Potentielle Normaliensammlung. Reto Müller Arresting Fragments of

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Medienmitteilung
Potentielle Normaliensammlung. Reto Müller
Arresting Fragments of the World. Brigham Baker, Judith Kakon,
Clare Kenny, Maya Rochat
27.April – 25. Juni 2017
Maya Rochat, Installation für Kunsthaus Langenthal, 2017
Für seine erste institutionelle Einzelausstellung entwickelt Reto Müller (*1984 in Frauenfeld,
lebt in Stein am Rhein) eine neue Werkgruppe mit Skulpturen und Videos, die unter anderem
Bezug nimmt auf das frühmoderne Gebäude des Corbusier-Vertrauten Willy Boesiger in
Langenthal, das dieser 1928 für die Schreinerei seines Vaters entwarf.
Brigham Baker (*1989), Judith Kakon (*1988), Clare Kenny (*1976) und Maya Rochat
(*1985) gehen vom Zweifel am fotografischen Bild und dessen gleichzeitiger Dominanz in
unserer visuellen Kultur aus. Ihre Arbeiten entwickeln eine materielle Intensität und
Eigendynamik – und bleiben zugleich beweglich und prozesshaft.
Medientermin: Dienstag, 25. April 2017, 11 Uhr
Vernissage: Mittwoch, 26. April 2017, 18 Uhr
Kontakt
Raffael Dörig, Leiter Kunsthaus Langenthal
[email protected], 076 464 75 50;
Claire Hoffmann, Kuratorin der Ausstellung «Arresting Fragments of the World»
[email protected], 078 795 22 18
Bilder und weitere Informationen: www.kunsthauslangenthal.ch/index.php/medien
Potentielle Normaliensammlung. Reto Müller
1928 entstand in Langenthal ein bemerkenswerter Bau. Der Schreinermeister Jakob Bösiger
beauftragte seinen 24-jährigen Sohn Willy, der für den Neubau von Möbelschreinerei,
Verkaufsladen und Wohnungen einen kompromisslos dem Neuen Bauen verpflichteten
Entwurf vorlegte. Willy Boesiger (er schrieb sich bald mit oe) war zu der Zeit im Büro von Le
Corbusier in Paris beschäftigt. Mit dem Giganten der Moderne sollte ihn eine lebenslange
Freundschaft und Zusammenarbeit verbinden – Boesiger machte sich einen Namen als
Herausgeber von dessen Oeuvre Complète. Boesigers Bau in seiner Heimatstadt ist
unverkennbar von Corbusier beeinflusst. Dieser war gemäss Boesiger «sehr an meinen
Entwürfen interessiert und sparte nicht mit klugen Anregungen». Zusammen mit einem
Erweiterungsbau und einem Versuch eines «Standardhauses» für Arbeiter entstand bis 1931
ein Ensemble, das ein bedeutendes Zeugnis der Frühmoderne in der Schweiz ist. Unter
anderem ist es das früheste Beispiel für einen modernen Dachgarten hierzulande. Mit
Ausnahme des durch Umbauten entstellten «Standardhauses» befindet sich das Ensemble
immer noch in Familienbesitz und ist weitgehend erhalten und als Möbelschreinerei und –
Laden genutzt.
Die Geschichte und Gegenwart dieses Gebäudes ist Ausgangspunkt des neuen Projekts von
Reto Müller (*1984 in Frauenfeld, lebt in Stein am Rhein), für seine erste institutionelle
Einzelausstellung im Frühling 2017 im Kunsthaus Langenthal. Auf der Basis von Recherchen,
die der Künstler zur Zeit vor Ort, in der Familie Bösiger und dem Nachlass von Willy
Boesiger, der sich zum Grossteil an der ETH befindet, anstellt, entstand eine Videoarbeit, in
der uns auch Boesigers Haus für einen Dichter am Zürichsee und Schulbauten von Walter
Maria Förderer begegnen. Die zentrale Videoarbeit ist eingebettet in eine installative
Gesamtkonzeption, die einen Eingriff in die Architektur der Ausstellungsräume sowie
Skulpturen, Reliefs und Objekte aus Zinn, Basaltguss und Appenzeller Granit (Brekzien)
beinhaltet. Müller verweist dabei auf Festarchitektur als Versuchsfelder für Architektur und
Kunst und «Behauptung des Idealen im Realen» (Müller). Gleichzeitig sind solche
Festarchitekturen temporär und provisorisch. Dazu passt, wie Reto Müller von einer
Faszination für die klare Haltung der Modernisten spricht, die sich beispielsweise in der
Architektur als «gebaute Idee» manifestiert. Müllers Reaktion darauf in seiner eigenen Arbeit
ist jedoch brüchig. Kulisse, Fassade, Modell ebenso wie Kopie und Version tauchen immer
wieder als Stichworte und Bezugspunkte auf, so auch im neuen Projekt. Schon im Titel der
Ausstellung – «potentielle Normaliensammlung» – ist weniger von der Realisation als vom
Potential die Rede, aus der allerdings eine Norm werden könnte.
