass der Mensch nicht sein Leib ist, sondern einen Leib hat, mit dem er sich auseinandersetzt und den er sich mehr oder minder zu eigen machen kann, vergleichbar einem Musiker, der auf einem Instrument spielt. Unsere eigene Lebenslage gehört daher nicht als passive Gegebenheit zu uns, sondern erweist sich als individuelle Sinnorientierung, als Ausgangspunkt für unsere biographische Aufgabenstellung. Anthromedia. net. (http://www.anthromedia.net/ fachdossiers/ heilpaedagogik-und-sozialtherapie/was-ist-heilpaedagogik) 3 Das gilt insbesondere für den Arbeitsmarkt. Dazu Lisa Pfahl, Justin J. W. Powell „Draußen vor der Tür: Die Arbeitsmarktsituation“ APuZ 23/2010, 32–38 „Menschen mit Behinderungen sind häufig vom Erwerbsleben ausgeschlossen. Somit sind sie einem erhöhten Arbeitslosigkeits- und Armutsrisiko ausgesetzt. Das Fehlen qualifizierender Schulabschlüsse und Berufsausbildungen stellt eine zentrale Ursache für ihre Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt dar.“ Vergl. auch Beerheide in Ärzteblatt vom 03.12.2010 zur mangelhaften ärztlichen Versorgung von Schwerbehinderten. 4 So durch das UN- Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das durch das Gesetz vom 21.12.2008 (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35) wörtlich in das deutsche Recht übernommen worden ist und das SGB XI, das die Pflegeversicherung regelt, um nur die wesentlichen zu nennen. 5 Autonomie wird – mit Kant - hier als die Möglichkeit des Menschen verstanden, sich durch sich selbst in seiner Eigenschaft als Vernunftwesen zu bestimmen. Danach ist der Wille nur frei, wenn er von der Vernunft bestimmt wird. 2 oder auf seine Ansprüche auf Assistenz bei der Inklusion. Er wird vielmehr vor den Folgen des Verlustes seiner Autonomie durch das Recht geschützt. Dazu ist bereits am 1.1.1900 ein „Schutzgesetz für Minderjährige und Geisteskranke“ in Kraft getreten, das Ihnen unter dem Namen BGB bekannt ist. In dessen § 104 wird bestimmt, dass niemand aus Äußerungen eines Schwerstbehinderten, der seinen Willen nicht mehr frei bestimmen kann, irgendwelche rechtlichen Folgen ableiten kann und in den §§ 1896 ff BGB hat der Gesetzgeber geregelt, dass ihm auch persönlicher Rechtsschutz in der Person eines Betreuers gewährt wird.6 Zusammenfassend lässt sich also zu dem Inhalt der zu verwendenden Rechtsbegriffe und zur Zielrichtung des anzuwendenden deutschen Rechtes sagen: 1. Das deutsche Behindertenrecht zielt auf Inklusion des Behinderten. 2. Behinderte und Nichtbehinderte sind Träger derselben Grundrechte. 3. Behinderte haben besondere rechtliche Ansprüche um ihre Inklusion zu ermöglichen. Eine Klärung der im Verhältnis zu den Schwerstbehinderten anwendbaren ethischen Begriffe ist einfach, sind diese doch auch als Grundlage der deutschen Rechtsordnung akzeptiert: Beiden liegt als deren archimedischer Punkt der Wortlaut des Art 1/ GG zu Grunde. Dieser lautet: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Was das im Einzelfall bedeutet, ist bei seiner Entscheidung zu bestimmen. Hier ist daraufhin zuweisen, dass der Art 1/I GG mit absoluter Geltung ausgestattet ist, das heißt, dass alles entgegenstehende Recht a priori nichtig ist 7 und dass abweichende sittliche Normen keine Geltung beanspruchen können. Deshalb sind die Produkte des angelsächsischen Utilitarismus, wie wir sie bei Singer oder Beauchamp und Childress finden, weder mit deutschem Recht noch mit der Grundnorm deutscher Ethik kompatible. 