Verhaltensauffällige Patienten in der Zahnarztpraxis

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Verhaltensauffällige Patienten in der Zahnarztpraxis - Teil 3
2. Verhaltensauffälligkeiten und Verhaltensstörungen
Der Unterschied zwischen "Auffälligkeiten" und "Störungen" ist aus diagnostischer Sicht zunächst nicht
genau bestimmbar, da die vom Diagnostiker festgestellten Symptome kontextuell (zum Beispiel verändertes
Verhalten in einer Behandlungssituation) bedingt oder vorübergehend sein können. Erst durch das Auftreten
der Symptome über eine gewisse Zeit, die jeweils durch die ICD definiert wird, kann eine Gewissheit erlangt
werden, dass es sich tatsächlich um eine "Störung" - und eben nicht nur um eine flüchtige Veränderung des
Verhaltens - handelt. Zusätzlich kann auf Grund der Häufung von Symptomen bzw. deren Ausprägung der
Schweregrad der Störung abgeschätzt werden.
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Die folgende Übersicht zeigt eine Reihe von Störungsbildern, mit denen der Zahnarzt konfrontiert sein kann.
Die entsprechenden Merkmale können zumindest eines Verdachtsdiagnose nahe legen, welche allerdings
einer Verifizierung durch einen Fachkollegen bedarf.
ICD Bezeichnung
F40.2 Spezifische Phobien
Merkmale (Auswahl)
Phobien, die zum Beispiel auf den Zahnarztbesuch beschränkt sind. Die
entsprechende Situation, in der Angst auftreten kann, wird so lange wie
möglich gemieden.
F41.1 Generalisierte Angststörung Die Angst ist nicht auf bestimmte Umgebungen beschränkt, sondern "frei
flottierend", begleitet von Befürchtungen, dass etwas passieren könnte,
Nervosität, Schwitzen, Herzklopfen oder Erstickungsgefühlen.
F45.2 Hypochondrische Störung Beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an körperlichen
Beschwerden zu leiden. Normale Körperwahrnehmungen werden abnorm
interpretiert.
F60.0 Paranoide
Übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung, Nachtragen
Persönlichkeitsstörung
von Kränkungen, Misstrauen, beharrliches Bestehen auf eigenen Rechten,
überhöhtes Selbstwertgefühl, übertriebene Selbstbezogenheit.
F60.2 Dissoziale
Missachtung sozialer Verpflichtungen, geringe Frustrationstoleranz,
Persönlichkeitsstörung
niedrige Aggressionsschwelle, Neigung, andere zu beschuldigen.
F60.4 Histrionische
Oberflächliche und labile Affektivität, Neigung zu Dramatisierung und
Persönlichkeitsstörung
theatralischem Ausdruck, erhöhte Kränkbarkeit und dauerndes Verlangen
nach Anerkennung.
F60.6 Ängstliche (vermeidende) Gefühle von Anspannung und Besorgtheit, Unsicherheit und
Persönlichkeitsstörung
Minderwertigkeit. Andauernde Sehnsucht nach Zuneigung und
Akzeptanz bei zugleich eingeschränkter Beziehungsfähigkeit.
Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung. Überbetonung
potentieller Gefahren.
Tab. 1: Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (Auswahl)
Somatoforme Störungen
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Die Besonderheit einer somatoformen Störung (Kategorie F45 in der ICD) besteht darin, dass der Patient eine
- zumeist körperliche - Ursache für sein Leiden vermutet (auch, wenn diese körperliche Ursache - noch nicht nachweisbar ist). Das Leiden kann in Müdigkeit und Erschöpfung, in Schmerzsymptomen sowie in
Herz-Kreislauf- und Magen-Darm-Beschwerden bestehen. In der Vergangenheit wurden für dieses unklare
Beschwerdebild Begriffe wie "psychogene" oder "funktionelle" Störungen, "vegetative Dystonie" oder
"Konversionshysterie" verwendet (1, 8). Speziell in der Zahnheilkunde sind Phänomene wie chronische
orofaziale Schmerzzustände, Zungen- oder Mundbrennen, Prothesenunverträglichkeit, Unverträglichkeiten
von Amalgam oder anderen Dentalmaterialien bekannt, die sich in die Kategorie der somatoformen
Störungen einreihen lassen und das Grundproblem der Diskrepanz zwischen Befund und Befinden (3)
widerspiegeln.