Reto Müller, Potentielle Normaliensammlung,
2017, Filmstill [Gebäude von Architekt und Bildhauer
Walter Maria Förderer (*1928)]
Reto Müller, Potentielle Normaliensammlung,
2017, Filmstill
Reto Müller setzt mit der neuen Arbeit seine Beschäftigung mit dem Erbe des 20.
Jahrhunderts bzw. seiner Vorgängergenerationen in Architektur und Kunst fort, das sich als
ein roter Faden durch sein bisheriges Schaffen zieht. Von einem anderen grossen
französischen Modernisten (und ehemaligen Corbusier-Mitarbeiter), Claude Parent (19232016), handelt etwa Müllers Arbeit «Les Anciens Jeunes». Er traf den Architekten kurz vor
dessen Tod und filmte seine berühmte Kirche von Nevers (mit Paul Virillio) und sein
Einkaufszentrum in Ris-Orangis. In diesem Video ist insbesondere auch die Diskrepanz
zwischen dem Erleben der Architektur vor Ort und dem medial vermittelten Bild der
ikonischen Bauwerke (und Architektur im Allgemeinen) Thema. Die gefilmten Rundgänge
gemahnen dabei an Kamerafahrten durch digitale 3D-Architekturmodelle oder
Computerspiele.
Publikation
Zur Ausstellung erscheint eine monografische Publikation. Sie enthält eine Dokumentation der
Ausstellung, ein Gespräch zwischen Reto Müller, Raffael Dörig und Claire Hoffman sowie ein
eigens für die Publikation konzipiertes Dialog-Projekt mit verschiedenen Gästen. Mit diesen
Gästen tauschte Müller ein Zinn-Relief gegen einen Text.
Ca. 68 Seiten, Deutsch/Englisch
Reto Müller, Potentielle
Normaliensammlung,
2017, Zinnrelief
Reto Müller, Les anciens jeunes, 2014, Filmstill
Arresting Fragments of the World.
Brigham Baker, Judith Kakon, Clare Kenny, Maya Rochat
Während sich die Flüchtigkeit, Unverbindlichkeit und der Zweifel im Bezug auf das fotografische
Bild im digitalen Umfeld breit machen, finden fotografische Praktiken zusehends im physischen,
analogen und raumbezogenen Kontext Niederschlag. Abdruck und Schichtung, Vervielfältigung,
Streuung oder Prozesse, bei denen die Bildgenese und Autorschaft komplett aus der Hand des
Künstlers an den Apparat oder Zufall übergeben werden, sind Vorgehen, welche die vier
eingeladenen Kunstschaffenden anwenden: Brigham Baker (*1989), Judith Kakon (*1988), Clare
Kenny (*1976) und Maya Rochat (*1985). Von einem fotografischen Hintergrund her kommend, hat
sich die Arbeit dieser Kunstschaffenden weg vom klassischen fotografischen Träger hin zur
Materialisierung im Raum entwickelt. Explizit fotografische Prozesse werden aufgegriffen,
pervertiert, verfremdet, auf nicht-fotografisches Material angewendet und in den Raum gebracht. In
ihren Arbeiten wird das indexikalische Prinzip, also der direkte physikalische Zusammenhang
zwischen Bild und Abbild, ins Zentrum gerückt. Zugleich werden narrative Elemente, persönliche
Geschichten und historische Bezüge eingeflochten, die diesen künstlerischen, technologischen
Transformationsprozessen eine weitere Dimension hinzufügen. In der Gruppenausstellung
Arresting Fragments of the World werden in neun Räumen des Kunsthaus Langenthals
Rauminstallationen, neue plastische Arbeiten, Videos und Fotografien gezeigt, die sich in diesem
Spannungsfeld bewegen.
