opyrig by N ht ZAHNHEILKUNDENALLGEMEIN ot C n ot Q ui for Pu bli cat ion te ss e n c e fo r Psychosomatik und Zahnersatz Anne Wolowski, Priv.-Doz. Dr. med. dent. Bereich Psychosomatik in der Zahnheilkunde Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Universitätsklinikums Münster Waldeyerstraße 30, 48149 Münster E-Mail: [email protected] Indizes Psychosomatik, Zahnersatz, psychogene Prothesenunverträglichkeit, BurningMouth-Syndrom, psychosomatische Grundkompetenz Zusammenfassung Die Eingliederung von Zahnersatz bedeutet für den Patienten die Gewöhnung an eine neue Situation. Dieser Prozess läuft in der Regel unproblematisch ab, was u. a. darauf beruht, dass damit eine Funktionsverbesserung einhergeht. Dennoch klagen immer wieder Patienten aus offensichtlich nicht nachvollziehbaren Gründen über Schwierigkeiten mit dem Zahnersatz. Trotz vielfältiger Bemühungen können solche Patienten nicht zufrieden gestellt werden, und nicht selten endet der Vorgang vor dem Richter. Eine Analyse des Behandlungsprozesses soll vermeidbare Fehler aufzeigen. Weiterhin wird ein angemessenes Vorgehen mit entsprechenden Diagnosehilfen vorgestellt, damit frühzeitig mögliche „Stör“-Faktoren erkannt werden. Einleitung Zahnärztliche Patienten haben in der Regel eine hohe Erwartungshaltung. Sie suchen den Behandler auf, weil sie Beschwerden haben, die abgestellt werden sollen, oder sie kommen mit dem Wunsch nach Eingliederung von Zahnersatz aufgrund eines unzureichend versorgten Gebisses. Dann steht der Wunsch nach einer Verbesserung der Funktion und oft auch der Ästhetik im Vordergrund. Angesichts dieser Erwartungshaltung tendieren gerade Patienten, die mit Vorbehandlern nicht zufrieden waren, dazu, den aktuellen Behandler zu idealisieren: „Herr/Frau Doktor, Sie sind der/die Einzige, der/die mir noch helfen kann.“ Empfehlungen anderer und deren außerordentliche Zufriedenheit als Expertise werden von den Patienten als Beweggründe angegeben, warum sie gezielt diese Praxis ausgewählt haben. Geschmeichelt von dieser Anerkennung, die den hohen Anspruch an die eigene Tätigkeit unterstreicht, wird der Behandlungsauftrag oft allzu unreflektiert angenommen14. Täglich stellen wir ohnehin unsere Fähigkeiten angesichts der erfolgreichen Behandlung vergleichbarer Befunde unter Beweis. Latente Erwartungshaltungen bleiben so unausgesprochen und unkorrigiert im Raum stehen (Abb. 1). Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 Mauz6 spricht in diesem Zusammenhang von der „einmaligen Chance der ersten Begegnung zwischen Arzt und Patient“, die auf diese Weise verpasst wird. Eine Studie von Micheelis7 unterstreicht dies. Er stellte fest, dass die Zeit für das zahnärztliche Gespräch vom Zahnarzt um das Vier- bis Fünffache überschätzt wird. Geschätzten 10 Minuten stehen durchschnittlich nur 2 Minuten realer Gesprächsdauer gegenüber. In dieser Zeit ist es kaum möglich, Beweggründe des Patienten, die auch außerhalb des Somatischen liegen können, in Erfahrung zu bringen. Das führt dazu, dass ein Behandlungsvertrag nur auf der Basis eines gemeinsam getragenen mechanistisch-monokausalen Verständnisses hinsichtlich Ursache der Beschwerden und Therapie geschlossen wird. Psychosoziale Aspekte fließen zu diesem Zeitpunkt nicht in die Indikationsstellung und Behandlungsplanung ein. Wenn sie aber eine Rolle spielen, kann es trotz suffizienter lokaler Behandlung zur Symptompersistenz/-entstehung oder zur Verschiebung von einem anderen Zielorgan in den Kieferund Gesichtsbereich kommen. Dabei ist es erstaunlich, dass diese Situation im zahnmedizinischen Alltag, gemessen an statistischen Erhebungen, relativ selten auftritt, denn psychosomatische Krankheitsbilder sind omnipräsent. Aus Untersuchungen von Üstün und Sartorius16 