Deckblatt für Manuskript

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Hessischer Rundfunk
Hörfunk – Bildungsprogramm
Redaktion: Volker Bernius
WISSENSWERT
Was bleibt von.... Friedrich Nietzsche?
Von Mischa Ehrhardt
Sendung:
Montag, 28.02.2005, 08.40 Uhr, hr2
Sprecherin:
Sprecher:
05-025
COPYRIGHT:
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Zitator: (unterlegt mit Musik)
Der Panther
„Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
Und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
…“
Sprecherin:
Ein Sinnbild für die Philosophie Friedrich Nietzsches: Das Gedicht von Rainer Maria Rilke über
den Panther in einem Käfig. Nur ist es bei Nietzsche kein Panther, dessen Kraft hinter
Gitterstäben gefangen ist, sondern das „Thier-Mensch“, wie Nietzsche den Menschen gerne zu
nennen pflegt. Und der Käfig besteht nicht aus einer Reihe metallischer Gefängnisstäbe, sondern
aus den Moralvorstellungen des christlichen Abendlandes. So schreibt Nietzsche seinen
„Antichristen“, so schreibt er „Zur Genealogie der Moral“ und so schreibt er „Jenseits von Gut und
Böse“. Und sein Ton ist dabei nicht sehr zimperlich:
Zitator:
„Das Christenthum war bisher die verhängnisvollste Art von Selbst-Überhebung. Menschen, nicht
hoch und hart genug, um am Menschen als Künstler gestalten zu dürfen; … Menschen, nicht
vornehm genug, um die abgründlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch
und Mensch zu sehen: - solche Menschen haben, mit ihrem „Gleich vor Gott“, bisher über dem
Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier,
etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer…“
Sprecherin:
Mit dem Mittelmaß hat sich Nietzsche nie zufrieden gegeben – zumindest nicht in Gedanken.
Nietzsche denkt in Extremen; und er fördert für den Menschen mitunter unliebsame Einsichten zu
Tage.
Friedrich Nietzsche kommt 1844 zur Welt. Er wird hineingeboren in ein protestantisches
Pfarrhaus. Schon als Kind glänzt er in vielen Bereichen, vor allem im deutschen Aufsatz und in
Musik. Nach seinem Studium der Philologie und Theologie wird er Professor für klassische
Philologie in Basel – und das, noch bevor er seine Doktorarbeit abgeschlossen hat. Er pflegt eine
Freundschaft mit Richard Wagner, mit dem er sich später bitter zerstreiten wird. Nietzsche zweifelt
daran, ob er je ein rechter Philologe werden wird. Sein erstes großes Werk „Die Geburt der
Tragödie aus dem Geist der Musik“ wird in der Fachwelt von vielen nicht beachtet und die
Wenigen, die es lesen, widersprechen ihm umso heftiger. Nietzsche ist mehr und mehr geplagt
durch heftige Augen- und Kopfschmerzen und muss schließlich nach zehn Jahren an der
Universität sein Amt nieder legen. Er zweifelt zudem am Sinn der Universitätslehre und kommt nur
schwer mit anderen Menschen aus. Richtig genesen wird er von seiner Krankheit bis an sein
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Lebensende nicht mehr. Von der Krankheit unberührt allerdings bleibt Nietzsches philosophisches
Selbstbewusstsein.