Die Fotografie vermag nicht nur «Ausschnitte und Fragmente der Welt» festzuhalten, wie der
Künstler Laszlo Moholy-Nagy 1927 in seinem Buch Malerei. Fotografie. Film schreibt, sondern sie
prägt das Sehen auf einer grundsätzlicheren Ebene: Die Kenntnis und das Verständnis der
Fotografie würden gerade so wichtig werden, wie lesen zu können, «sodass in Zukunft nicht nur
der Schrift- sondern auch der Fotounkundige als Analphabet gelten wird.» Zu dieser Mündigkeit in
der Rezeption der Fotografie gehört jedoch auch die dem Medium inhärente Skepsis, die mit der
Dominanz des digitalen Bilds in unserer visuellen Kultur noch verstärkt in den Vordergrund tritt.
Zugleich hat sich die Erstellung, Verbreitung und Weiterverarbeitung des fotografischen Bildes
demokratisiert und es weist eine Tendenz auf, sich immer stärker mit anderen Medien zu
verschränken.
Oft überträgt Brigham Baker (*1989, lebt und arbeitet in Zürich) die Bilderschaffung einer
externen Instanz. Etwa wurden die Spuren von Partygästen, die auf einem fotosensitiven Boden
einer Art Dunkelkammer tanzten, eingefangen. Baker entwickelte (buchstäblich) daraus die
Bodenarbeit, in der eine ausgedehnte Zeitlichkeit, eine vergangene Präsenz, und ein unmittelbarer
Ursache-Wirkung-Zusammenhang eingeschrieben ist. Ebenfalls fand Baker einen technischen
Prozess, um den morgendlichen Himmel mit einem Scanner, der auf dem Turm des Kunsthaus
Langenthal montiert ist, zu scannen und in dem verdunkelten Ausstellungsraum zu projizieren,
Brigham Baker, Sky
Scans, 2014, UV Prints
auf Glas, 37 x 53 cm
Judith Kakon, 2017 Date
Flask, Siebdruck
Maya Rochat, Meta Water (explosion), 2016, Inkjet
on Wallpaper
und schafft so eine Art zeitlich verzögerter Camera Obscura. Die langsame Genese des Bilds, der
direkte Abdruck und das rein technische oder zufällige Bildverfahren verweist auf Prozesse aus
der frühen Fotografie – etwa Langzeitbelichtung und Fotogramme.
Die Rauminstallation von Clare Kenny (*1976, lebt und arbeitet in Basel) geht auf die
architektonischen Eigenheiten des denkmalgeschützten Hauses ein und betont die wohnlichen
Aspekte der Räume. Zugleich bringt sie motivische und materielle Referenzen ein, welche eng mit
dem fotografischen Medium verknüpft sind. Die Serie Arrested Development sind Gipsabgüsse von
Entwicklungsschalen aus dem analogen Fotolabor. Die von weiss bis schwarz eingefärbten Schalen
sind ein Abdruck des Foto-Laborumfelds. Sie verweisen mit der Grauabstufung auch auf das
analoge fotografische Handwerk selbst, für das der Weiss- und Grauabgleich eine zentrale
Fertigkeit war. In einer weiteren Serie verbindet Kenny Architektur, Wohnumgebung und Fotografie,
indem sie Fotografien von Marmorstrukturen in handgemachte, marmorierte trompe-l'oeil Rahmen
fasst. Wiederverwertung von existierendem Material, Collage, Dekontextualisierung und
Selbstreferentialität sind Vorgänge, die der Praxis von Clare Kenny zugrunde liegen und zugleich
einen aktuellen Umgang mit dem fotografischen Bild heute kennzeichnen.