wissen wir, dass in all- 1097 Psychosomatik und Zahnersatz Q ui by N ht pyrig No Co t fo rP ub lica tio n te ss e n c e ZAHNHEILKUNDE ALLGEMEIN fo r Hohe Erwartung Idealisierung des Arztes - Übernahme der Erwartungen, - offene/latente Versprechen werden nicht geklärt ot n Patient Zahnarzt Einigkeit hinsichtlich der monokausalen somatischen Ursachenannahme Behandlungsindikation gemeinmedizinischen Praxen 25 bis 35 % der Patienten unter einer psychischen bzw. psychosomatischen Störung leiden. Es ist anzunehmen, dass diese Zahlen in zahnärztlichen Praxen ähnlich sind, da Zahnärzte eine ähnliche Klientel wie Allgemeinmediziner behandeln. Werden psychosomatische Störungen erst gar nicht in Erwägung gezogen, wird der Patient aufgrund einer persistierenden bzw. einer neu hinzugekommenen Symptomatik zunehmend zur Belastung für das Behandlungsteam. Er zeigt uns unsere somatischen Behandlungsgrenzen auf. Darauf reagieren wir teils mit Bemerkungen wie: „So etwas habe ich in meiner langjährigen Berufspraxis noch nicht erlebt.“ Das führt zur Hoffnungslosigkeit auf Seiten des Patienten. Er fühlt sich als Simulant missverstanden und fürchtet, nicht mehr ernst genommen zu werden. Es kommt zur Diskrepanz der initialen gemeinsamen somatischen Ursachenüberzeugung, da der Zahnarzt aufgrund des aus seiner Sicht nun fehlenden Nachweises einer organischen Erklärung zunehmend psychische Ursachen vermutet (Abb. 2). Eine Äußerung in diese Richtung muss zu dem Zeitpunkt vom Patienten dann als Bestrafung und Schuldzuweisung erlebt werden. Er vermutet eher einen Behandlungsfehler oder das Übersehen von organischen Befunden. Gegenseitige Kränkungen und Entwertungen sind die Folge. Im schlimmsten Fall sucht der Patient die Auseinandersetzung vor dem Richter. Um diese Situation zu retten, werden wider besseres Wissen weitere, meist ungezielte Korrekturen an der Arbeit vorgenommen, was in der Regel zu einer „Verschlimmbesserung“ führt. Moral und Ahnemann8 fassen dies mit folgendem 1098 Abb. 1 Die Basis für die Behandlungsindikation ist die gemeinsame Auffassung von Behandler und Patient hinsichtlich einer ausschließlich somatischen Ursache der Beschwerden Zitat zusammen: „Es ist menschlich nur verständlich, dem Wunsch des mit seinen Klagen wegen Zahnschmerzen immer wiederkehrenden Patienten schließlich nachzugeben durch die Entfernung des als schuldig bezeichneten Zahnes ...“. Als weiterer Notausgang aus dieser prekären Situation werden dem Patienten somatische Verdachtsdiagnosen angeboten, die verständlicherweise außerhalb der Verantwortung der Zahnmedizin liegen. Eine daraus resultierende wiederholte beschwerdegesteuerte Diagnostik hat schließlich eine Chronifizierung zur Folge, die – wie man aus der Schmerzforschung weiß – bereits nach 3 Monaten eintritt (Abb. 3). Dann verliert der Schmerz seine Warnsignalfunktion und gilt als zwar gutartiges, aber zunehmend therapieresistentes Symptom10. Die Beschwerden nehmen immer breiteren Raum im Leben der Betroffenen ein, und über die Aufmerksamkeit, die ihnen beschwerdegebunden durch Angehörige, Freunde und Ärzte geschenkt wird, erleben sie einen Krankheitsgewinn und knüpfen darüber auch ihre sozialen Netze. Mit zunehmender Dauer fällt es den Betroffenen dann schwer, all dieses aufzugeben, denn eine Heilung hätte hier erhebliche psychosoziale Folgen. Ein wesentlicher Lebensinhalt ginge damit verloren, und soziale Kontakte müssten auf einer anderen Grundlage neu aufgebaut werden3. Angesichts dieser Analyse drängt sich die Frage auf, ob ein solches Desaster für Patienten wie für Behandler vermeidbar ist. Hier erscheint es zunächst einmal notwendig, Beschwerden im Kiefer- und Gesichtsbereich auch im Kontext des biopsychosozialen Krankheitsmodells der psychosomatischen Medizin zu sehen. Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 opyrig or Psychosomatik und fZahnersatz n Pu bli cat ion te ss e n c e ot Q ui fo r Patient by N ht ZAHNHEILKUNDENALLGEMEIN ot C Symptompersistenz Zahnarzt Enttäuschung Polypragmatismus Erleben des Patienten als anstrengend Abb. 2 Symptome persistieren trotz suffizienter somatischer Behandlung. In dieser Situation kommt es zu einer Diskrepanz der ursprünglich gemeinsamen somatischen Ursachenüberzeugung. Der Zahnarzt vermutet einen psychosozialen Beschwerdehintergrund, während der Patient sich angesichts der bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich somatischen Behandlungsbemühungen in seiner Auffassung bestätigt fühlt, dass ein somatischer Befund noch nicht erkannt wurde Uneinigkeit hinsichtlich der monokausalen somatischen Ursachenannahme Patient Hoffnungslosigkeit Frustration Enttäuschung Weiterleitung des Patienten Zahnarzt Entwertung des Zahnarztes Abb. 3 Wenn die gemeinsame Behandlungsbasis fehlt, fühlen alle Beteiligten sich missverstanden. Gegenseitige Kränkungen und Abwertungen sind die Folge. In dieser Situation werden dem Patienten vielfach somatische Verdachtsdiagnosen angeboten, die außerhalb der zahnmedizinischen Verantwortung liegen. Eine somatische Fixierung und somit eine Chronifizierung der Beschwerden ist die Folge Was bedeutet „Psychosomatik“? 1818 wurde der Begriff „Psychosomatik“ erstmals von J. Heinroth gebraucht. Unter klinischen Aspekten umfasst er heute im Sinne des biopsychosozialen Krankheitsmodells die Lehre von körperlichen, seelischen und sozialen Wechselwirkungen in der Entstehung und im Verlauf von mensch- Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 Suche nach neuem Arzt Gutachter weiterer Diagnostik Chronifizierung lichen Krankheiten und ist somit eine personenzentrierte Medizin4. Häufig sind es psychische und/oder soziale Faktoren, die den Zeitpunkt des Auftretens von Beschwerden mitbestimmen und die Reaktionen des Menschen auf körperliche Veränderungen ebenso beeinflussen wie den Moment, in dem ein Arzt oder Zahnarzt aufgesucht wird. Psychosoziale Einflussfaktoren wurden für die Zahnmedizin lange Zeit als 1099 Psychosomatik und Zahnersatz Q ui by N ht pyrig No Co t fo rP ub lica tio n te ss e n c e ZAHNHEILKUNDE ALLGEMEIN fo r 1100 ot n nicht existent angenommen, und somit fehlen bis heute in entsprechenden allgemeinmedizinischen Klassifikationssystemen zahnmedizinische Krankheitsbilder. Dies ist kaum zu verstehen, denn schon 1921 haben Moral und Ahnemann8 in einer Abhandlung über Grenzfälle u. a. folgenden Fall beschrieben: „Eine 50-jährige Patientin, die bereits in der Jugend fast alle Zähne verloren hat (Schlittschuhunfall) ... Vor 20 Jahren Extraktion der unteren Frontzähne aufgrund eines feinen schmerzhaften Ziehens und Stechens. Sie ließ sich dann ein Gebiß anfertigen, erlebte aber wenig Freude daran, da sie besonders im Unterkiefer viel Schmerzen hatte, die gleich denen der natürlichen Zähne waren. Dann traten plötzliche Beschwerden an den seitlichen Zungenrändern und der Zungenspitze auf, die bis zum Hals und Nacken ausstrahlen ... Befund: Starke Atrophie im Unterkiefer, die für den guten Sitz der im Übrigen kunstgerecht gearbeiteten und gut okkludierenden Prothese sehr störend ist. ... Psychopathisch charakteristisch ist die Form, wie die Verständigung mit der Patientin sich abspielte: Die Darstellungsweise hat den Anspruch der Unklarheit, der Verschwommenheit, des Sprunghaften.