Rezension Bogner, Alexander: Die Ethisierung von Technikkonflikten. Studien zum Geltungswandel des Dissenses. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011, 326 S. Wozu benötigt eine Gesellschaft „Ethik“? Bei dieser Frage wird zumeist auf den steigenden Orientierungsbedarf hingewiesen, der in modernen, pluralistisch verfassten Gesellschaften herrscht. Und in der Tat erleben wir seit gut 30 Jahren einen wahren Boom an Ethikkommissionen, Ethikräten und Ethikkomitees, der einem weit verbreiteten Bedürfnis nach Konfliktmoderation zu entsprechen scheint. Wer sich angesichts dieser Tendenz zur Institutionalisierung von Ethik außerhalb der akademischen Seminare jedoch ein Mehr an normativer Steuerung sozialer und politischer Prozesse erwartet hat, bleibt zumeist enttäuscht zurück. Vielmehr produzieren diejenigen Veranstaltungen einer „Kommissionsethik“, in denen die Auswahl der Teilnehmer sowohl nach Kriterien der Interdisziplinarität, als auch der Pluralität gesellschaftlich vertretener Wertorientierungen erfolgt, regelmäßig nicht ein Mehr an Konsens, sondern zuletzt doch wieder ein deutliches Zeichen von Dissens. Wozu dann Ethikräte, wenn sie am Ende doch nicht zu einhelligen Ergebnissen kommen? Welchen Zweck verfolgen Beratungen, wenn zuletzt daraus doch wieder nur vielfältige und ganz unterschiedliche Ratschläge für die Praxis folgen? Mit dieser Frage befasst sich die von Alexander Bogner angefertigte Habilitationsschrift, die 2010 an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien angenommen wurde. Bogner, der gegenwärtig als Senior Researcher am Institut für Technikfolgenabschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften tätig ist, erarbeitete seine „Studien zum Geltungswandel des Dissenses“ zunächst im Rahmen des BMBF finanzierten Projekts „Expertenwissen, Öffentlichkeit und politische Entscheidung“ (2004-2007), dem sich ein eigenes Forschungsprojekt zum Thema „Soziologie in bioethischer Perspektive“ (2007-2009) anschloss. Als Soziologe interessiert ihn freilich weniger der Zweck der von ihm namhaft gemachten Ethisierung, sondern ihre soziale Funktion. Seine profunden Analysen und überzeugenden Thesen zur Rolle von Ethik in pluralistischen Gesellschaft dokumentieren „eine sich abzeichnende Neubestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik“ (269), der man sich eine intensive Rezeption gerade auch innerhalb der theologischen Ethik wünscht. Denn Bogners Studien verstehen sich als Vorarbeiten zu einer anvisierten „Soziologie der Ethik“ (vgl. 278-286) und die damit angezeigte Reflexion von „Ethisierung“ in ihrer Funktion für die Zuordnung von Individuum und Gesellschaft ist insbesondere für eine solche theologische Soziallehre von Relevanz, die Ethik unter dem Gesichtspunkt ihrer Institutionalisierung nicht nur gesellschaftstheoretisch, sondern auch im Hinblick auf eine empirisch beschreibbare Kirchenlehre konzipiert. Insofern sind seine Analysen auch ausgesprochen lehrreich für eine Reflexion der kirchlichen „Sprecherposition“ in öffentlichen Ethikdebatten, insofern diese Fragen der Einheit des Glaubens mit der innerkirchlichen Pluralität in Lebensführungsfragen zusammendenken muss. Bogners Grundannahme fußt auf der These eines „Geltungswandels des Dissenses“. Während die altbekannten Risikodebatten, wie sie z.B. um die Kernkraft aber auch – heute noch – über die Grüne Gentechnik geführt werden, als Wissenskonflikte entlang der Unterscheidung sicher/unsicher zuletzt nur wissenschaftlich entschieden werden können, unterliegen die neuen biomedizinischen Konflikte (z.B. Forschung an embryonalen Stammzellen, PID) einer andersartigen Thematisierungsweise, die Bogner als „Ethisierung“ bezeichnet. Diese rekurriert zwar „im weitesten Sinne auf ethische Begriffe und Argumentationen“ (28), folgt dabei aber nicht den Reflexionsansprüchen der akademischen Fachethik. „Ethisierung“ bezeichnet bei Bogner vielmehr ein spezifische Framing, in dem wissenschaftlich-technisch induzierte Konflikte als Wertkonflikte so zum Thema werden, dass die angestrebte Regulierung von Technologien nur unter Anerkennung einer irreduziblen Pluralität von Wertorientierungen als ethisch rechtfertigungsfähig erscheint: „Die zentrale These lautet: Bioethische Wertkonflikte zeichnen sich gegenüber Interessen- und Wissenskonflikten durch eine stabilisierte Dissenserwartung aus. Die Ethisierung wissenschaftlich-technischer Phänomene bedeutet – im Prinzip! – die allgemeine Anerkennung des Dissenses.