| SynAsthetische Bildung in der Grundschule Zum Begriff der

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R.-D. Kraemer/K. H. Spinner - SynAsthetische Bildung in der Grundschule
Rudolf-Dieter Kraemer/Kaspar H. Spinner
| SynAsthetische Bildung in der Grundschule
In den „Grundlagen und Leitlinien" des neuen bayerischen Lehrplans für die Grundschule (2000) steht im Absatz „Grundlegende Bildung" der Satz:
Als Beitrag zur Bildung der gesamten Schülerpersönlichkeit fördert die Schule ebenso die kindliche
Wahrnehmungsfähigkeit, die musischen Kräfte sowie die Kreativität und schafft die Grundlagen für
ästhetisches Empfinden. (S. 8)
Die hier vorgelegte Handreichung möchte zeigen, wie man diesem Ziel gerecht werden
kann. Sie ist der Idee eines Unterrichts verpflichtet, der sich nicht in der Vermittlung von
begrifflich Abfragbarem, von Faktenwissen und instrumentellen Fähigkeiten erschöpft,
sondern Situationen schafft, in denen sich die Kinder in einen Gegenstand versenken, ihn
genießen, ihn ganzkörperlich erleben, ihn ausgiebig erkunden können und in denen sie
eigene Gestaltungsmöglichkeiten entdecken.
Zum Begriff der ästhetischen Bildung
In der grundschuldidaktischen Diskussion ist der Begriff der ästhetischen Erziehung geläufig; er bezieht sich meistens auf die Fächer Kunst und Musik, u.U. auch auf textiles
Gestalten, Theaterspiel und Bewegungserziehung. Immer wieder wird aber auch der Anspruch erhoben, dass es nicht nur um eine Angelegenheit bestimmter (musischer) Fächer
gehen soll, sondern um eine übergreifende Zielsetzung. In diesem Sinne soll hier ästhetische Bildung verstanden werden. Wir charakterisieren sie mit folgenden Merkmalen:
> Mit den Sinnen wahrnehmen
Im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm findet man eine Definition
von Wahrnehmung, die für das Konzept einer ästhetischen Bildung auch heute noch in
Anspruch genommen werden kann:
... in der jetzigen spräche geht das wort hauptsächlich auf das gewahrwerden durch den gesichtssinn,
daneben aber auch durch andere sinne [...]; daneben kann es aber auch die geistige Verarbeitung der
sinnlichen eindrücke in sich schlieszen [...] Wahrnehmung ist die unmittelbare auffassung eines gegebnen im bewusstsein, sei es nun, dasz uns etwas von auszen gegeben sei, wo die Wahrnehmung durch
den äuszern sinn bewirkt wird und daher selbst eine äuszere Wahrnehmung heiszt, oder dasz uns etwas
von innen gegeben sei, wo die Wahrnehmung durch den innern sinn geschieht und daher selbst eine
innere Wahrnehmung genannt wird.1
1 Grimm, Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch. 13.Band. Leipzig 1922, Spalten 964-966.
Quelle: Spinner, Kaspar H. (Hrsg.)(2002): SynÄsthetische
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Bildung in der Grundschule. Donauwörth.
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Ein Gegenstand rückt dann als ästhetischer ins Blickfeld, wenn er besonders intensiv, mit
einer hohen Sensibilität für die sinnlichen Qualitäten wahrgenommen wird. Wir können
uns, am Beispiel gezeigt, über die Größe der Gestirne unterhalten, ihre Abstände zueinander messen oder die Umlaufbahnen rekonstruieren, aber der Sternenhimmel in seiner
Schönheit und reich strukturierten Fülle lässt sich nur mit den Sinnen wahrnehmen. In
solcher Wahrnehmung werden sinnliche Bedürfnisse erfüllt, deren Bedeutung, ähnlich
dem Spiel, in sich selbst liegt und keiner Rechtfertigung oder Erklärung bedarf. Ästhetische Bildung in der Schule heißt, dass ausdrücklich kontemplative, emotionalganzheitliche und spielerische Zugänge zur Bereicherung und Bewältigung des persönlichen Lebens geschaffen werden und dass damit die körperlich-sinnliche Erfahrung von
Welt auch in der Schule ihr Recht erhält.