Zitator:
„Es ist nicht unmöglich, daß ich der erste Philosoph des Zeitalters bin, ja vielleicht noch ein
wenig mehr, irgend etwas Entscheidendes und Verhängnisvolles, das zwischen zwei
Jahrtausenden steht.“
Sprecherin:
Nietzsche lebt fortan quasi als Flüchtling, er haust in Deutschland, der Schweiz, Italien oder
Frankreich in bescheidenen Hotelzimmern. Trotz der widrigen Lebensumstände schreibt er in
ungeheurem Tempo seine Werke, die ihn später berühmt machen sollten. Zu seinen Lebzeiten
aber bekommt Nietzsche kaum Resonanz. Die Philosophie bringt er sich selbst bei und bleibt sein
ganzes Leben lang ein Außenseiter der akademischen Philosophie. Seine Schriften sind keine
akademischen Abhandlungen sondern stilistisch brillante und gewaltige Werke deutscher
Sprache. Als auch eines seiner heute berühmtesten Werke, nämlich „Also sprach Zarathustra“,
ohne Echo verhallt, schreibt Nietzsche resigniert:
Zitator:
„Nach einem solchen Anrufe aus der innersten Seele keinen Laut von Antwort zu hören, das ist
ein furchtbares Erlebnis; es hat mich aus allen Banden mit lebendigen Menschen
herausgehoben.“
Mit 45 Jahren bricht Nietzsche 1889 in Turin endgültig zusammen: Schluchzend umarmt er ein
Pferd, das zuvor vom Kutscher geschlagen wurde. Er wird in sein Hotel zurück gebracht und redet
fortan nur noch unzusammenhängend und wirr, wahrscheinlich auf Grund einer Paralyse – einer
Hirnerweichung. Elf Jahre lebt er noch in diesem Zustand im Hause seiner Mutter und Schwester,
bis er im Jahre 1900 stirbt.
Nietzsche schrieb über sich und seine Philosophie, dass er jede seiner Schriften mit ganzem Leib
und Leben geschrieben habe. Der Philosoph Wolfgang Jordan hat sich lange Jahre in einer
Doktorarbeit mit Nietzsche beschäftigt. Er meint, dass man Nietzsches Lebensumstände
mitdenken muss, wenn man seine Bücher liest:
O-Ton Jordan1:
„Wichtig ist, dass man diese Krankheit als relativierendes Moment nimmt, wenn man Nietzsche
liest; wenn man es wörtlich nimmt, muss man fragen, wer hat denn das gesagt; und das war ein
kurzsichtiger, der unter Übelkeit leidet, und dann kann man selber mit dem Instrument Nietzsches
ihn analysieren und psychologisch sehen: da hat sich ein kranker Trost verschafft… Seine
Philosophie ist auch durch sein körperliches bedingt. So ist auch sein später Notizstil zu sehen in
Zusammenhang mit seinem Wandersleben: man hat keine Zeit für Schreibtisch-Traktate, sondern
muss sich Notizen machen auf den Bergtouren. Und auch diese Glücksvorstellung: auf dem Berg
stehen, weite sicht haben, sind Vorstellungen, die dann etwas von dem formulieren, was er nicht
erleben konnte.“
Sprecherin:
Für Nietzsche ist alle Philosophie durch ihre Zeit bedingt – ja mehr noch: es gibt keine Perspektive
außerhalb des Individuums mit seinen Schwächen, seinen Stärken und seiner subjektiven
Befindlichkeit. Folglich lehnt er die Suche nach „der Wahrheit“ als ein Ding der Unmöglichkeit ab –
zumindest in der Form, wie sie die Philosophie vor ihm noch glaubte finden zu können.
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Demgegenüber macht Nietzsche den Begriff des Lebens stark, erklärt der Philosoph Friedrich
Schmidt von der Universität in Frankfurt.