In der folgenden Tab. 2 werden stichwortartig die relevanten Dimensionen zur Beurteilung somatoformer
Störungen mit ihren Charakteristika zusammengefasst (in Anlehnung an die Leitlinien der AWMF, 1).
Dimension
Beschwerdezahl und -dauer
Ursachenüberzeugung,
Krankheitsbefürchtung
Emotionaler Disstress
Krankheitsverhalten
Physiologische
Normabweichung
Charakteristik
Nicht einheitlich, - zum Teil jahrelange Beschwerdedauer, zum Teil häufig
wechselnde Beschwerden.
In der hypochondrischen Variante Überzeugung, an einer organischen
Erkrankung zu leiden, ängstliche Beschäftigung mit dieser Möglichkeit.
Körperliche Beschwerden werden häufig begleitet von Angst- und
Depressionsbeschwerden. Belastende Lebensereignisse werden oft
emotionslos beschrieben,
Hohe Inanspruchnahme medizinischer Leistungen (wiederholte Diagnostik,
Notfallbehandlungen usw.), gegebenenfalls auch Rentenbegehren.
Erregung des autonomen Nervensystems (Tachykardie, Veränderungen der
Darmbeweglichkeit, Schwitzen usw.), aber auch des nicht autonomen
Systems (Zittern, muskulärer Hartspann usw.).
Tab. 2: Somatoforme Störungen
Patienten mit einer somatoformen Störung (in der zahnärztlichen Praxis zum Beispiel
Zahnschmerzbeschwerden trotz unauffälligem Gebisszustand und intakter Kaufunktionen) stellen den
behandelnden Arzt oder Zahnarzt vor eine scheinbar unlösbare Situation: Es liegt keine objektivierbarer
Befund vor, was der Patient aber nicht glauben möchte; einige Patienten machen das Amalgam für ihre
Beschwerden verantwortlich, was wiederum der Zahnarzt nicht glaubt. Ebenfalls wird der - fachlich richtige
- Hinweis auf mögliche psychische Ursachen (Traumen, kritische Lebensereignisse und allgemeine
Überlastung) zumeist vom Patienten zurückgewiesen bzw. eine Überweisung an einen Psychotherapeuten
oder zumindest in eine "psychosomatische Sprechstunde" abgelehnt.
In der Konsequenz wechselt der Patient den Zahnarzt bzw. sucht Hilfe in der sog. Alternativmedizin. Beim
Zahnarzt entsteht nicht selten Ärger über den "uneinsichtigen" Patienten, der im übrigen relativ viel Zeit in
Anspruch nimmt; wenn der Patient dies bemerkt, verstärkt das noch seine Motivation zum Wechsel.
"Hysterie"
Der alte Begriff der Hysterie ist zugunsten einer Differenzierung in Konversionsstörung, dissoziative Störung
und histrionische Persönlichkeitsstörung abgelöst worden, wobei die letztgenannte Störung noch am ehesten
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den Bedeutungsgehalt der (ehemaligen) Hysterie wiedergibt. Für den Beobachter erschließt sich die Typik
einer histrionischen Persönlichkeit recht schnell in Form eines "aufgesetzten", theatralischen, übertrieben
gefühlsbetonten und Aufmerksamkeit beanspruchenden Verhaltens (7, 13, 14).
Die nachfolgende Tabelle nennt die Leitsymptome der ICD 10 bzw. des DSM IV; dabei müssen mindestens
vier von sechs beziehungsweise mindestens fünf von acht Merkmalen vorliegen, um von einer "Störung" zu
sprechen.
