08. Substanzstörungen

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Ihre Dozentin für heute
Dr. Anja Kräplin
Arbeitsgruppe Abhängiges Verhalten, Risikoanalyse und
Risikomanagement
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie
[email protected]
Forschungsthemen
Relevanz von kognitiver Kontrolle und Entscheidungsverhalten bei
Entwicklung, Verlauf und Beendigung von Substanzstörungen und
abhängigen Verhaltensweisen
Schwerpunkte und Ziele
für die heutige Veranstaltung
Die Rolle kognitiver Kontrollfunktionen für Entwicklung und Verlauf
von Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen
1.
Substanzstörungen und abhängige Verhaltensweisen sowie kognitive
Kontrollfunktionen definieren
2.
Mögliche Zusammenhänge von verringerter kognitiver Kontrolle mit
Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen erklären
3.
Studienbeispiele und Paradigmen zur Untersuchung kognitiver
Kontrollfunktionen diskutieren
Literatur
für die heutige Veranstaltung
Die Rolle kognitiver Kontrollfunktionen für Entwicklung und Verlauf
von Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen
Wittchen, H.-U. & Hoyer J. (Hrsg.). (2011). Lehrbuch der
Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Heidelberg: Springer.
 Kapitel 6: Kognitiv-affektive Neurowissenschaft
 Kapitel 33: Störungen durch Substanzkonsum: Eine Einführung
1.1 Substanzstörungen und abhängige Verhaltensweisen
Definition nach DSM-5
„Störungen im Zusammenhang mit
Psychotropen Substanzen und
Abhängigen Verhaltensweisen“
 Nachfolgende diagnostische
Kriterien nach fünfter Edition des
Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders (DSM-5) der
American Psychiatric
Association (APA)
1.1 Substanzstörungen und abhängige Verhaltensweisen
Definition nach DSM-5
• Substanzstörungen durch Substanzkonsum haben
gemeinsame Kriterien
• Diagnose erfolgt je Substanz (Alkohol, Tabak, etc.)
• In den letzten 12 Monaten mind. 2 Kriterien erfüllt:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
Substanzkonsum großer Mengen/ länger als beabsichtigt
Erfolglose Kontrollversuche
Hoher Zeitaufwand
Craving
Probleme bei der Erfüllung von Verpflichtungen
Fortgesetzter Konsum trotz sozialer/ interpersoneller Probleme
Aufgabe von Aktivitäten
Körperliche Gefährdung
Konsum trotz Kenntnis physischer/ psychischer Probleme
Toleranzentwicklung
Entzugssymptome
1.1 Substanzstörungen und abhängige Verhaltensweisen
Definition nach DSM-5
• Abhängige Verhaltensweisen enthalten bisher nur die „Störung
durch Glücksspielen“
(Forschungskriterien bestehen für Störung durch Internetspiele)
• In den letzten 12 Monaten mind. 4 Kriterien erfüllt:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Starke Vereinnahmung vom Glücksspiel
Einsatzerhöhung zur gewünschten Erregung
Erfolglose Kontrollversuche
Unruhe und Gereiztheit bei der Einschränkung des Spielens
Spiel zur Verarbeitung von Problemen und dysphorischen Gefühlen
Verlustausgleich (‚chasing‘)
Spielverheimlichung vor sozialem Umfeld
Gefährdung / Verlust des sozialen Umfeldes durch Spielverhalten
Rückgriff auf finanzielle Unterstützung durch das soziale Umfeld
1.2 Kognitive Kontrollfunktionen
Definition
Kognitive Kontrollprozesse sind Mechanismen, die dazu dienen,
• Absichten gegen starte automatisierte Gewohnheiten oder
konkurrierende Motivtendenzen durchzusetzen
• flexibel zwischen verschiedenen Zielen und ReizReaktionsregeln zu wechseln,
• neue Handlungspläne zu generieren und geistig
durchzuspielen und
• neue, wenig geübte oder schwierige Handlungen
durchzuführen.