O-Ton Schmidt1:
„Also die Philosophie ist diejenige Disziplin, die nach der Wahrheit strebt. Die Wahrheit ist etwas,
was gewissermaßen abgelöst von den alltäglichen Einsichten und Erfahrungen dasteht. Das
leuchtet ihm überhaupt nicht ein. Er ist Meinung, dass wenn die Philosophie das Streben nach
Wahrheit sein soll, dass es dann darauf ankommt, Wahrheiten zu entdecken, die dem Leben
dienen, und dass so die Geschichte in Wahrheit auch, he: in Wahrheit auch verlaufen ist.“
Sprecherin:
Sprecherin:
Vor allem das Christentum mit seinem Jenseitsglauben und seinem Anspruch ewiger moralischer
Wahrheiten kritisiert Nietzsche daher sehr heftig – zumal es seiner Meinung nach eine
„Sklavenmoral“ predige. Sie sei von den schwachen Menschen erfunden worden, um das Starke,
Lebendige und Gesunde in anderen Menschen zu unterdrücken und zu zähmen. Heraus
gekommen sei eben jenes „Heerdenthier“, das seine einstige Freiheit und seine Instinkte
aufgegeben hat zu Gunsten der Vernunft und der gleichmachenden Moral des Christentums. Für
Nietzsche ist daher das Christentum der Inbegriff von Lebensfeindlichkeit. Der Frankfurter
Philosoph Wolfgang Jordan vermutet, dass Nietzsche die Religion auch deswegen so sehr
kritisiert, weil ihre sittliche Bindungskraft ohnehin in seiner Zeit verloren gegangen sei. Nietzsches
berühmten Ausspruch, „Gott ist tot“, interpretiert Jordan in diese Richtung:
O-Ton Jordan2:
„Das ist dann seine Religionskritik, die eng verbunden ist mit seiner Moralkritik: dass er im Grunde
sagt, und schreibt, Gott ist tot, was auch natürlich kein theologischer Lehrsatz ist, kein
atheistischer, sondern eine Diagnose, dass niemand mehr an Gott glaubt, dass eine
Verbindlichkeit verloren gegangen ist, dass das, was die Sitte gewesen ist im Abendland, das ist
verloren gegangen.“
Sprecherin:
„Nihilismus“ ist der Ausdruck, den Nietzsche für den Verfall seiner Zeit wählt. An die Stelle von
dem, was man vorher als sichere Werte geglaubt hatte, ist das Nichts getreten:
Zitator:
„Die Zeit, in die wir geworfen sind, ist die Zeit eines großen inneren Verfalles und
Auseinanderfalles. Die Ungewissheit ist dieser Zeit eigen; nichts steht auf festen Füßen und
hartem Glauben an sich. “
Sprecherin:
Nietzsche lebt in einer Zeit, in der die industrielle Revolution abgeschlossen ist. Das Wissen
seiner Zeit wird mehr und mehr technisch und industriell verwertet. Damit ist das große Ideal der
traditionellen Philosophie und Wissenschaft hinfällig geworden: Eine zweckfreie Erkenntnis der
Wahrheit als höchstes Ziel ist für Nietzsche nicht mehr denkbar. Mehr noch: Seine Zeit lässt
rückblickend deutlich werden, dass die Idee der Wahrheit selbst nur ein Wert war, der subjektiv
von den Menschen gesetzt wurde. Es war zwar ein nützlicher Wert, weil er das
Identitätsbewusstsein der Menschen stabilisiert hat. Aber es war ein Wert – und der hat sich nach
Ansicht Nietzsches mit den gesellschaftlichen und moralischen Veränderungen des Zeitalters
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überlebt. Nietzsche fordert daher eine Umwertung der Werte – und ist sich darüber im Klaren,
dass dies einen Wandel im Selbstverständnis der Menschen nach sich ziehen werde. Da es noch
keine neuen Werte gibt, sieht Nietzsche sich in einer orientierungslosen, einer „nihilistischen“ Zeit.
In dieser Situation trägt seine Philosophie mitunter Züge des Prophetischen:
Zitator:
„Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was
kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus. Diese
Geschichte kann jetzt schon erzählt werden, denn die Notwendigkeit selbst ist hier am
Werke. Diese Zukunft redet schon in hundert Zeichen, dieses Schicksal kündigt überall sich
an; für diese Musik der Zukunft sind alle Ohren bereits gespitzt. Unsre ganze europäische
Kultur bewegt sich seit langem schon mit einer Tortour der Spannung, die von Jahrzehnt zu
Jahrzehnt wächst, wie auf eine Katastrophe los: unruhig, gewaltsam, überstürzt: einem
Strome ähnlich, der ans Ende will, der sich nicht mehr besinnt, der Furcht davor hat, sich zu
besinnen.“
Sprecherin:
Nachdem Gott tot ist und die absoluten Werte der Moral mit ihm begraben wurden, klafft an deren
Stelle die gähnende Lehre des Nichts. Die Furcht davor, sich zu besinnen, ist die Furcht davor, im
Denken ohne oberste Begriffe und Werte auskommen zu müssen. Nietzsche sieht sich im
Gegensatz zu den Philosophen seiner Zeit. Er glaubt sich als ersten Denker, der sich dieser
Aufgabe stellt.