“ Diese Erkenntnisse waren zur damaligen Zeit überraschend, sind aber bis heute von hoher Relevanz geblieben. Marxkors und Müller-Fahlbusch5 haben für das beschriebene Phänomen in Anlehnung an Reither11 den Begriff „psychogene Prothesenunverträglichkeit“ geprägt. Sie fassen darunter Patienten mit einer gleichen Primärsymptomatik zusammen: „Die Patienten klagen über Beschwerden, die nicht ins Bild der jeweiligen prothetischen Situation passen. Die Beschwerden sind mehr allgemeiner Art, wenig griffig und lassen keine oder zumindest keine direkten Schlüsse auf einen Mangel der prothetischen Arbeit zu.“ Diese Begriffsdefinition von 1976 enthält bereits ein wesentliches Charakteristikum dieser Störung: Es ist eine Störung, die wie körperlich verursacht aussieht, es aber nicht ist, also „somatoform“ ist (ein Hybrid, was bedeutet, dass es zweierlei Herkunft ist; sprachlich: zusammengesetztes Wort, dessen Teile aus verschiedenen Sprachen kommen, nämlich aus dem Griechischen Soma = Körper und dem Lateinischen Forma = Gestalt). Insofern wäre die Bezeichnung „somatoforme Prothesenunverträglichkeit“ offener, weil damit kein Anspruch auf eine alleinige „Psychogenese“ gestellt wird. Zwei Missverständnisse hängen der Bezeichnung „Prothesenunverträglichkeit“ an. Zum einen wird damit fälschlicherweise eine Unverträglichkeit im Sinne einer Materialunverträglichkeit unterstellt. Zum anderen wird suggeriert, dass es sich bei dem Phänomen ausschließlich um Beschwerden mit herausnehmbarem Zahnersatz handelt, was vor dem Hinterrund der anfänglichen Auseinandersetzung mit dieser Thematik auch so gewesen sein mag: Die Patienten waren in der Regel älter als 55 Jahre und trugen herausnehmbaren Zahnersatz. Heute hingegen beobachtet man dieses Phänomen nicht mehr nur bei Personen mit herausnehmbarem Zahnersatz. Zunehmend sind Patienten mit allen Versorgungsarten davon betroffen. Wenn man dennoch den Begriff „Prothesenunverträglichkeit“ beibehält, dann geschieht das vor dem Hintergrund der eigentlichen Bedeutung des Begriffs „Prothese“: künstlicher Ersatz eines fehlenden Körperteils. In diesem Sinne kann das der Ersatz eines oder mehrerer Zähne sein, aber auch der Ersatz von Teilstrukturen, die dann beispielsweise durch Überkronung ersetzt werden. Bei allem, was man heute über diese Art Störung in der Zahnmedizin weiß, muss man davon ausgehen, dass es sich um eine Untergruppe der somatoformen Störung handelt. Aufgrund der somatischen Beschwerdemaske suchen die Betroffenen den Somatiker auf. Deshalb müssen Zahnärzte gerüstet sein, solche Art Störungen zu erkennen und damit im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung kompetent umzugehen. Diagnostik Entsprechend der Leitlinie für somatoforme Störungen2 der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF) ergibt sich für die Diagnostik folgende Empfehlung: • Sicherer Ausschluss organischer Ursachen. Hier gilt, dass diese Ausschlussdiagnostik gezielt, ohne Redundanzen und zeitlich gerafft stattfinden muss, damit insbesondere eine Chronifizierung vermieden wird. Weiterhin muss beachtet werden, dass Patienten mit somatoformen Störungen „nicht mehr, aber auch nicht weniger organisch krank als Patienten der Primärversorgung ohne eine somatoforme Störung“ sind. „Damit muss im Verlauf bei plötzlich veränderten Beschwerdecharakteristika das Vorliegen einer organischen Erkrankung gegebenenfalls erneut ausgeschlossen werden.“ • Erkennen einer somatoformen Störung und Absicherung des Verdachts durch eine entsprechende biografische Anamneseerhebung sowie Erfragung der Ursachenüberzeugung des Patienten. Diese aufgelisteten Aspekte sind bereits in dem Diagnosekatalog enthalten, den Müller-Fahlbusch und Marxkors9 Anfang der 1980er Jahre für die Zahnmedizin erarbeitet hat: 1. Kriterium: Diskrepanz zwischen Beschreibung der Beschwerden und anatomischen Grenzen. 2. Kriterium: Diskrepanz zwischen Chronologie der Beschwerden und den uns aus klinischer Erfahrung bekannten Verläufen. Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 opyrig or Psychosomatik und fZahnersatz n Pu bli cat ion te ss e n c e fo r Der in diesen Kriterien enthaltene diagnostische Auftrag ist eindeutig: Der Zahnarzt muss die somatische Ausschlussdiagnostik und ggf. Therapie zuverlässig leisten. Das allein reicht jedoch für die Verdachtsdiagnose psychosomatische Störung keinesfalls aus. Es müssen entsprechende Hinweise auf eine solche Störung im Gespräch aufgedeckt werden. Dies ist gerade angesichts der Erwartungshaltung der Betroffenen und der Gesprächssituation, die leider immer noch im Behandlungsstuhl stattfindet, schwierig. Hier bietet sich in jedem Fall eine beschwerdezentrierte Fragetechnik an. An erster Stelle muss dabei der beschwerdeabhängige Behandlungsverlauf dezidiert abgefragt werden. Was war die Folge wovon? Mit dem ausdrücklichen Einverständnis des Patienten müssen Vorbefunde eingefordert werden. Ergeben sich hier unerklärliche Widersprüche, sollte nicht versucht werden, dennoch ein somatisches Erklärungsmodell zu konstruieren, sondern nach weiteren Auffälligkeiten gesucht werden. Die Frage nach dem Beschwerdebeginn und weshalb der Patient ihn so gut in Erinnerung hat, kann psychosoziale Einblicke gewähren. Die Frage, wie sehr Beschwerden das tägliche Leben belasten, kann einen wichtigen Hinweis auf ot Q ui 3. Kriterium: Ex non juvantibus (Therapien haben nicht geholfen). Den Autoren zufolge muss bei positiver Auswertung dieser ersten drei Kriterien der biografische Hintergrund durchleuchtet werden. 4. Kriterium: Ungewöhnliche Mitbeteiligung des Patienten am Krankheitsgeschehen. 5. Kriterium: Koinzidenz von biografisch-situativem Ereignis und Beginn der Beschwerden. by N ht ZAHNHEILKUNDENALLGEMEIN ot C den Stellenwert der Beschwerden geben. Der Umgang Angehöriger mit der Situation lässt sich ebenso erfragen wie tageszeitliche oder tagesabhängige Beschwerdemodulationen. Wichtig ist, die Ursachenüberzeugung des Patienten genau abzufragen und vor dem Hintergrund der somatischen Befunde kritisch zu werten. Die Erwartungen und Wünsche des Patienten gilt es ebenso genau zu erfragen. Erwartet er nach Jahren quälender Beschwerden Beschwerdefreiheit, muss dies im Rahmen des biopsychosozialen Krankheitsverständnisses ausdrücklich besprochen und richtig gestellt werden. Allein aufgrund dieser angesichts jeder Beratung notwendigen wenigen Fragen können bereits im Vorfeld Schwierigkeiten erkannt werden. Hinweise auf eine psychogene/ somatoforme Prothesenunverträglichkeit Frauen mit einem durchschnittlichen Alter von 60 Jahren suchen aufgrund entsprechender Verdachtsdiagnosen spezialisierte Einrichtungen etwa siebenmal häufiger auf als Männer17. Ähnlich wie Patienten mit somatoformen Störungen, die auf andere Körperorgane bezogen sind, fordern Patienten mit psychogener/somatoformer Prothesenunverträglichkeit immer wieder Behandlungen ein. Sie fürchten, dass ein Befund übersehen wurde, und sind ständig auf der Suche nach demjenigen, der dieses Rätsel löst. Anamnestisch erfährt man, dass ähnliche unerklärliche Phänomene bereits an anderen Körperorganen bestanden haben, bis es in der Regel zu einer Organverschiebung kam. Kommentare wie „Dabei konnte mir auch niemand helfen“ oder „Als dieses überstanden war, Tab. 1 Die Präsentation von Beschwerden weist in Abhängigkeit von der Ursache typische Merkmale auf, die von Adler et al.1 auf der Basis einer umfassenden Studie in einer Tabelle zusammengefasst wurden Fragen Lokalisation Qualität Intensität Periodizität Schmerzverstärkende Faktoren Einfluss von willkürlichen Bewegungen Schmerzmindernde Faktoren Einfluss der Medikation Begleitzeichen/-symptome Sekundärgewinn: – in den Beziehungen – im Beruf Schmerz als Interpretation des Patienten Beschreibung