Goschke, 2008
1.2 Kognitive Kontrollfunktionen
Definition
Facetten kognitiver Kontrollprozesse:
•
•
•
•
•
•
Inhibition automatischer Reaktionen
Antizipation langfristiger Konsequenzen bei Entscheidungen
Abschirmung und Aufrechterhaltung von Zielen
Flexible Konfiguration von Verhaltensdispositionen
Planen neuer Handlungssequenzen
Fehler- und Konfliktüberwachung
Modifiziert nach Goschke, 2006
2. Kognitive Kontrolle bei Substanzstörungen
Hintergrund
Abhängiges Verhalten als paradigmatisches Beispiel für
dysfunktionale kognitive Kontrolle, z.B.:
• Fokus auf die sofortige Belohnung durch den Substanzkonsum/
das Verhalten
• Massiver Verlust persönlicher Kontrolle über das eigene
Verhalten
• Kontrollverlust über Menge und Zeit des Substanzkonsums
• Substanzkonsum/ Verhalten wird fortgesetzt trotz des Wissens
um negative soziale und persönliche Konsequenzen
• Gescheiterte Aufhörversuche
• Substanzkonsum/ Verhalten entgegen langzeitlich geplanter
Ziele (Gesundheit, Ausbildung, Beruf, Partnerschaft)
2. Kognitive Kontrolle bei Substanzstörungen
Heuristisches Modell
Bühringer et al., 2008
3. Beispielstudie
3.1 Hintergrund
DFG-Studie
„Sucht als Volitionsstörung: Beeinträchtigungen
kognitiver Kontrollfunktionen bei Substanzstörungen
am Beispiel der von Nikotinabhängigkeit und
Pathologischem Glücksspielen“
Goschke, Bühringer, Kräplin, Meyer
3. Beispielstudie
3.1 Hintergrund
DFG-Studie „Sucht als Volitionsstörung“
Fragestellungen
1. Wie unterschieden sich Beeinträchtigungen kognitiver
Kontrolle zwischen Nikotinabhängigkeit (ND) und
Pathologischem Glücksspielen (PG)?
2. Wie zeitstabil sind Aufgaben zur Messung von kognitiver
Kontrolle bei ND und PG?
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Rekrutierung und Ablauf
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Stichprobe
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Stichprobe
PG
M (SD)
ND
M (SD)
KG
M (SD)
29.88 (9.61)
26.51 (8.0)
25.69 (7.08)
106.65 (12.83)
108.32 (14.53)
108.82 (12.81)
DSM-IV PG
6.65 (1.90)
0
0
DSM-IV ND
2.58 (2.75)
4.07 (0.91)
0
n (%)
n (%)
n (%)
Männlich
20 (76.9%)
16 (39.0%)
21 (40.4%)
Einkommen < 900
Euro/Monat
18 (69.2%)
36 (87.8%)
43 (82.7%)
Alter
IQ
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Paradigmen
Antizipation langfristiger Konsequenzen:
Intertemporal choice task
(Dshemuchadse et al., 2013)
Entscheidungen zwischen einer
kleineren, früher verfügbaren und
einer größeren, später verfügbaren
Belohnung
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Auswertung
Antizipation langfristiger Konsequenzen:
Intertemporal choice task
•
Belohnungshöhe und zeitlicher Abstand werden systematisch variiert
•
Wichtig sind Präferenzumkehrungen, bei denen eine Person eine größere
spätere einer früheren kleineren Belohnung vorzieht
•
Daraus lassen sich individuelle Diskontierungsfunktionen bestimmen, die
beschreiben, wie stark eine Person den subjektiven Anreiz einer
Belohnung in Abhängigkeit von deren Zeitabstand abwertet
•
Präferenzumkehrungen lassen sich durch hyberbolische
Diskontierungsfunktionen beschreiben
•
Steigung der Kurve wird mit Parameter k spezifiziert
3. Beispielstudie
3.2 Methoden
Paradigmen
Inhibition: Stop-Signal Task
(Rubia et al., 2008)
3. Beispielstudie
3.3 Ergebnisse FS 1
Ergebnisse
Kräplin et al., 2015
3. Beispielstudie
3.3 Ergebnisse FS 1
Ergebnisse
Inhibition und Antizipation langfristiger Konsequenzen
Kräplin et al., 2015
3. Beispielstudie
3.4 Ergebnisse FS 2
Reliabilität
Auswertung
Folie von Dr. Michael Höfler
3. Beispielstudie
3.4 Ergebnisse FS 2
Reliabilität
Ergebnisse
ICC coefficient
All
PG
0.66
0.33
0.67
0.74
0.71
0.50
0.74
0.78
PG<CG
ND<CG
PG<CG
Go RT (ms)
0.71
0.87
0.73
0.65
PG > CG ns
SSD (ms)
0.74
0.85
0.63
0.74
PG>CG
SSRT (ms)
0.40
0.84
0.14
0.20
Intertemporal choice task
k-value
Ratio sooner/smaller
Stop signal task
ND
CG
Test
statistics
NOTE: ICC values were interpreted according to a classification by Cicchetti & Sparrow (1981): ICC<0.40 is
poor (black), 0.40-0.59 is fair (red), 0.60-0.74 is good (blue), and 0.75-1.00 is excellent (green) (according
to Congdon et al., 2012)
Kräplin et al., 2016
3. Untersuchung
3.5 Schlussfolgerungen
Fragestellung 1: Wie unterschieden sich Beeinträchtigungen kognitiver
Kontrolle zwischen Nikotinabhängigkeit (ND) und Pathologischem
Glücksspielen (PG)?
