Das Andere des Politischen

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Erlanger Graduiertenkonferenz 2002
Das Andere des Politischen Über Grenzen „postmoderner Ethik“ (D.Wetzel)
Einleitung
Daß es die eine „postmoderne Ethik“ nicht gibt, ja nicht geben kann, halte ich für ein wesentliches Kennzeichen postmoderner (dekonstruktiver) Theoriebildung. Gleichwohl haben sich
im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte notwendige Verschiebungen auf dem Gebiet der
Ethik/Moral ergeben, die anhand der Autorentrias Lévinas/Derrida/Cornell vergegenwärtigt
werden sollen (Wetzel 2002, 2003) (Kap.1). Grenzen solcher Verschiebungen tauchen genau
dann auf, wenn man sich an die Schnittstelle zwischen Ethischem und Politischem begibt
(Šumič 1997). Anhand von zwei aktuellen Beispielen (Hardt/Negri und Agamben) soll das
Andere des Politischen im Sinne einer Wiederkehr und Korrektur ethisch-moralischer Diskurse problematisiert werden. Fragen der Souveränität, des Flüchtlings und der Biopolitik
stehen dabei im Zentrum. Obwohl ambitioniert und den Rahmen einer „modernen“ sowie
„postmodernen Ethik“ sprengend, können „Empire“ und „Homo sacer“ nur in begrenztem
Umfang einen neuen theoretisch-analytischen Rahmen für eine politische Theorie liefern
(Kap.2). Beschließen möchte ich meine Überlegungen mit einer Zwischenbilanz und einem
kurzen Fazit (Kap.3).
1.
„Postmoderne Ethik“: notwendige Verschiebungen
1.1
Andere und Dritte: Kritik an liberal-diskursethischen Annahmen
Meine Absicht ist, zu zeigen, daß eine „postmodern-dekonstruktiven Ethik“, so wie ich sie
verstehe, notwendige Verschiebungen auf dem Gebiet der ethischen Theorie respektive der
Moralphilosophie zu ermöglichen vermag. Aus zeitlichen Gründen beschränke ich mich auf
drei Aspekte: Die Bedeutung des Anderen (1), die Aufwertung des Dritten (2) und - ausgehend vom Feminismus - die Berücksichtigung moralischer Gefühle (3). In „modernen
Ethiken“ (Habermas, Walzer etc.) ist der Andere als Subjekt immer schon vorhanden, immer
schon als Adressat des Diskurses des Subjekts anwesend. Der Andere erkennt mich als Subjekt schon dadurch an, dass er meine Rede versteht. Damit wird dieser Andere auf eine bloße
Funktion der Anerkennung reduziert und insofern in meiner subjektiven Position immer schon
„einkalkuliert“. Eine u.a. von Habermas geforderte symmetrische Einbeziehung des Anderen
kann aber der Andersheit des Anderen nicht gerecht werden, weil sie den fundamentalen
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Bruch zwischen einem Ich und einem Anderen vorschnell konsensuell aufzulösen sucht
(Habermas 1996). In der von mir favorisierten „postmodern-dekonstruktiven Ethik“ wird Gerechtigkeit unter den Bedingungen einer irreduziblen Andersheit/Heterogenität gedacht
(Derrida 1991; Cornell 1992a). Daraus erwächst eine „advokatorische Ethik“, wie sie die amerikanische Juraprofessorin Drucilla Cornell, aber auch Derrida sowohl theoretisch-philosophisch als auch politisch-praktisch mit ihren Einsätzen des Politischen vertreten. An die
Stelle einer lediglich symmetrischen Einbeziehung des Anderen tritt eine wesentlich asymmetrische Beziehung zum Anderen (Lévinas 1992b). Die Verantwortung für den Anderen ist dabei nicht formal, sondern konkret. Im Gegensatz zu Habermas wollen „postmodern-dekonstruktive Ethiken“ kein allgemeines moralisches Gesetz oder die Sollgeltung von Normen begründen, vielmehr eröffnet das ethische Denken gleichsam einen Raum für das immer singuläre Ereignis eines schutzlos dargebotenen Antlitz des Anderen (vgl. dazu Bauman 1995).