Patientensprache Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 Typisch für durch somatische Faktoren bedingten Schmerz klare Beschreibung sensorisch klare, bestimmte Niveaus deutliche Phasen deutlich umschrieben, wenige bestimmt, deutlich deutlich umschrieben, wenige pharmakologisch plausibel wenige, deutliche Typisch für durch psychologische Faktoren bedingten Schmerz vage, wechselhaft affektiv vage, unbestimmte Ebenen keine bestimmten Phasen vage, viele vage vage umschrieben, viele pharmakologisch nicht plausibel viele, vage nein nein Symptom einer anderen Krankheit betont psychische Faktoren adäquat, einfach direkt, einfach, ohne Jargon ja ja eigentliche Krankheit betont organische Faktoren inadäquat, bunt, dramatisch gestelzt, kompliziert, mit Jargon 1101 Q ui n fo r hatte ich jenes“ sind typisch für die Beschreibung. Beschwerdelisten können in solchen Fällen eine hilfreiche Unterstützung sein. So haben Rief und Hiller12 einen Beschwerdebogen zusammengestellt. Die Ergebnisse machen deutlich, dass Patienten mit somatoformen Störungen im Vergleich zu anderen Patientengruppen und zu einer Kontrollgruppe eine hohe Tendenz zeigen, Körperbeschwerden jeglicher Lokalisation und Art zu entwickeln. Tragen die Patienten herausnehmbaren Zahnersatz, dann bringt eine konsequente Prothesenkarenz von 5 Tagen wertvolle Hinweise. Hier sollte allerdings nicht in der Weise argumentiert werden, dass nur bei einer Symptomlinderung die Prothese als Ursache angesehen werden darf und auch nur in diesem Fall eine somatische Therapie indiziert sei. Diese „wertvolle“ Information kann der Patient bei einem Behandlerwechsel in der Form Gewinn bringend einsetzen, dass er angibt, während der Karenz Beschwerdefreiheit verspürt zu haben. Vielmehr sollte der Patient darüber aufgeklärt werden, dass der Zahnersatz nicht allein für die Beschwerden verantwortlich sein kann, wenn diese während der Phase der Prothesenkarenz persistieren oder gar eskalieren. Adler und Mitarbeiter1 haben im Rahmen einer Studie hinsichtlich der Symptomdarstellung eine Liste typischer Antworten zur Unterscheidung zwischen einer eher somatischen und einer eher psychischen Beschwerdegenese zusammengestellt (Tab. 1). Die Leitsymptome der psychogenen/somatoformen Prothesenunverträglichkeit sind das Mundschleimhautbrennen und diffus brennende Schmerzen. Weiterhin klagen die Patienten über Schmeckstörungen, Mundtrockenheit, aber auch über verstärkten Speichelfluss, elektrische Phänomene oder metallischen Geschmack. Burning-Mouth-Syndrom Aufgrund der in der Regel auftretenden brennenden Schmerzen und vergleichbarer epidemiologischer Daten werden die Diagnosen psychogene/somatoforme Prothesenunverträglichkeit und „Burning-Mouth-Syndrom“ vielfach fälschlicherweise undifferenziert synonym gebraucht. Entsprechend einer Definition von Scala et al.15 versteht man unter dem Burning-Mouth-Syndrom ein Krankheitsbild mit idiopathischer Genese. Brennende Schmerzen seit 4 Monaten gelten als Leitsymptom dieses auch als primäres Mundschleimhautbrennen bezeichneten Phänomens, das häufig mit dem Gefühl der Mundtrockenheit oder Schmeckstörung einhergeht. Davon abzugrenzen ist das so genannte sekundäre Mundschleimhautbrennen als ein Symptom eines zugrunde liegenden und somit zu diagnostizierenden lokalen, systemischen oder psychisch-pathologischen Prozesses. In diesem Sinne muss das Mundschleimhautbrennen im Zusammenhang mit der psychogenen/somatoformen Prothesenunver- 1102 ot Psychosomatik und Zahnersatz by N ht pyrig No Co t fo rP ub lica tio n te ss e n c e ZAHNHEILKUNDE ALLGEMEIN träglichkeit gesehen werden. Erst bei Ausschluss sämtlicher in Frage kommenden Ursachen ist die Diagnose BurningMouth-Syndrom zulässig, was dann allerdings aufgrund der idiopathischen