• Dysfunktionale kognitive Kontrolle ist sowohl mit ND als auch mit PG assoziiert
• Es liegen jedoch unterschiedliche Muster vor
• Verringerte Inhibitionsfähigkeit als gemeinsames Merkmal von ND und PG
• Verringerte Antizipation langfristiger Konsequenzen spezifisch für PG
• Erste Hinweise für Mechanismen-basierte Trainings
• Prospektiv-longitudinale Studien notwendig, um Einfluss kognitiver Kontrolle für
Beginn und Verlauf von Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen zu
testen
3. Untersuchung
3.5 Schlussfolgerungen
Fragestellung 2: Wie zeitstabil sind Aufgaben zur Messung von kognitiver
Kontrolle bei ND und PG?
• Retest-Reliabilitäten von Verhaltensmaßen sind adäquat für Längsschnitt- und
Interventionsstudien
• Aufgaben und Parameter sollten jedoch sorgfältig ausgewählt werden!
• Gruppenunterschiede in der Retest-Reliabilität der Instrumente können zu falschen
Gruppen- und Interventionseffekten führen!
• Unterschiedliche Heterogenität der Gruppen (inter-individuelle Varianz) führt zu
unterschiedlichen ICC-Schätzungen
• Die Prozessreinheit der Messungen könnte sich zwischen Gruppen und Zeitpunkten
unterscheiden (Validität)
4. Zusammenfassung
Was wissen wir bisher?
• Störungen durch Substanzkonsum und abhängige
Verhaltensweisen sind nicht nur mit Veränderungen in
belohnungsrelevanten Gehirnsystemen assoziiert, sondern
auch mit Beeinträchtigungen kognitiver Kontrollfunktionen
(für einen Überblick siehe Goschke, 2014)
• Die störungsspezifischen Muster dieser Defizite können
Hinweise dafür geben, welche Mechanismen trainiert werden
könnten, um die Behandlung zu unterstützen (nicht ersetzen)
• Die Messung kognitiver Kontrollfunktionen muss
kontinuierlich weiterentwickelt werden (Reliabilität, Validität)
4. Zusammenfassung
Offene Fragen
1. Sind dysfunktionale kognitive Kontrollfunktionen Ursache,
Symptom oder Folge von Substanzstörungen und abhängigen
Verhaltensweisen?
 Längsschnittstudien
2. Welchen Effekt hat das Training kognitiver Kontrollfunktionen
bei Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen?
 Trainingsstudien
4. Zusammenfassung
Zukünftige Studien?
Offene Frage 1: Längsschnittstudien
Sonderforschungsbereich (SFB) 940 „Volitionale und kognitive Kontrolle:
Mechanismen, Modulatoren und Dysfunktionen“
(15 Einzelprojekte)
•
Teilprojekt Suchtforschung (C1) untersucht abhängiges Verhalten als
paradigmatisches Beispiel für Störungen kognitiver Kontrolle
•
Hauptfrage: Welche Rolle haben dysfunktionale kognitive
Kontrollfunktionen und deren neuronale Korrelate für die Entwicklung
und den Verlauf von Substanzstörungen und abhängigen
Verhaltensweisen?
4. Zusammenfassung
Zukünftige Studien?
Offene Frage 2: Trainings
Beer à no-go
Houben et al., 2011
•
•
Training mit einer modifizierten Go-Nogo-Aufgabe, bei der Probanden
ihre Reaktion auf Alkoholreize inhibieren sollen
Training führt zu signifikant verringertem Alkoholkonsum bei stark
trinkenden Studenten
Weitere Forschung bezüglich:
• Reliabilität der wiederholten Messungen
• Personen mit Substanzstörungen und abhängigen Verhaltensweisen
• Der genauen Mechanismus hinter der Konsumreduktion
• Langzeiteffekte von Trainings
Das sollten Sie heute gelernt haben…
• Definieren Sie Störungen durch Substanzkonsum und Glücksspielen!
• Nennen Sie Facetten kognitiver Kontrollfunktionen!
• Wie kann man kognitive Kontrollfunktionen gemessen?
• Zusammenhang von kognitiven Kontrollfunktionen und Störungen
durch Substanzkonsum sowie abhängigen Verhaltensweisen:
• Beschreiben Sie ein theoretisches Modell dazu!
• Nennen Sie Beispielbefunde!
• Welche offenen Fragen bestehen aktuell?
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