NZZ vom 17.10.2007, Forschung und Technik, Seite B 1 Mit Mathematik der Sprache auf der Spur Intensiver Gebrauch macht Wörter stabil gsz. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert herrschte in der Sprachforschung die historische Sichtweise vor. Die krönende Leistung der Linguisten war damals ein Stammbaum, mit dem die Evolution verwandter Sprachen nachgezeichnet wurde. Im zwanzigsten Jahrhundert konzentrierten sich die Sprachwissenschafter dann zunehmend auf die menschliche Fähigkeit, Äusserungen zu produzieren und zu verstehen. In den vergangenen Jahren schliesslich begannen Evolutionstheoretiker, Sprachen mit mathematischen Hilfsmitteln zu untersuchen. In zwei Arbeiten, die nun in «Nature» erschienen sind, haben Forscherteams aus dieser Optik anhand von statistischem Material die Rolle untersucht, die die Häufigkeit eines Wortgebrauchs in der Evolution von Sprachen spielt.¹ Die beiden Gruppen konnten dabei mit konkreten Zahlen quantitativ die These untermauern, dass häufig benutzte Wörter evolutionärem Druck besser standhielten als seltene. Die erste Gruppe, ein Team der University of Reading in England, hatte geprüft, wieso Wörter wie «drei», «hören» oder «Nacht» in den meisten indogermanischen Sprachen ähnlich tönen, während solche wie «Vogel» oder «Nebel» viele verschiedene Wortstämme aufweisen. Die Wissenschafter untersuchten in 87 Sprachen jeweils 200 Wörter und korrelierten die Anzahl der Wortstämme, die für jede Bedeutung existiert, mit der Häufigkeit, mit der die Wörter in geschriebenen und gesprochenen Texten auftreten. Dabei stellten sie fest, dass das Verhältnis umgekehrt proportional ist. Häufige Wörter weisen wenige Wortstämme auf – das Adjektiv «lang» zum Beispiel tritt im Englischen 600-mal pro Million Wörter auf und besitzt in den indogermanischen Sprachen nur 12 Wortstämme, während sich ein Adjektiv wie «schmutzig», das im Englischen bloss 27-mal pro Million Wörter auftritt, weiterentwickelte und nun nicht weniger als 46 verschiedene Wortstämme aufweist. An der Universität Harvard analysierten Forscher anderseits, wieso gewisse Verben, die im Altenglischen unregelmässig waren, in der modernen Sprache zu regelmässigen wurden, andere jedoch unregelmässig blieben. Zeitwörter wie «help», deren Imperfekt mit dem Suffix -ed gebildet wird («helped»), nennt man regelmässig. Andere wie «catch», dessen Imperfekt antiquierten Formen folgt («caught»), zählen zur Kategorie unregelmässig – im Deutschen vergleichbar mit schwachen und starken Verben. Über 97 Prozent der englischen Zeitwörter werden regelmässig konjugiert, die zehn meistverwendeten («be», «have», «do», «go» . . .) jedoch sind ausnahmslos unregelmässig. Die Forscher untersuchten nun 177 Verben, die im achten Jahrhundert – etwa zur Zeit des Heldengedichts «Beowulf» – unregelmässig waren. Von ihnen waren vierhundert Jahre später, zur Zeit der «Canterbury Tales», bloss noch 145 irregulär, und zur Zeit von «Harry Potter» sind es nur noch 98. Auch hier korrelierte die Wortfrequenz umgekehrt proportional mit der Entwicklung: Häufige Verben blieben unregelmässig, seltene Verben tendierten dazu, sich unter dem Druck der Evolution zu regularisieren. Beeindruckend dabei ist vor allem, wie robust die Anpassungsgeschwindigkeiten waren, die sich errechnen liessen und die eine Art Halbwertszeit ergaben – ein Verb, das hundertmal seltener gebraucht wird als ein anderes, wird zehnmal schneller seine Unregelmässigkeit verlieren. Diese Gesetzmässigkeit der Sprache, schreiben die Wissenschafter, habe selbst die Invasion der Normannen und die Erfindung des Buchdrucks überdauert. ¹ Nature 449, 665–667; 713–717; 717–720 (2007).