8 Angesichts des Todes sind Sonderethiken zudem unangebracht. Aus dem Versuch der Klärung der Begriffe ergibt sich schon, dass deutsche medizinische Ethik und deutsches Recht für Entscheidungen, die Schwerstbehinderte betreffen, jedenfalls so lange keine Besonderheiten postulieren, wie deren Tod nach ärztlicher Voraussicht nicht unmittelbar bevorsteht, es sich bei ihnen also nicht um Palliativpatienten handelt. Der genus 6 § 1896/I BGB lautet: Kann ein Volljähriger auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, so bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer. Den Antrag kann auch ein Geschäftsunfähiger stellen. Soweit der Volljährige auf Grund einer körperlichen Behinderung seine Angelegenheiten nicht besorgen kann, darf der Betreuer nur auf Antrag des Volljährigen bestellt werden, es sei denn, dass dieser seinen Willen nicht kundtun kann. Gegen den freien Willen des Volljährigen darf ein Betreuer nicht bestellt werden. 7 Das ergibt sich aus der „Unantastbarkeit“ der menschlichen Würde. Siehe dazu nur Herdegen in Maunz-Dürig Grundgesetz RN 73 ff zu Art. I Abs.1. 8 Vergl. Dazu 1. “ Aufklärung und Kritik“ Sonderheft 1/1995 (schwerbehinderte_menschen_ihre_rechte) und 2. „Principles of Biomedical Ethics“, Tom L. Beauchamp und James F. Childress von Oxford University Press 2009 (6.Auflage). Deren vier Prinzipien lassen sich zwar aus dem Gebot des Würdeschutzes herleiten, sind jedoch nicht identisch mit ihm. 3 loci, der hier heute herrscht, veranlasst mich jedoch anzunehmen, ich sollte mich auch zu den Spezifika der Entscheidungsfindung am Lebensende von Schwerstbehinderten äußern. Und hier wird es nun in der Tat etwas schwieriger. Aber nicht weil es sich bei dem Palliativpatienten um Schwerstbehinderte handelt, sondern weil die akademischen Repräsentanten der Palliativmedizin es bisher versäumt haben, sich mit der gebotenen Sorgfalt diese Themas anzunehmen.9 Es geht um das Kriterium, das einen Palliativarzt berechtigt - oder sogar verpflichtet, die heilende Therapie abzubrechen und eine palliative Therapie, d.h. die Sterbebegleitung anzubieten. Betrachten wir den folgenden Fall: Die 86jährige Patientin lebte ihr Leben lang auf dem elterlichen Hof, den sie mit ihrem Bruder gemeinsam bewirtschaftete, wobei sie das Vieh ebenso liebevoll versorgte wie den unverheirateten Bruder. Sie ist seit ihrer Geburt taubstumm. Sie erlitt vor 15 Monaten einen Schlaganfall, als dessen Konsequenz sie in ein Wachkoma fiel. Nach erfolglosen Versuchen der Rehabilitation wird sie in einem Pflegeheim in Langzeitpflege versorgt und dabei mittels einer PEG Sonde ernährt. Auf die Vorstellungen seiner Schwester zum Sterben angesprochen, hat der Bruder erklärt, sie hätten darüber nicht kommuniziert, aber er könne sich gut vorstellen, dass sie gehen könne. Sie habe ein sattes Leben gelebt. Der behandelnde Arzt hat es sich zur Regel gemacht, die Indikation für die künstliche Ernährung alle drei Monate zu überprüfen. Ein Neurologe hat nach Ablauf von 12 Monaten seit dem Schlaganfall aufgrund einer gründlichen neurologischen Untersuchung erklärt, die Patientin befinde sich in einem permanent vegetativen Zustand ohne Bewusstsein. Eine Rückkehr ihres Bewusstseins halte er für nahezu ausgeschlossen. Der behandelnde Arzt schloss sich dieser Diagnose an und stellt nunmehr, nach Ablauf von weiteren drei Monaten, fest, dass sich der Zustand der Patientin nicht verändert habe. Erkennbar hat der Arzt nur eine