“ (75) Bogner plausibilisiert diese These sowohl hinsichtlich (1) ihrer Bedeutung für Konfliktaushandlungen v.a. in nationalen Ethikräten als auch bezüglich (2) ihrer Wirkung auf politische Entscheidungsprozeduren. Methodisch bezieht er sich dabei auf eigene Experteninterviews mit Mitgliedern deutscher und österreichischer Ethikräte bzw. auf dokumentenbasierte Fallstudien zur politischen Verwertung von Ethikexpertise in beiden Ländern. Von besonderem Interesse ist dabei der von ihm herausgearbeitete Kommunikationsmodus in Wertkonflikten, den er – etwas missverständlich – als „Barguing“ bezeichnet. Begrifflich verdankt sich diese Wortschöpfung einer Kombination des interessensorientierten Aushandlungsmodus (Bargaining) und des wissenschaftlichen Argumentationstyps (Arguing). Tatsächlich fungiert Barguing aber weder als Phasenmodell noch als Mischform von Arguing und Bargaining, sondern als durchaus eigenständige Kommunikationsform innerhalb eines ethischen Diskurses, bei der die positive Anerkennung des Dissenses in Wertfragen zugleich mit der Aufforderung an alle Teilnehmer eines Ethikrates verbunden ist, die gemeinsame ethische Expertise auf dem Wege von Koalitionsbildung, Ausgewogenheit und – vor allem – auf der Basis von personaler Glaubwürdigkeit und Authentizität voranzubringen: „Glaubwürdigkeit stellt das Pendant zu Macht oder Wahrheit im Fall von Verteilungs- oder Wissenskonflikten dar.“ (146) Die gemeinsame Ebene, die dabei anvisiert ist, nennt Bogner auch den „Gewissenskompromiss“ (150), der innerhalb einer ethischen Deliberation ein gemeinsames Votum möglich macht, gerade weil ein Konsenszwang aus Gründen der Achtung des individuellen Gewissens nicht ausgeübt wird. Ethisierung befördert so einen „subtile[n] Zwang zur Konstruktivität“ (59), gerade weil Dissens in Wertfragen als grundsätzlich anerkennungsfähig gilt – und doch zugleich auf eine öffentliche Resonanz ausgerichtet ist, in der der Einzelne nicht bloß seine individuelle Abweichung zur Diskussion stellen will. Im Kapitel über das Verhältnis von „Expertendissens und politischer Autorität“ (189-256) zeigt Bogner dann auf, dass sich diese Anerkennung des Dissenses auch auf die Inanspruchnahme der Ethikexpertise in politischen Verhandlungen konstruktiv auswirkt. Dort verhindert Expertendissens nicht die politische Anschlussmöglichkeit, sondern er „sichert und eröffnet [gerade] Handlungs- und Legitimationsoptionen und ist insofern funktional für die Politik.“ (252) Zumindest in Deutschland weiß sich die Politik durch die Expertise von Ethikräten nicht auf bestimmte Entscheidungen festgelegt, wenn sie diese – zugleich! – unter Bezugnahme auf die ethische Beratung legitimiert. Bogners Studien zum „Geltungswandel des Dissenses“ dokumentieren eindrucksvoll, dass in Technikkonflikten ein bestimmtes Problem „keine eindeutige und überlegene Lösung auf Basis von Expertenwissen finden wird, und zwar definitiv nicht.“ (76) Ein wenig unterbelichtet ist dabei die Frage, inwiefern die zuletzt auch ideologiekritisch lesbare Unterscheidung von Barguing und Arguing innerhalb eines interdisziplinären Diskurses auch verbesserte Anschlussmöglichkeiten für die Beachtung der ja unvermeidbaren wissenschaftlichen Expertise in Technikkonflikten bietet. Bogner schreibt seiner „Mikropolitik der Werte“ ins Pflichtenheft: „Dissenskonsens – also die übereinstimmende Erwartung, dass der Dissens im Prinzip bestehen bleiben wird – muss in konsensuellen Dissens übersetzt werden.“ (115). Dabei nur auf Werte und nicht auf (natur)wissenschaftliche Expertise setzen zu wollen, impliziert jedoch die Gefahr, Wissensfragen auf Gewissensfragen zu reduzieren. Da aber auch in ethischen Konflikten ein „konsensueller Dissens“ zuletzt auf überprüfbare Beschreibungen dessen, „was der Fall ist“ angewiesen ist, bleibt für ein informiertes „Ethos des Diskurses“ (van den Daele) die Aufgabe bestehen, ein Maximum an Expertenwissen in den Prozess der Ethisierung zu integrieren. München Stephan Schleissing