Flüchtlinge und Vertriebene aus aller Welt müssen prinzipiell auf eine einseitige Hilfestellung
hoffen dürfen, denn als weitgehend Statuslose entbehren sie nicht nur moralisch, sondern
auch rechtlich einer symmetrischen Gleichstellung. Allerdings bedarf es einer Koppelung an
ein symmetrisches Verhältnis, ansonsten droht die Asymmetrie einseitig zu kippen, ja in ein
gewaltsames Verhältnis umzuschlagen. Als Übergangsfigur zwischen besonderen und allgemeinen Ansprüchen erweist sich die Bedeutung des Dritten (Waldenfels 1997). Insbesondere
Derrida hat deutlich machen können, dass es des Dritten bedarf, um Gerechtigkeit ermöglichen zu können. Im Unterschied zu Habermas, dessen Diskursethik tendenziell eine Versöhnung zwischen Anderen und Dritten intendiert, halten dekonstruktiv inspirierte Ansätze dieses
Verhältnis offen. Das ist deshalb wichtig, weil der Dritte nicht nur als Überbringer der Gerechtigkeit fungieren kann, sondern mit einem zweifelhaften Mitanspruch, wie er etwa in der
Figur des Grenzpolizisten geäußert wird, als verlängerter Arm nationalstaatlicher Interessen
auftritt. In Schnellgerichtsverfahren, die an nationalen Grenzen abgehalten werden, entscheidet der Grenzpolizist über das „An-Kommen der Anderen“ zumindest mit. Flüchtlinge/ Migranten, die sich mit einer ausschließenden Logik des Nationalstaates konfrontiert sehen,
können – was kritische Berichte zeigen – abgewiesen werden, ohne eigene Rechtsansprüche
jemals geltend machen zu können.
1.2
Feminismus und moralische Gefühle
Nur unter einer nicht länger zu legitimierenden Vernachlässigung der Geschlechterdifferenz,
wie sie sowohl bei Habermas als auch bei Walzer auszumachen ist (was ich hier lediglich behaupten, aber nicht zeigen kann, vgl. dazu Wetzel 2003), ist Fürsorge als moralische Katego2
rie weiterhin zu leugnen. Allerdings wäre es ein Fehler, eine Fürsorge-Ethik quasi essentialistisch an das weibliche Geschlecht anzubinden, wie es etwa bei Carol Gilligan der Fall ist.
Eine postmodern inspirierte Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz zeigt die Haltlosigkeit
solcher Zuschreibungen. Ebenso falsch wäre ein Vernachlässigen der reziproken Beziehung,
was sich besonders deutlich in Fürsorgeverhältnissen in der Familie zeigt. Postmoderne
Frauen und Männer bewegen sich gleichsam in verschiedenen Anerkennungssphären, die
einer Vermittlung bedürfen: idealiter gelingt ein Changieren zwischen den Sphären der Gerechtigkeit und der Fairness (im Beruf) einerseits und einer Sphäre der Fürsorge (in der Familie) andererseits. Erst die Auseinandersetzung zwischen der Postmoderne und dem Feminismus haben solche Verschiebungen deutlich gemacht (Cornell 1992a).
1.3
Grenzen „postmoderner Ethik“: Übergänge zum Politischen
Im Diskurs der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hat die Ethik eine nicht übersehbare Konjunktur erfahren. Allerdings hat sich auch mit der „postmodern-dekonstruktiven“
Ethik (Lévinas, Derrida, Cornell) eine gewisse Abkehr von politisch-ökonomischen Fragen
nicht vermeiden lassen. In aller Kürze formuliert zeigen sich die Grenzen in folgender Art und
Weise: Bei Lévinas erfahren wir eine ethisch bzw. religiös gefasste Verabsolutierung des Anderen. Derrida, der mit der Einführung des Dritten diese Falle umgeht, spricht von einer
Nicht-Dekonstruierbarkeit der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Aufklärung, kann aber
außer eines ethischen Appells nichts gegen einen Verstoß aufbringen, und - gravierender verzichtet auf eine dezidiert politisch-ökonomische Analyse, vor allem der Machttechnologien (Derrida 1995). Allenfalls in den neueren Arbeiten Drucilla Cornells entdecke ich eine
eindrucksvolle Mischung aus politischer Theorie und ethischer Praxis, doch mit interessanten
Antworten und dementspechenden Rezeptionseffekten warten zur Zeit andere Autoren auf.