alternative Option: Er kann entweder die lebensverlängernde künstliche Ernährung der Patientin fortsetzen oder sie abbrechen. Er muss aber jene Option ergreifen, die indiziert ist, denn wir erinnern uns: Eine nicht indizierte therapeutische Maßnahme stellt immer eine Körperverletzung dar. Unter dieser Drohung muss er die Entscheidung fällen und weiß nicht einmal, nach welchen objektiven Kriterien er dies tun soll. Wenn er versuchen sollte, Zuflucht bei den Autoritäten seines Faches zu suchen, so wird er – wie gesagt - kaum Einschlägiges finden. Lediglich ein Vertreter der akademischen Palliativmedizin hat es bisher für notwendig befunden, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen: Der Münchner Ordinarius Borasio, der die Ansicht vertreten hat, das Therapieziel müsse ver9 Sie werden daraufhin von Philosophen und Juristen auch geziehen, einen beruflichen Schweigekodex um die ungelösten medizinischen, ethischen und rechtlichen Fragen am Lebensende zu kultivieren. So Klaus Kodalle „Selbstbestimmung, Suizid, Tötung auf Verlangen und aktive Sterbehilfe“ in Charbonnier, Klaus Dörner, Steffen Simon „Medizinische Indikation und Patientenwille“ Schattauer 2008; Claus Roxin „Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe“ in Revista Electrónica de Ciencia Penal y Criminología RECPC 01-10 (1999) unter II/2; Jens Schildmann et al. „End-of life practice care: a cross setional survey of physician members of the German Society for Palliative Medicine“ in Palliat Med. 6.9.2010; Linder „Grundrechtsfragen aktiver Sterbehilfe“ in JZ 2006/373 ff /373 spricht von einer bisherigen Tabuisierung des Themas und Duttge „Selbstbestimmung aus juristischer Sicht“ ZPalliativmed. 2006;7/48-55 (54), ruft zu Recht zu „interdisziplinärem Forschen und Zusammenwirken“ auf. Vergl. auch Schubert/Holtappels „Palliativmedizin, Suizid und aktive Sterbehilfe (I)“ in ASUP 4/09 S. 11 ff. 4 nünftig sein.10 Niemand wird bestreiten wollen, dass auch der ärztliche Denkprozess, der die medizinische Versorgung jedes Patienten dirigiert - wie jeder andere - von der Vernunft kontrolliert sein sollte. Borasio verwendet den Begriff aber offenbar nicht im philosophischen Sinne, sondern in dem der Umgangssprache, wonach vernünftig ist, was praktikable ist. Der Rekurs auf diese Art der ärztlichen Vernunft wird von der Rechtsordnung jedoch kritisch gesehen. Das Bundesverfassungsgericht spricht von der „Vernunfthoheit des Arztes“, um ihm diese sogleich abzusprechen.11 Dem dürfte die Mehrzahl der Ärzte zustimmen, denn der deutsche Arzt sieht sich eher als Diener seines Patienten12 denn als dessen Lehrer. Er ist – nach seinem Selbstverständnis - vielmehr dem Wohle seines Patienten verpflichtet. Das aber führt zu einer anderen Antwort auf die gestellte Frage nach dem für die Entscheidung über die Indikation maßgebenden Kriterium: Entscheidend für die Stellung der ärztlichen Indikation ist danach, ob eine vom behandelnden Arzt gewählte therapeutische Option dem Patienten nutzt oder nicht, ob sie für diesen Sinn macht oder ob sie „futile“ ist.13 Bei Palliativpatienten, bei denen der behandelnde Arzt darüber nachzudenken hat, ob die Fortsetzung einer kurativen therapeutischen Maßnahme noch indiziert ist, ist der Frage eben jedes entscheidende „noch“ hinzuzufügen. Damit erhält die Entscheidung aber ihre überragende, weil – im wahren Sinne des Wortes - tödliche Bedeutung. Zugleich wird deutlich, dass der behandelnde Arzt hier primär nur