Ausgangslage für die Rauminstallation von Judith Kakon (*1988, lebt und arbeitet in Basel) sind
Nachahmungen von archäologischen, mundgeblasenen Glasflakons aus der Levante, welche die
Form von getrockneten Datteln haben. Diese gläsernen Dattel-Flakons sind gleich ein doppeltes
Speichermedium: als lang haltbares Nahrungsmittel speichern sie Energie und als Gefässe
Flüssigkeiten. Glas, zwar ein fragiles und brüchiges Material, zeichnet sich durch eine extrem lange
Lebensdauer aus – nicht zufällig wurde Glas als Träger für Fotografie verwendet. Andererseits
bezieht sich Kakon auf die Publikation Das gläserne Zeitalter (1931) des Autors Erwin Weill. Darin
geht er dem Einsatz von Glas in der Architektur nach und leitet daraus utopische Vorstellungen für
die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts ab. Im heutigen digitalen Zeitalter hingegen, wird dasselbe
Konzept als Distopie gedeutet, der mit dem Kontrollverlust über die eigene Identität und die eigenen
Daten einhergeht. Indem Kakon diese neu produzierten Glasgefässe mit der Zelebrierung von
Transparenz bei Erwin Weill zusammenbringt, verbinden sich in der Installation auf eine komplexe
Weise über das Material Glas archaische, moderne und zeitgenössische Lebenswelten.
Maya Rochat (*1985, lebt und arbeitet in Lausanne) bespielt mit einer aufwändigen neuen
immersiven Arbeit die zentrale Achse des ersten Stocks des Kunsthauses. Im über 30 Meter langen
Korridor werden Böden, Wände und Decken mit bedruckter Tapete bedeckt, mit hängenden
Textilien und Folien bestückt, welche kosmische Assoziationen wecken. Die Vielfalt von
Oberflächen und Strukturen werden in einer Reihung von analogen und digitalen
Bildbearbeitungsprozessen und chemische Reaktionen hergestellt. In einem zweiten Raum wird
eine Projektion mit Soundelementen installiert, in der zusätzlich eine von der Künstlerin gestaltete
Sitzgelegenheit zum verweilen einlädt. Maya Rochats ganzheitlicher Ansatz, der die Arbeit nicht in
Bezug auf seine äussere begrenzende Form hin, sondern von seiner Ausdehnung her denkt,
fasziniert durch die Vielfalt der fotografischen und bildlichen Schichtungen, bei denen sowohl hohe
technische Präzision wie auch Zufall zum Einsatz kommen.
Clare Kenny, Trying to Forget, 2017, Druck auf Polyester
Veranstaltungen
Medientermin: Dienstag, 25. April 2017, 11 Uhr
Vernissage: Mittwoch, 26. April 2017, 18 Uhr
Begrüssung und Einführung durch Raffael Dörig, Leiter Kunsthaus Langenthal und Claire
Hoffmann, Kuratorin der Ausstellung «Arresting Fragments of the World». Apéro und Abendessen
für alle.
Kulturnacht, Freitag 5. Mai, 19 – 24 Uhr
Abwechslungsreiches Programm mit Live Painting & Soundperformances von Maya Rochat,
stündlichen Kurzführungen, Workshops in einer Dunkelkammer für Gross und Klein und Barbetrieb.
Vollständiges Programm online: www.kunsthauslangenthal.ch
Kunst über Mittag, mittwochs, 10. und 31. Mai, 12 – 12.30 Uhr
Kurzführungen für Kunsthungrige.
Kunstbar mit Reto Müller, Mittwoch, 7. Juni, 19 Uhr
Rundgang durch die Ausstellung mit dem Künstler Reto Müller, Spaziergang zum Gebäude von
Willy Boesiger.
Kunstbar Arresting Fragments of the World, Mittwoch 21. Juni, 19 Uhr
Rundgang durch die Ausstellung und Gespräch mit den Künstlerinnen und Künstlern.
Kinderclub: Mit Licht malen, Samstag 29. April, 10 – 12 Uhr
Wir wagen uns in eine dunkle Kammer und lassen Licht und Schatten auf dem Fotopapier tanzen.
Was wohl in der Entwicklerflüssigkeit zum Vorschein kommt? Alter 7–12 Jahre.
Kinderclub: Was für ein Zufall! Samstag 20. Mai, 10 – 12 Uhr
Wir lassen Pinsel und Stifte im Schrank und entdecken andere Möglichkeiten, wie ein Kunstwerk
entstehen kann.
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