2.
Rückkehr des Politischen?
Anhand der Bücher „Homo sacer“ von Giorgio Agamben sowie „Empire“ von Michael Hardt/
Antonio Negri möchte ich eine Rückkehr des Politischen veranschaulichen und Überlegungen
über die Reichweite eines solchen Unterfangens formulieren. Als übergreifende, vielleicht ein
wenig provozierende Ansicht, möchte ich vorab zu bedenken geben, daß es meines Erachtens
das mehr oder weniger kalkulierte Spiel mit der Vieldeutigkeit der Begriffe und der Konzepte
ist, also deren Werkzeugcharakter, durchaus im Foucaultschen Sinne, die eine Beschäftigung
mit Agamben und Hardt/Negri zu einer solch faszinierenden Sache werden lassen. Ein Um3
stand, dem sich so mancher Rezensent nicht wirklich entziehen konnte (Andreas Platthaus
(2002) über Agamben und Hans-Martin Lohmann (2002) über Hardt/Negri). Doch nun zu
meinen Thesen:
(1) Hardt/Negri sowie Agamben stoßen mit ihren Arbeiten in ein vom ethisch-moralischen
Diskurs der letzten beiden Jahrzehnte erzeugtes Vakuum. Dies zeigen das breite Echo und die
weitverzweigte Rezeption. Obwohl ich einige der Analysen teile, vielleicht auch deshalb weil
sie mittlerweile zum philosophisch-soziologischen Allgemeingut gehören, bin ich hinsichtlich
der Entwicklung einer daran anknüpfenden differenzierten Theorie politischer und sozialer
Prozesse skeptisch. Zugespitzt formuliert: Die Stärke der Autoren liegt in ihrem Verstörungspotential und nicht so sehr in der feinen, begrifflich detaillierten Analyse sozialer Wirklichkeiten (so wenig Empirie war selten).
(2) Die Frage der Souveränität (und ihre Überwindung) steht sowohl bei Agamben als auch
bei Hardt/Negri im Zentrum ihres Anliegens. Dabei geht es um eine konstruktive Verbindung
zwischen philosophischer Analyse und politischer Praxis. Nur durch die, in beiden Büchern
nicht vorhandene, Verschränkung mikrosoziologisch-politischer Analysen unter Berücksichtigung philosophisch-theoretischer Einbettungen lassen sich detailliertere Aussagen gewinnen. Mein Plädoyer wäre: Für eine kleine, bescheidene politische Theorie und Praxis (in Analogie zu Deleuze/Guattari).