> Staunen
Umwelt wird auf unterschiedliche Weise wahrgenommen: Wahrnehmung ist zum einen
eingebunden in Handlungsvollzüge - das Kind blickt zur Tafel, weil es abschreiben
muss, es hört in der Pause auf die Klingel, um zu wissen, wann es wieder ins Schulzimmer gehen muss, es tupft mit dem Finger an die Tasse, um zu überprüfen, ob der Kakao
nicht zu heiß ist. Solche Wahrnehmungen sind meist mehr oder weniger automatisiert
und Mittel zu einem Zweck. Um eine andere Form von Wahrnehmung handelt es sich,
wenn ein Kind gebannt einem Kasperletheater zuschaut, wenn es versunken ein Musikstück anhört, wenn es vom Duft einer Blume begeistert ist. In solchen Fällen ist die
Wahrnehmung nicht funktionalisiert, sondern genügt sich selbst: Es handelt sich um ästhetische Wahrnehmung, die mit einem Staunen verbunden ist.
Das ästhetische Staunen ist nicht identisch mit dem Sensationsstaunen; das zeigt sich
daran, dass man einen Gegenstand, der einem ästhetisch wichtig ist, immer wieder ansehen (hören, lesen ...) kann und immer wieder das Staunen erfährt. In diesem Sinne ist ästhetische Wahrnehmung durch Intensität charakterisiert.
> Aufmerksamkeit
Ästhetische Wahrnehmung ist gekennzeichnet durch eine besondere Aufmerksamkeit für
das Wahrgenommene: Man schaut sich die Farben eines Herbstblattes genau an, man hört
auf die verschiedenen Tonnuancen im Konzert, man ist sich der Bewegungen als Balletttänzerin bis in die Fingerspitzen hinein bewusst. Aufmerksamkeit hat etwas mit motivationaler Einstellung zu tun, sie schließt aber auch kognitive Prozesse ein, weil sie das Unterscheidungsvermögen beansprucht. Charakteristisch für die ästhetische Aufmerksamkeit ist, dass es ihr um das Wahrnehmen selbst geht: Ich schaue mir die Mäusespur im
Schnee genau an, weil der zarte Abdruck mich fasziniert. Der Jäger dagegen, der die Spuren genau ansieht, um zu erkennen, welche Tiere über die Lichtung gegangen sind, oder
der Detektiv, der die Fußspuren am Ort eines Mordes untersucht, sind zwar auch aufmerksame Beobachter, aber nicht im ästhetischen Sinne, weil ihre Beobachtung funktionalisiert ist.
> Beachtung des Besonderen
Die ästhetische Wahrnehmung wird in der Philosophiegeschichte immer wieder der begrifflichen Welterfassung gegenübergestellt. Mit Begriffen kategorisieren wir, durch den
Begriffserwerb lernt das Kind z. B., dass man verschiedene Stühle, so unterschiedlich sie
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auch aussehen, mit dem einen Wort Stuhl bezeichnen kann. Ästhetische Wahrnehmung
dagegen interessiert sich für das Besondere, Einmalige: Dieses Bild, diese Landschaft,
diese Vase sind mir wichtig. Begriffliche Kategorisierung spielt in der Schule eine
zentrale Rolle; ästhetische Bildung ist als anderer Zugang zur Welt das notwendige
Pendant dazu.
Im Besonderen, Einmaligen erscheint bei ästhetischer Wahrnehmung allerdings immer
auch etwas Allgemeines auf, das freilich nicht einfach begrifflich gefasst werden kann.
Ein Märchen kann auf ein Kind wirken, weil es in ihm eine Grundfigur von Lebensabläufen wiederfindet, der Blick auf den ersten Schnee an einem Novembermorgen kann Erinnerung an frühere Erlebnisqualitäten in ähnlichen Situationen wachrufen. Dem ästhetischen Wahrnehmen kommt so immer auch symbolische Qualität zu. Was einem in der
ästhetischen Erfahrung begegnet, wirkt deshalb nicht zufällig und beliebig, sondern existenziell bedeutsam.
