Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 Fall 7 V und K haben unverbindlich über den Kauf einer antiken chinesischen Vase verhandelt, für die V 2.100 € verlangt. Nach einiger Zeit schickt V an K ein Angebot, schreibt dabei aber versehentlich, er biete die Vase für 1.200 € an. K bemerkt den Zahlendreher, ist aber mit dem zuvor genannten Preis von 2.100 € auch einverstanden und antwortet, er kaufe die Vase für 210 €. V geht davon aus, dass K sich verschrieben hat und mit seinem Angebot (2.100 €) einverstanden ist. Kann V Zahlung von 2.100 € verlangen? Lösungshinweise Fall 7 Anspruch des V gegen den K auf Zahlung von 2.100 € gem. § 433 II V könnte gegen den K einen Anspruch auf Zahlung des Kaufpreises in Höhe von 2.100 € gem. § 433 II haben. Dann müsste zwischen V und K ein Kaufvertrag zustande gekommen sein. Ein Vertrag kommt durch zwei übereinstimmende Willenserklärungen, nämlich Angebot und Annahme, zustande. 1. Das Angebot ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die mit Zugang wirksam wird und alle wesentlichen Bestandteile des Vertrages enthalten muss. a) Vorliegend wurden Regelungen über den Kaufgegenstand, den Preis und die Parteien getroffen, ein wirksames Angebot liegt damit vor. b) Fraglich ist jedoch, welchen Inhalt das Angebot hat, da der Wille des V von dem abweicht, was er erklärt hat. Exkurs: Willenserklärungen (WE) und ihre Auslegung I. Natürliche Auslegung (§ 133) Ziel der natürlichen Auslegung ist die Feststellung des wirklichen Willens des Erklärenden (§ 133). Damit werden bei der natürlichen Auslegung nur die Erfolgsinteressen des Erklärenden, nicht jedoch die Interessen des Erklärungsempfängers berücksichtigt. Die natürliche Auslegung ist dann entscheidend, wenn nur eine Person tätig wird (nicht empfangsbedürftige WE, z.B. beim Testament) oder wenn der andere, also der Erklärungsempfänger, nicht schutzwürdig ist. Bei den meisten anderen Rechtsgeschäften sind auch die Interessen des Erklärungsempfängers zu berücksichtigen, d.h. bei allen empfangsbedürftigen Willenserklärungen ist i.d.R. auch der Empfänger schutzwürdig. Ausnahmen werden nur in zwei Fällen gemacht: 1. Der Erklärungsempfänger ist dann nicht schutzwürdig, wenn er trotz der vom Willen des Erklärenden abweichenden Erklärung richtig erkannt hat, was der Erklärende gewollt hat. Unwesentlich ist dabei, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 ob die falsche Äußerung absichtlich oder versehentlich erfolgte. Beispiele sind: - Gebrauch eines Codeworts - Übereinstimmende Benutzung einer falschen Bezeichnung, wenn eindeutig festgestellt werden kann, was gemeint war (falsa demonstratio non nocet - eine fehlerhafte Bezeichnung ist unschädlich). 2. Der Erklärungsempfänger ist auch dann nicht schutzwürdig, wenn er zwar nicht erkennt, was mit der Erklärung gemeint war, dies aber bei Anwendung der ihm zumutbaren Sorgfalt hätte erkennen müssen. Aus der Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme folgt für den Erklärungsempfänger, dass er die Erklärung auszulegen hat. Unterlässt er die Auslegung, ist er nicht schutzwürdig. Gegebenenfalls ist er verpflichtet nachzufragen. II. Normative Auslegung (§ 157) Da bei den empfangsbedürftigen Willenserklärungen auch die Interessen des Empfängers als schutzwürdig einzustufen sind, erfolgt hier mit Ausnahme der obigen zwei Fälle - die Auslegung nach dem sog. normativen Empfängerhorizont; entscheidend ist dabei, wie der Empfänger die Erklärung nach Treu und Glauben verstehen musste (vgl. § 157). Grundsätzlich sind dabei alle dem Adressaten erkennbaren Umstände zur Ermittlung des Inhalts der WE heranzuziehen. Dabei wird der Empfänger begünstigt, weil er um den inneren Willen des Erklärenden nicht wissen kann. Er muss auf das Erklärte vertrauen. Der Erklärende hat dafür, falls das nach außen Erklärte von seinem inneren Willen abweicht, unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit der Anfechtung (§§ 119 ff.). Die Interessen des Empfängers dürfen aber nicht zu einseitig begünstigt werden. Daher wird die reine Perspektive des Empfängerhorizonts durch ein normatives Element abgeschwächt (normativer Empfängerhorizont). Bei der Auslegung dürfen daher solche Umstände nicht herangezogen werden, die dem Erklärenden nicht bekannt sein konnten (Frage nach der Zurechenbarkeit des objektiven Erklärungsinhalts). Vgl. zur Auslegung Musielak Grundkurs, Rn. 101 ff.; Brox AT, Rn. 124 ff. III. Die normative Auslegungsmethode ist auch dann anwendbar, wenn es um die Frage geht, ob überhaupt eine Willenserklärung vorliegt (vgl. z.B. „Trierer Weinversteigerungsfall“ und BGHZ 91, 320, 324). Hier: Bei der Angebotserklärung des V weicht der natürliche Wille (§ 133 BGB – 2.100 €) von der äußeren Erklärung (§ 157 BGB – 1.200 €) ab. Grundsätzlich wäre die Erklärung nach dem normativen Empfängerhorizont auszulegen. Eine Ausnahme gilt jedoch, wenn der Empfänger wie hier die Erklärung im gleichen Sinn verstanden hat, wie der Erklärende sie gemeint hat; dann ist trotz einer mehrdeutigen oder unrichtigen Bezeichnung Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jens-Hinrich Binder, LL.M. Wiss. Ang. Stefanie Hart Fallbesprechung Zivilrecht I WS 2013/14 das von beiden Parteien Gemeinte maßgeblich (Grundsatz: „falsa demonstratio non nocet“). Dies folgt aus dem Grundsatz der Privatautonomie, wonach prinzipiell der Parteiwille Grundlage rechtsgeschäftlich begründeter Rechtsfolgen ist. Stimmen die Parteiwillen überein, so gibt es keinen Grund, von diesem Willen durch Auslegung der Erklärung nach objektiven bzw. normativen Kriterien abzuweichen. Somit liegt ein Angebot des V über den Verkauf der Vase zu einem Preis von 2.100 € vor, denn so haben beide Parteien die Erklärung des V verstanden. 2. Dieses Angebot müsste K angenommen haben. Die Annahme ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die sich inhaltlich mit dem Angebot decken muss. K hat objektiv ebenfalls etwas anderes erklärt, als er eigentlich meinte. Er war mit dem Angebot i.H.v. 2.100 € einverstanden und wollte dieses annehmen. Genau so hat aber V auch die Erklärung des K verstanden. Nach dem Grundsatz „falsa demonstratio non nocet“ hat K daher das Angebot des V angenommen. Ergebnis: V kann gem. § 433 II von K Zahlung des Kaufpreises i.H.v. 2.100 € verlangen. Literaturhinweise: Brox/Walker AT, 37. Auflage 2013, § 6. Leipold BGB AT, 6. Auflage 2010, § 15. Köhler, BGB AT, 36. Auflage 2012, § 9. Reinicke, Der Satz der „falsa demonstratio“ im Vertragsrecht, JA 1980, S. 455 ff. Czeghun, Auslegung einer Willenserklärung, Auslegung von Verträgen, JA 2002, 617.