ICD 10
dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten, übertriebener
Gefühlsausdruck
leichte Beeinflussbarkeit durch andere Menschen oder durch Ereignisse
oberflächliche, schwankende Gefühle
ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen
der Betreffende im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht
verführerisch (flirtend) im Verhalten und in der äußeren Erscheinung
übermäßige Beschäftigung mit der äußerlichen Attraktivität
DSM IV
fühlt sich unwohl in Situationen,
in denen er/sie nicht im
Mittelpunkt steht
in der Interaktion mit Anderen oft
verführerisches und provokantes
Verhalten
Einsatz der körperlichen
Erscheinung, um
Aufmerksamkeit auf sich zu
ziehen
übertrieben impressionistischer,
oberflächlicher Sprachstil
neigt zu Dramatisierung,
Theatralik und übertriebenem
Gefühlsausdruck
ist leicht beeinflussbar durch
andere Personen oder Umstände
definiert Beziehungen enger als
sie tatsächlich sind
Tab. 3: Histrionische Persönlichkeit
Es liegt nahe, einem Patienten, der eine Häufung der oben genannten Symptome zeigt, den Besuch eines
Psychotherapeuten anzuraten. Eine derartige Empfehlung ist jedoch nicht unproblematisch. Zum einen
betrachtet der Patient sein Verhalten nicht unbedingt als "unnormal" oder "auffällig" (es liegt keine so
genannte Krankheitseinsicht vor), da er im Alltag mit seinen Mitmenschen gut zurechtzukommen glaubt. Er
wird also eine solche Empfehlung unter Umständen empört zurückweisen. Zum anderen entsteht bei ihm
Misstrauen und der Verdacht, menschlich vom Zahnarzt abgelehnt zu werden. Eine häufige Folge ist dann
der Wechsel zu einem anderen Zahnarzt, bei dem er sich "besser verstanden" fühlt. Ehe eine Empfehlung, die
in Richtung Psychotherapie geht, vom Patienten ernst genommen wird, bedarf es einer vorausgehenden
Motivierungsarbeit, die sehr indirekt beginnen muss (etwa durch die Schilderung eines vergleichbaren Falles,
in dem ein Patient nach Gesprächen mit einem Fachmann bzw. einer Fachfrau für seelische Probleme
schließlich zufriedener mit sich selbst geworden ist). Motivierend könnte auch die Empfehlung sein, an
einem "Anti-Stress-Training" oder einer Maßnahme zur "mentalen Stärkung" teilzunehmen. Wenn der
Zahnarzt diese Motivierungsarbeit nicht leisten kann, muss er sich wohl oder übel mit dem Patienten
arrangieren oder auf den Patienten verzichten.
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Hans-Wolfgang Hoefert
Vorheriger Teil:
Psychosomatische Sichtweise
Nächster Teil:
3. Interaktionsspezifität des auffälligen Verhaltens
Literatur
(1) Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) (2001): Leitlinie
Somatoforme Störungen. www.uni-duesseldorf.de/WWW/AWMF
...
(3) Brähler, E., Schumacher, J. (2002): Befund und Befinden. Psychologische Aspekte körperlicher
Beschwerden. In: Brähler, E., Strauß, B. (Hg.): Handlungsfelder der psychosozialen Medizin. Göttingen
(Hogrefe)
...
(7) Fiedler, P. (1999): Dissoziative Störungen und Konversion. Weinheim (Beltz PVU)
(8) Henningsen, P., Hartkamp, N., Loew, T., Sack, M., Scheidt, C. (2002): Somatoforme Störungen.
Leitlinien und Quellentexte. Stuttgart (Schattauer)
...
(13) Mentzos, S. (2004): Hysterie. Göttingen (Vandenhoeck & Rupprecht)
(14) Sachse, R. (2002): Histrionische und Narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Göttingen (Hogrefe)
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