> Imagination
Ästhetische Wahrnehmung überschreitet die sinnliche Wahrnehmung, weil sie unsere
Vorstellungskraft angeregt. Der Geruch von Erde, wenn nach langem Frost ein erster
warmer Regen niederfällt, kann Frühlingsempfinden in sinnlicher Fülle hervorrufen. Die
Wahrnehmung mit Hilfe des einen Sinnes kann andere Sinne wachrufen. Nicht von ungefähr spricht man von Farbklängen und Klangfarben, von bildhafter Sprache und Sprache
der Bilder. Wegen dieser wechselseitigen Steigerung sinnlicher Wahrnehmungen und
Imaginationen ist in dieser Handreichung von syn-ästhetischer Bildung die Rede.
Ästhetische Imagination ist, auch wenn sie rein virtuellen Charakter zu haben scheint,
verknüpft mit (erinnerten oder phantasierten) Sinneserfahrungen. Darin unterscheiden
sich z. B. Erzählen und Berichten: Beim Erzählen empfindet man mit dem Helden mit, z.
B. bei dessen Gang durch eine dunkle Gasse in der Nacht, während der Bericht die objektivierende Distanz bewahrt. Durch ihre Verankerung in sinnlichen Erfahrungen bleibt
Imagination immer bis zu einem gewissen Grade leibgebunden.
> Subjektivität
Ästhetische Wahrnehmung ist zwar einerseits Zuwendung zu einem Gegenstand, aber sie
ist zugleich Wahrnehmung des eigenen Empfindens. So erscheint der ästhetische Gegenstand nicht nur ein objektives Gegenüber zu sein, vielmehr findet sich die/der Wahrnehmende in gewisser Weise in ihm wieder. Das Wort Stimmung, das man gerne im Zusammenhang mit ästhetischer Erfahrung verwendet, zeigt diesen Doppelaspekt besonders
deutlich: Die Stimmung in einem Sommergedicht oder einem impressionistischen Gemälde oder einem Impromptu ist im künstlerischen Produkt ausgedrückt und wird vom
Rezipienten zugleich so erfahren, als wenn es etwas ist, das aus ihm selbst hervorkommt
oder in dem er sich wiederfindet. In diesem Sinne überspielt ästhetische Erfahrung die
Subjekt-Objekt-Entgegensetzung, die sonst in der Aneignung von Welt eine so große
Rolle spielt.
Eine Folge dieser Zusammenführung von Subjektivität und Objektivität ist, dass in der
ästhetischen Erfahrung nicht nur das wahrgenommene Objekt wertvoll wird, sondern
auch das Subjekt Selbstwert erfährt: Es gesteht sich das Recht zu, etwas für sich selbst zu
genießen. Wenn ästhetischen Erfahrungen in Bildungsprozessen kein Raum gegeben
wird, bedeutet das eine Entwertung und Entmündigung der Subjekte.
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In die ästhetische Wahrnehmung und Empfindung der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Dinge fließen subjektive Vorstellungen, Träume, Fantasien und Deutungen ein.
Bewusstes und Unbewusstes verbinden sich miteinander. So erfährt die/der Wahrnehmende etwas über sich und über den Gegenstand.
> Verfremdung
Ästhetische Erfahrung unterbricht die mechanisch ablaufenden Routinen des Alltags man steht in der Küche, kocht einen Tee, blickt aus dem Fenster und hält inne, weil man
die Schneeflocken tanzen sieht. Die Künste arbeiten oft gezielt mit der Entautomatisierung und der daraus folgenden Intensivierung der Wahrnehmung. Eine solche Entautomatisierung geschieht z. B. im Kasperlespiel durch die Verwendung von Puppen, aber
z.T. auch einfach dadurch, dass Objekte aus dem Alltag herausgehoben oder in ihm abgegrenzt sind, z. B. das Bild durch einen Rahmen (manchmal wirkt schon ein Fensterrahmen in dieser Weise: Man nimmt die Landschaft draußen wie ein Bild wahr). Der
aufgehende Vorhang im Theater hat eine ähnliche Funktion. Im Unterricht spielen solche
Formen der Entautomatisierang ebenso eine Rolle: Das Herbstblatt, das im Pausenhof
aufgehoben, ins Klassenzimmer gebracht und abgemalt wird, wird so zum ästhetischen
Objekt. Auch Ritualisierangen können eine solche Funktion haben, z. B. die Vorlesestunde an einem bestimmten Tag mit angezündeter Kerze.
Das SynÄsthetische
Mit dem Begriff des SynÄsthetischen möchten wir auf die Bedeutung hinweisen, die der
Berücksichtigung mehrerer Sinne bei der Beschäftigung mit einem Gegenstand zukommt, und zeigen, wie sich dadurch verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen.