2.1
Giorgio Agamben: „Homo sacer“ als Verstörungsdiskurs
Anstatt einer unmöglichen Zusammenfassung möchte ich kurz einige grundlegende Aussagen
des italienischen Philosophen in Erinnerung rufen. Für Agamben ist erstens die originäre politische Beziehung der Bann, d.h. der Ausnahmezustand fungiert als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Außen und Innen, Ausschließung und Einschließung. Zweitens bestehe die
fundamentale Leistung der souveränen Macht in der Produktion des nackten Lebens als ursprüngliches politisches Element und als Schwelle der Verbindung zwischen Natur und Kultur, zoe und bios. Schließlich sei drittens das Lager und nicht der Staat das biopolitische Paradigma des Abendlandes. Ich habe nicht die Zeit, auf diese Behauptungen im einzelnen ausführlich einzugehen, gleichwohl wäre viel kritisches dazu zu sagen, z.B. leuchtet es nicht ein,
warum Agamben davon ausgehen zu müssen glaubt, daß alle Politik in unserer Zeit vollständig zur Biopolitik geworden sei, und nur deshalb habe diese sich so radikal als totalitäre Politik konstituieren können. Abgesehen davon, daß der Begriff der Biopolitik die Foucaultsche
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Unschärfe mittransportiert, verwischt eine solche Einengung des Politischen eher eine differenzierte Betrachtung (Nancy 1994). Ebensowenig überzeugt mich die historische Analyse
des Lagers als das biopolitische Paradigma der Moderne und die damit verbundene Kritik an
den Menschenrechten. Bedeutet dies also: Oubliez Agamben? Mitnichten, denn das Spannende an Agamben liegt meines Erachtens in dem Aufwerfen der Frage nach der Souveränität, die er historisch-genealogisch aufarbeitet (Schmitt, Bataille, Arendt). Die paradoxe Struktur der Souveränität besteht in der Suspension des Rechts, also in der Entscheidung über die
Ausnahme von der Regel (Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“). Für Agamben bildet die Figur des homo sacer die andere Seite der Souveränität:
»So wie der Souverän über dem Gesetz steht, so ist das bloße Leben seinem Geltungsbereich
entzogen und „unterliegt“ ihm zugleich. Das bloße Leben, das als randständig gilt, und am
weitesten von der Politik entfernt zu sein scheint, erweist sich als die solide Basis eines politischen Körpers, der Leben und Sterben eines Menschen zum Gegenstand einer souveränen
Entscheidung macht - bis hin zu der Frage, wer überhaupt als Mensch anerkannt wird«
(Lemke 2002). So ist es der Flüchtling, „der Mensch der Menschenrechte“, wie bereits
Hannah Arendt sagt, der in der Ordnung des Nationalstaats ein beunruhigendes Element darstellt, gerade deshalb, weil er die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk und damit die Ursprungsfiktion der modernen Souveränität in eine Krise stürzt (Agamben 2002:140).
2.2
„Empire“ als politische Provokation
Das unerschöpfliche Thema der (imperialen) Souveränität steht auch im Mittelpunkt der Ausführungen von Hardt/Negri, genauer im Verbund mit dem schillernden Begriff „Empire“.
Dieser steht für hybride Identitäten, flexible Hierarchien und eine Vielzahl von Austauschverhältnissen durch abgestimmte Netzwerke arrangiert und organisiert, vor allem für eine neue
globale Form der Souveränität. Historisch betrachtet habe sich ein Übergang von moderner
zur imperialer Souveränität in vielfältiger Weise vollzogen: ob vom Volk zur Menge, vom
dialektischen Gegensatz zur Koordination von Hybriden, vom Ort moderner Souveränität zum
Nicht-Ort des Empire, von der Krise zur Korruption, immer geht es um eine dezentralisierte
postkoloniale Macht, die kein „Außen“ mehr zulässt und sich durch den Eingriff in sämtliche
Lebensbereiche charakterisieren läßt (Kittsteiner 2002). Ähnlich wie bei Agamben kommt,
neben „Empire“ und Souveränität, dem Begriff der „Biopolitik“ eine grundlegende Bedeutung
zu: verbunden damit ist die Problematik einer weltweiten Verinnerlichung von Herrschafts5
und Machtlogiken, also das Durchgreifen von Herrschaft und Unterwerfung auf die Subjektivität der Menschen, wie sie Foucault in seinen Arbeiten zur „Gouvernementalität“ skizziert
hat (Foucault 1989; 1993). Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist der Gedanke,
daß die politisch-ökonomische Macht des „Empire“ nicht nur auf schierer Repression beruht
(die zweifellos weiter existiert), sondern mittels eines Zugriffs in Form freiwilliger Selbstunterwerfung und Selbstausbeutung agiert. Doch wie lautet der Gegenentwurf, den die beiden
Theoretiker vorschlagen? Indem sie den produktiven Aspekt der Macht betonen, glauben sie
gezeigt zu haben, daß Formen des Widerstands aus dem Innern des Kapitalismus entstehen
können. Die Botschaft der „multitude“, einem Zusammenschluß inhomogener, dezentral
kämpfender Gruppen von Nichtregierungsorganisationen lautet: wir sind nicht nur nicht festgelegt - was für eine Befreiung nach Jahren der sog. postmodernen Lähmung -, sondern wir
können uns sogar wehren! Neben dem „glücklichen“ Positivisten reiht sich der „glückliche
Kommunist“ ein (Hardt/Negri 2002:420). Wahrlich ein »starkes Stück 'Theorie'«, wie H.D.