Genese unter dem Aspekt des therapeutischen Angebotes schwierig ist. Hier kann eine psychotherapeutische Begleitung im Sinne einer Krankheitsbewältigung helfen. Einzelfallberichte deuten darauf hin, dass 50 % der Betroffenen innerhalb von 6 bis 7 Jahren zumindest eine spontane Teilremission erleben13. Therapie In Abhängigkeit von der Schwere der Störung ist eine interdisziplinäre Vorgehensweise gemeinsam mit einem psychotherapeutisch tätigen Kollegen notwendig. In jedem Fall wird diese Phase der Therapie durch den Zahnarzt eingeleitet. Er hat die Aufgabe, den Verdacht einer psychosomatischen Störung durch Feststellung entsprechender Hinweise abzusichern und eine suffiziente somatische Ausschlussdiagnostik sowie ggf. Therapie zu leisten. Dies muss in eine umfassende Aufklärung des Patienten eingebettet sein. Sobald der erste Verdacht entsteht, ist der Patient davon in Kenntnis zu setzten. Ihm muss ein biopsychosoziales Krankheitsverständnis vermittelt und die Prognose aufgezeigt werden, die möglicherweise trotz suffizienter Behandlung auch eine Beschwerdepersistenz bedeuten kann. Erst die Akzeptanz anderer als somatischer Einflussfaktoren schafft die Voraussetzung dafür, dass mehr als nur eine akute Schmerzbehandlung möglich ist. Der Patient muss in der weiteren Betreuung erfahren, dass ihm regelmäßige beschwerdeunabhängige Termine eingeräumt werden. Er muss auch lernen, dass jeder Termin entsprechend einem vorher vereinbarten Zeitfenster zeitlich begrenzt ist. Die Eigenverantwortlichkeit des Patienten sollte stets betont werden. Dieses disziplinierte Verhalten wirkt sich für alle Beteiligten entlastend aus. Da Zahnärzte nicht direkt zu einem psychotherapeutisch tätigen Kollegen überweisen können, müssen sie den Patienten überzeugen und motivieren, sich selbst um einen Termin zu bemühen. In jedem Fall ist es wichtig, dass die an der Therapie beteiligten Fachdisziplinen von Beginn der Zusammenarbeit an jeweils eindeutige Informationen bezüglich des Befundes im Einverständnis mit dem Patienten austauschen. Für den Zahnarzt heißt dies, dass eine unmissverständliche schriftliche Beurteilung der oralen Befundsituation vorgelegt werden muss. Diskussion Bei der Behandlung von Patienten mit psychogener/somatoformer Prothesenunverträglichkeit stellt die zurzeit gültige Approbationsordnung ein Problem dar. Zahnärzte werden Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 opyrig or Psychosomatik und fZahnersatz n Pu bli cat ion te ss e n c e fo r Literatur 1. Adler RH, Zamboni P, Hofer T et al. How not to miss a somatic needle in the haystack of chronic pain. Psychosom Res 1997;42:499-506. 2. Henningsen P, Hartkamp N, Loew T, Sack M, Scheidt CE, Rudolf G. Somatoforme Störungen. Leitlinien und Quellentexte. Stuttgart: Schattauer, 2002. 3. Hoffmann SO, Franke TW. Der lange Weg in die Schmerzkrankheit: Faktoren der Chronifizierung. In: Egle UT, Hoffmann SO, Lehmann KA, Nix A (Hrsg). Handbuch Chronischer Schmerz – Grundlagen, Pathogenese, Klinik und Therapie aus bio-psycho-sozialer Sicht. Stuttgart: Schattauer, 2003:150-161. 4. Hoffmann SO, Holzapfel G. Neurosenlehre, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin. Stuttgart: Schattauer, 1999. Quintessenz 2008;59(10):1097–1103 ot Q ui während ihres Studiums nicht auf eine professionelle Patientenführung vorbereitet, deren Bestandteil das „ärztliche Gespräch“ ist. Unsere Rechtsprechung erwartet jedoch, dass ein psychosomatisches Krankheitsgeschehen, zumindest aber entsprechende Auffälligkeiten im Rahmen der Diagnostik festgestellt werden und dass Zahnärzte kompetent mit solchen Patienten umgehen können. Angesichts der steigenden Zahl psychosomatischer Störungen, aber auch angesichts der Tatsache, dass der Beratungsbedarf