Gemeint ist also nicht die als Synästhesie bezeichnete Fähigkeit einzelner Menschen, bei
Tönen Farben zu sehen oder Gerüche wahrzunehmen. Wohl aber gehen wir davon aus,
dass eine vergleichende Wahrnehmung die Aufmerksamkeit schärft und ein tieferes, differenzierteres Wahrnehmen ermöglicht. Das ist nicht eine Verlängerung der Reizüberflutung, ein Anhäufen von Sinnesreizen, sondern zielt auf Lernsituationen, in denen emotional getönte, sinnliche Erfahrungen initiiert werden, die eine intensive, auch kognitive,
Verarbeitung anregen und unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten freilegen.
Ein solcher Ansatz berührt sich mit dem Konzept des fächerübergreifenden Unterrichts,
weil Verbindungen zwischen den Fächern gesucht und Vernetzungen geschaffen werden.
Wichtig ist uns dabei, dass es nicht bei der Addition von Versatzstücken aus verschiedenen Fächern bleibt, sondern eine enge Beziehung zwischen Gegenstand und verschiedenen sinnlich-körperlichen Wahrnehmungsprozessen geschaffen wird (sensorische Integration).
Bildung
Wir greifen in dieser Publikation bewusst den Begriff der ästhetischen „Bildung" und
nicht den der ästhetischen „Erziehung" auf. Letzterer betont die absichtsvolle Einfluss12
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nähme auf andere Menschen mit dem Ziel der Veränderung von Verhalten, Haltung, Gesinnung und Moral, ausgerichtet an Normen und Werten, die gesellschaftlich-historischen
Wandlungen unterliegen. Mit dem Begriff der Bildung betonen wir stärker die Persönlichkeitsentfaltung des Menschen, die alle Dimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten umschließt. Das Hineinversenken in eine Sache, das verweilende Schauen und
Lauschen, der Dialog sind uns in unserem Zusammenhang besonders wichtig - gerade
angesichts einer immer stärker zu beobachtenden oberflächlichen Konsumhaltung. Der
Unterricht soll Freiräume öffnen, in denen die Kinder ihre emotionale Befindlichkeit, ihre
eigenen Fähigkeiten und das für ihre Identitätsentwicklung notwendige Selbstwertgefühl
entdecken können. In diesem Sinne legt bildendes Lernen besonders Wert auf Sinnorientierung.
Ästhetische Bildung in der Grundschule
Durch ästhetische Bildung werden den Kindern die Sinne geöffnet für intensive, verweilende Wahrnehmung. Gegen die Zersplitterung in Einzelwissen setzt ästhetische Bildung
auf die wechselseitige Bereicherang der verschiedenen Sinneswahrnehmungen und der
mit ihnen verknüpften Imaginationen. Ästhetische Bildung wird besonders wichtig für
Kinder, die durch Reizüberflutung nur noch flüchtig und zerstreut wahrnehmen und deren Imaginationen keine geformte Gestalt mehr annehmen können. Ästhetische Bildung
öffnet Zugänge zu den künstlerischen Ausdrucksformen, zu Bild, Musik, Dichtung, Film,
Tanz usw., reicht aber zugleich über die Künste hinaus; ästhetische Wahrnehmung von
Umwelt ist Voraussetzung für Umwelterziehung und auch - durch die Förderung von
Sensibilität - für Friedenserziehung. Die Grundschulkinder sind in einer Lebensphase, in
der gerade die wache Aufmerksamkeit für die äußere Erscheinungswelt für das ganze
Leben entscheidend geprägt werden kann.
Aus dem Gesagten wird deutlich, dass ästhetische Bildung als ein übergreifendes Prinzip zu verstehen ist, das alle Fächer betrifft und das verfehlt wird, wenn es nur in den
Randbereichen von Unterricht vorkommt. Vielmehr muss es darum gehen, die ästhetische Bildung als ein vielfältig vernetztes Erfahrungsfeld zu gestalten. Aus diesem Grunde
konzentriert sich diese Handreichung auf Unterrichtsvorschläge, die fachübergreifende
Bezüge im Blick haben.
Wechselspiel von Rezeption und Produktion
Im ursprünglichen Wortsinn von „Bilden", d.h. „einer Sache Gestalt und Wesen geben",
sehen wir auch die Notwendigkeit einer Verschränkung von Rezeption und Produktion.