Kittsteiner in seiner nuancenreichen Rezension schreibt (Kittsteiner 2002). Aber eben auch
nicht mehr! Der Bruch zwischen philosophischer Analyse und politischer Praxis zeigt sich gerade da am deutlichsten, wo Hardt/Negri ihr utopisches Potential ausspielen, und trotz manch
interessanter Ein- und Ansicht keine Handlungsoptionen deutlich machen. Vielleicht auch
deshalb, weil die Analyse gerade im Bereich der Arbeit und der Produktionsformen eigentlich
hätte zeigen müssen, wie verschlungen Unterwerfung, Ausbeutung und Kapitalverwertung
heute in Erscheinung treten. Der Topos der Freiheit und der (autonomen) Selbstverwirklichung wird schon längst von einer ganzen Management- und Selbstmarketingkultur vereinnahmt und pervertiert. Mit dem Ergebnis radikalisierter Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im sozialen Bereich, Depressionen und anderen psychosomatischen Erkrankungen im
Bereich der Psyche jedes Einzelnen. Diesen „Pathologien des Alltags“ haben Hardt/Negri
auch kein wirksames Gegengift entgegenzusetzen.
3.
Zwischenbilanz und Fazit
Wir erleben gegenwärtig die Rückkehr einer materialistischen Perspektive, die hauptsächlich
ökonomische und politische Fragestellungen auf die Tagesordnung zurückbringen, nachdem
lange Zeit ethisch-moralische Diskurse dominierten. Es ist das Verdienst von Hardt/Negri,
ebenso von Agamben, einer Rückkehr des Politischen einen (diskursiven) Raum er-öffnet zu
haben, was selbst wiederum einen politisierenden, bislang nicht absehbaren Effekt, insbesondere für soziale Bewegungen, zu erzeugen vermag. Gibt es dennoch einen Anteil des
Ethischen am gegenwärtigen Diskurs? Wichtig erscheint mir nach wie vor die zu sichernde
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Möglichkeit, von Seiten des ethischen Verhältnisses Einsprüche gegen (staatliche) Ordnungsregelungen formulierbar zu machen und gegebenenfalls tatsächlich rechtlichen Einspruch zu
erheben. Gerade im Fall der Flüchtlinge sind solche Infragestellungen der nationalen Grenzen
und damit zusammenhängend die Ausschlüsse einer selektiv agierenden Sortiermaschine
Nationalstaat von großer Bedeutsamkeit. Sozialethisch gewendet: Nicht mehr der Dritte stört,
sondern das Antlitz des Anderen. Hier hat die „postmodern-dekonstruktive Ethik“ ihren wertvollen Platz. Beispielhaft verkörpert in der Gestalt des Flüchtlings oder des Migranten, die die
Logik des Rechts unterbrechen und die normativen Vorgaben der Politik zumindest fragwürdig erscheinen lassen. Gerade in diesem Kontext droht im übrigen zusehends ein
„Verschwinden und Verleugnen des Politischen“ (Vogl 1999). Anders gesagt: An die Stelle
politischer Überlegungen tritt ein restriktiv gehandhabter ökonomisch-rechtlicher Diskurs, der
sich hauptsächlich von (volkswirtschaftlichen) Nutzenerwägungen und Kostenkalkülen leiten
lässt. Hier hilft uns die Ethik, auch nicht eine „postmodern-dekonstruktive“, nicht wirklich
weiter! Im Sinne eines „Stachel des Ethischen“ möchte ich gleichwohl an den Einspruchsmöglichkeiten aus einer genuin ethisch-moralischen Perspektive, der es ja auch immer um ein
gutes Leben geht, festhalten.
4.
Literatur
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7
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8
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