immer größer wird und eine professionelle Patientenführung in jeder Behandlungssituation hilfreich ist, besteht die Notwendigkeit, dass Zahnärzte entsprechende Defizite durch Fort- und Weiterbildungen ausgleichen. Strukturierte Fortbildungsangebote des Arbeitskreises für Psychologie und Psychosomatik in der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) in Zusammenarbeit mit der Akademie Praxis und Wissenschaft (APW) haben es sich zur Aufgabe gemacht, diese Lücke zu schließen (Informationen im Internet unter <http://akpp. uni-muenster.de/> oder <http://www.apw-online.de/>). Abschließend sei auch noch die Kostenfrage diskutiert. Es wird immer wieder die Frage laut, ob man es sich leisten kann, relativ viel Zeit für eine biopsychosoziale Anamnese zu investieren. Abrechnungsfähig ist ein solcher Aufwand primär nicht. Provokant könnte man hier die Gegenfrage formulieren, by N ht ZAHNHEILKUNDENALLGEMEIN ot C ob es sich ein Praxisinhaber leisten kann, eine psychogene/ somatoforme Prothesenunverträglichkeit im Vorfeld zu übersehen bzw. diese durch Missachtung der aufgezeigten Maßnahmen zu provozieren. Der Zeitaufwand, der anschließend für die Betreuung des mit seinen Klagen immer wiederkehrenden Patienten notwendig ist, steht in keiner Relation zu dem primär erwirtschafteten Gewinn einer noch so aufwändigen Konstruktion. Juristische Auseinandersetzungen, die dann vielfach die Konsequenz gegenseitiger Kränkungen sind, lassen so manchen Kollegen zu dem Schluss kommen, dass eine Zeitinvestition zu Beginn sich im Sinne der „Konfliktprophylaxe“ sicher ausgezahlt hätte. Vor diesem Hintergrund kann man nur jeden Kollegen ermuntern, die Dinge im Patientenumgang, die er möglicherweise intuitiv bereits richtig macht, weiter zu professionalisieren. Fazit Ein frühzeitiges Erkennen psychosozialer Einflussfaktoren und ein professioneller Umgang mit den Betroffenen wirken sich sowohl für den Patienten als auch für das Praxisteam entlastend aus. Daher sollte jeder Zahnarzt im Sinne der psychosomatischen Grundversorgung geschult sein. 5. Marxkors R, Müller-Fahlbusch H. Psychogene Prothesenunverträglichkeit – Ein nervenärztliches Consilium für den Zahnarzt. München: Hanser, 1976. 6. Mauz F. Der Aufbau der Diagnose durch den praktischen Arzt. Landarzt 1964;40(1):8-13. 7. Micheelis W. Merkmale zahnärztlicher Arbeitsbeanspruchung. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag, 1983. 8. Moral H, Ahnemann W. Über Grenzfälle. Korrespondenzblatt für Zahnärzte 1921; 47(3):56. 9. Müller-Fahlbusch H, Marxkors R. Zahnärztl Psychagogik. München: Hanser, 1981 10. Pinsky JJ. Psychodynamics and psychotherapy in the treatment of patients with chronic intractable pain. In: Crue BL (ed). Pain: research and treatment. New York: Academic Press, 1975:383-389. 11. Reither W. Die Bedeutung endogener Faktoren für die Entstehung von Prothesenstomatopathien. Dtsch Zahnärztl Z 1961;16:109-119. 12. Rief W, Hiller W. Somatoforme Störungen – körperliche Symptome ohne organische Ursache. Göttingen: Huber, 1992. 13. Rojo L, Silvestre FJ, Bagan JV, de Vincente T. Psychiatric morbidity in burning mouth syndrome. Psychiatric interview versus depression and anxiety scales. Oral Surg Oral Med Oral Pathol Oral Radiol Endod 1993;75:308-311. 14. Sauer N, Eich W. Somatoforme Störungen und Funktionsstörungen. Dtsch Ärztebl 2007;104: 45-54. 15. Scala A, Checchi L, Montevecchi M, Marini I. Update on burning mouth syndrome: Overview and patient management. Crit Rev Oral Biol Med 2003;14:275-291. 16. Üstün TB, Sartorius N. Mental illness in general health care. An international study. Chichester: Wiley, 1995. 17. Wolowski A. Zur Erkennung psychosomatischer Störungen in der Zahnmedizin. Münster: Q Habilitationsschrift, 1996. 1103