Ästhetische Wahrnehmung ist kein passives Hinnehmen, sondern Zuwendung zum wahrgenommenen Gegenstand. Die Rolle, die die Imagination dabei spielt, zeigt, dass immer
auch ein Mitschaffen im Spiel ist. Das ist der Grund, warum produktive, handelnde Verfahren berechtigterweise in der ästhetischen Erziehung heute betont werden: Durch den
eigenen Umgang mit Farben, durch das Schreiben von Gedichten, durch das Herstellen
einer Videoszene kann die aufmerksame ästhetische Wahrnehmung besonders angeregt
werden.
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Das Herstellen und Inszenieren eines ästhetischen Produktes - eines Singspiels, eines
Geschichtenbuchs, eines Videos - erfordert eine erhöhte Wachsamkeit der Sinne und
Aufmerksamkeit für Details. Wenn die Kinder selbsttätig etwas herstellen, können sie
individuelle Ausdrucksformen entwickeln und im Vergleich mit den Mitschülerinnen und
Mitschülern ihre eigene Art der Problemlösung entdecken. Sie sehen, dass es verschiedene Möglichkeiten der Gestaltung gibt. Der Prozess ist dabei wichtiger als das Produkt.
Nicht jedes Hantieren führt jedoch zu einer besseren Lernqualität. Es gibt mehr oder
weniger gelungene Lösungen, und zur ästhetischen Bildung gehört deshalb auch, dass ein
Qualitätsgefühl entwickelt wird. Es kann durch das gemeinsame Reflektieren gefördert
werden.
Kreative Leistungen erfordern emotionales Engagement und intellektuelle
Anstrengung, Inspiration und Fantasie, Konzentration und Ausdauer, und zwar nicht als
befohlene Arbeitsdisziplin, sondern als Haltung, die sich aus der ästhetischen
Beschäftigung ergibt. Bei den vielfach zerstreuten, unruhigen Medienkindern ist eine
solche Haltung nicht selbstverständlich; aber gerade durch ästhetische Beschäftigung
kann sie besonders gefördert werden; die Versunkenheit, in der sich Kinder immer
wieder solcher Arbeit zuwenden können, der Einfallsreichtum, der ausgelöst werden
kann, die Aufmerksamkeit, die für die Produkte der anderen Kinder geweckt werden
kann, zeigt, welche pädagogischen Potenziale in der ästhetischen Bildung liegen.
Vorrangig geht es in diesem Zusammenhang um handlungsorientierte Unterrichtsmethoden. Wichtig sind vielseitig sinnlich anregende Lernumgebungen. Hirnforschung und
Motivationspsychologie haben gezeigt, dass das Zusammenwirken von Handeln, Denken
und Erleben für Lernprozesse besonders förderlich ist.
Das Handeln selbst darf aber nicht zum Hauptzweck werden, denn die Ästhetik ist ja
gerade auch ein Gegenbegriff zum praktischen Tun. Ästhetische Bildung bedeutet immer
auch, dass man innehalten, etwas auf sich wirken lassen kann. Dann entfaltet sich für
Kinder in ihrer Vorstellung oft auch etwas, was sie redend und selbst gestaltend nur verkürzt wiedergeben könnten. Ein ausschließlich handlungsorientiertes Konzept von Unterricht kann Imagination trivialisieren. Die didaktische Kunst im ästhetischen Unterricht
besteht darin, dass man die richtige Balance zwischen Aktivität und verweilender Aufmerksamkeit schafft. Phasen der konzentrierten Wahrnehmung - das Zuhören beim Vorlesen einer Geschichte oder beim Hören eines Musikstückes usw. - gehören auch zur ästhetischen Bildung. In diesem Sinne hält eine recht verstandene ästhetische Bildung von
allzu schnellem Daherreden und Zerreden ab.
Über Kontemplation geht ästhetische Bildung jedoch insofern hinaus, als sie Perspektiven für die Gestaltung unserer Lebenswelt eröffnet. Die Bilder der Kinder, die im Klassenraum hängen, der gestaltete Schulgarten, die Einrahmung einer Schulfeier durch Musik lassen erfahrbar werden, dass man die eigene Umwelt so gestalten kann, dass das Leben in ihr als lebenswert erscheint.