über die Indikation für die Fortführung der kurativen Therapie entscheidet. Der andere Teil des „Paradigmenwechsels“, der Übergang zur palliativen Therapie, erfordert eine zweite Entscheidung. Beide sind nach ihrer Art grundverschieden. Die erste erfolgt von „Rechts wegen“ und deshalb benötigt der Arzt für sie auch keine Einwilligung des Patienten. Ihr kann der Patient nur entkommen, wenn er den Arzt entlässt, der zweiten kann der Patient die Zustimmung verweigern.14 Beides Entscheidungen, die nur theoretisch zu diskutieren sind. Hat der behandelnde Arzt eines Schwerstbehinderten diesen Denkprozess zu durchlaufen, so ist die entscheidende Frage also: „Was nutzt meinem schwerstbehinderten Patienten?“ Nicht: „Was nutzt einem Schwerstbehinderten?“ Und auch nicht: „Was meine ich, dass für einen Schwerstbehinderten von Nutzen wäre?“ oder für „meinen schwerstbehinderten Patienten von Nutzen wäre?“ Der behandelnde Arzt hat sich in seinen Patienten hinein zu versetzen und von dort zu entscheiden. Nur dergestalt wird er seiner Kardinalpflicht, dessen 10 Bayrisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, „Künstliche Ernährung und Flüssigkeitsversorgung“ , S. 24 11 BverfGE 58/208; Abs. 44 12 § 1/I der MBO lautet: Ärztinnen und Ärzte dienen der Gesundheit des einzelnen Menschen ….. 13 Siehe hierzu Holtappels in „Die Indikation als Einfallstor für Recht und Ethik in der Palliativmedizin“ PMR 2010 11.10.10. und Willenbrock/Holtappels „Lasst meinen Vater gehen“ in ASUP 3-10, S. 10 ff unter II/1/e. Wie hier im Ergebnis auch Winkler „ Ist ein Therapieverzicht gegen den Willen des Patienten ethisch begründbar?“ in Ethik Med (2010)22:89-102, 92 ff, anders Simon in „Ethische Aspekte“ in Löser et al. „Unter- und Mangelernährung“ (2011) 22.3. 14 Diese Unterscheidung hat der BGB in seiner Putz-Entscheidung übersehen, als er meinte, beide unter dem Oberbegriff des Therapieabbruches zusammenfassen zu sollen. (2 StR 454/09 vom 25.6.2010) Dazu auch Holtappels „Von inkompetenten Juristen und einem BGH-Senat, der sich müht.“ In ASUP 4-10.S.9 5 Würde zu schützen, insbesondere dann gerecht, wenn der Patient nicht mehr einwilligungsfähig ist. Eine Erwartung vermag ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht zu erfüllen: Die nach dem objektiven Kriterium für die Entscheidung, was einem schwerstbehinderten Palliativpatienten am Ende seines Lebens nutzt. Diese Entscheidung haben Sie, die Ärztinnen und Ärzte zu treffen, denn der Gesetzgeber hat Ihnen mit dem § 1901b/I BGB die Pflicht auferlegt, die Indikation zu stellen.15 Dass Sie angesichts der psychischen Last, die ihnen damit auferlegt wird, häufig wünschten, Sie wären an einem anderen Ort, ist verständlich. Dass Sie diese Last gleichwohl übernehmen, adelt Sie. Lown hat dazu gesagt: „Die Ärzteschaft verfügt über unvergleichliche Kräfte um bei dem Großteil der Menschen die Not und Angst vor dem Sterben zu lindern. Die Ärzte können den Prozess des Sterbens menschlich gestalten und ihm eine Würde verleihen, die diesem allerletzten Lebensabschnitt zumeist fehlt.“ 16 Und das gilt für jedermann, der Sterbende in ihren Tod begleitet. Hamburg, den 9.12.2010 Dr. Peter Holtappels Tel.: 40 824259 Fax.: 40 81957320 e-mail: [email protected] 15 Die Vorschrift lautet: Der behandelnde Arzt prüft, welche ärztliche Maßnahme im Hinblick auf den Gesamtzustand und die Prognose des Patienten indiziert ist. 16 Bernard Lown „Die verlorene Kunst des Heilens“ 2002, S. 224 6