Plädoyer für ästhetische Bildung als Teil der Schulkultur
Die vorliegende Handreichung knüpft an Vorgaben des neuen bayerischen Grundschullehrplans an, betont aber noch entschiedener als dieser die Bedeutung des Ästhetischen
für die Entwicklung des Kindes und für die Zukunftsperspektive einer lebenswerten
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R.-D, Kraemer/K. H. Spinner- SynAsthetische Bildung in der Grundschule
Welt. In einer Zeit, in der der Evaluationsgedanke Konjunktur hat, ist es wichtig, auf diejenigen zentralen Aspekte von Bildung hinzuweisen, die sich nicht ohne weiteres als
Lernfortschritt und Kompetenz abprüfen lassen. In dieser Hinsicht mögen unsere Vorschläge auch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu gegenwärtigen bildungspolitischen Trends stehen.
Einen direkten Bezug zu den gegenwärtigen Reformbestrebungen sehen wir allerdings
in der Forderung nach fächerverbindendem, vernetzendem Unterricht und nach der
Schaffung von Schulprofilen. Syn-ästhetische Bildung kann dazu einen zentralen Beitrag
leisten.
Literatur
Aissen-Crewett, Meike: Musisch-Ästhetische Erziehung in der Grundschule. In: Grundschule 7+8/1987,
S. 29-36.
Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: Lehrplan für die Grundschule. Kirchheim b.
München 2000.
Kaiser, Hermann Josef: Musikvermittlung als Vermittlung sinnlicher Erkenntnis. In: Behne, Klaus-Ernst
(Hrsg.): Musikalische Sozialisation. Laaber 1981, S. 210-232.
Kaiser, Hermann Josef: Über „Musikalische Rationalität". In: Ott, Thomas/Loesch, Heinz von (Hrsg.):
Musik befragt - Musik vermittelt. Peter Rummenhöller zum 60. Geburtstag. Augsburg 1996, S. 1-39.
Neuß, Norbert (Hrsg.): Ästhetik der Kinder. Interdisziplinäre Beiträge zur ästhetischen Erfahrung von
Kindern. Frankfurt a.M. 1999.
Nießeler, Andreas: Die anthropologische Bedeutung der Aufmerksamkeit. Anmerkungen zu einer zentralen Leistungskategorie schulischer Bildung. In: Neue Sammlung 37/1997, Heft 3, S. 459-474.
Nowak, Adolf: Musikästhetik. In: Edler, Arnfried/Helms, Siegmund/Hopf, Helmuth (Hrsg.): Musikpädagogik und Musikwissenschaft. Wilhelmshaven 1987, S. 210-229.
Pütz, Werner: Erfahrung durch die Sinne und Sinnerfahrung. Perspektiven für den Umgang mit Musik.
In: Pütz, W. (Hrsg.): Musik und Körper. Essen 1990, S. 65-82.
Rolle, Christian/Vogt, Jürgen: Ist ästhetische Bildung möglich? Eine Herausforderung, mehrere Entgegnungen und viele Fragen. In: MuU 34/1995, S. 56-59.
Rolle, Christian: Was heißt „ästhetische Erfahrung"? In: Pfeffer, M. u. a.: Systematische Musikpädagogik
oder: die Lust am musikpädagogisch geleiteten Nachdenken. Augsburg 1998, S. 15-47.
Schneider, Reinhard: Ästhetische Erziehung. In: MuU, H. 38, Mai 1996, S. 4-7.
Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. München 2000.
Seel, Martin: Ethisch-ästhetische Studien. Frankfurt 1996.
Seel, Martin: Intensivierung und Distanzierung: Ästhetische Bildung markiert den Abstand von der Allgemeinbildung. In: Kunst + Unterricht 176/1993, S. 48.
Spinner, Kaspar H.: Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht heute. In: Der Deutschunterricht 6/98, S. 38-54.
Wallbaum, Christopher: Ästhetische Wahrnehmung. Zur Ästhetik Martin Seels. In: MuU 38/1996, S. 3738.
Welsch, Wolfgang: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: KUNSTFORUM international. Bd. 100, 34/1989, S. 135-149.
Wiater, Werner: Die ästhetisch-interaktionistische Didaktik. Ein neues Didaktik-Modell? In: Pädagogische Welt 48/1994, S. 402-407.
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