Konnte die Aufklärung im Jahrhundert zuvor noch auf eine unparteiische und autonome Vernunft
setzen und von diesem festen Kern aus ihre Ideen entwickeln, setzt Nietzsche tiefer an und fragt
nach der Vernunft selbst. Und er findet für sich heraus, dass die Vernunft selbst historisch bedingt
ist und mit ihr auch alle Wahrheiten, die man vorher als überzeitlich geltend gedacht hatte. Von
hier aus wird für Nietzsche nun auch der Blick frei auf den menschlichen, allzu menschlichen
Ursprung noch der heiligsten Moralvorstellungen. Und Nietzsche ist derjenige, der Sch onungslos
die Abgründe der Moral offen legt. Der Frankfurter Philosoph Friedrich Schmidt erzählt einen
solchen Gedankengang Nietzsches:
O-Ton Schmidt2:
„Man kann den Menschen nur zähmen, also man kann ihm nur Moral beibringen, wenn man ihm
fürchterlich weh tut. Warum? Für die Entstehung des Gewissens ist aus der Sicht Nietzsches die
Fähigkeit der Erinnerung die Voraussetzung. Man muss nämlich, wenn man sich Rechenschaft
über das, was man getan hat, ablegen soll, dann muss man ja ein Gedächtnis entwickelt haben;
man muss also in der Lage sein, etwas, was schon zurückliegt, noch einmal zum Gegenstand der
Betrachtung zu machen. Das gelingt wiederum nur durch schmerzen. Wie macht man diesem
Augenblickstiere ein Gedächtnis? Indem man ihm weh tut. Und das ist für ihn am Grunde aller
Strafen. Daraus schließt er dann auch, dass diese Freude am Strafen, diese Lust an Grausamkeit
aufs engste damit zusammenhängt, weil Menschen insgeheim wissen, dass sie sich nur das
merken, was ihnen mal weh getan hat.“
Sprecherin:
Nietzsche spricht davon, dass sehr viel Blut und Grauen auf dem Grunde aller guten Dinge liegen.
Und nach diesen Gründen taucht Nietzsche, um an den Ursprung unserer moralischen Vorurteile,
wie er sie nennt, zu gelangen. Er arbeitet dabei mit seinen begriffsgeschichtlichen Kenntnissen
und seinem scharfen psychologischen Spürsinn. Sein Ziel ist es, den Wert der moralischen Urteile
selbst in Frage zu stellen, um zu einer wirklichen Historie der Moral zu kommen. Hinter
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moralischen Begriffen wie gut und schlecht beispielsweise vermutet Nietzsche einen historischen
Ursprung, der sehr wenig nur mit dem zu tun hat, was wir heute unter gut und schlecht verstehen.
Friedrich Schmidt erklärt Nietzsches herangehen an solche Worte so:
O-Ton Schmidt3:
„Er versucht die Begriffe, die für uns hochgradig moralisch aufgeladen sind, wie eben gut und
böse, bestimmten Gruppierungen, die sich in der Geschichte herausgebildet haben, zuzuordnen.
Also das Gute ist identifiziert für ihn mit dem Hohen, dem Erhabenen, dem Aristokratischen,
Elitären und so weiter, während schlecht und schlicht – das liegt ja schon nahe – eigentlich das
ist, was am Boden ist, sich nicht erheben kann.“
Sprecherin:
Durch die Moral der Schwachen, verkörpert vor allem durch das Christentum, hat sich nach
Nietzsche dann eine Wende vollzogen: das Erhabene und Starke wird nun als moralisch schlecht
verworfen, das Schwache und Schlichte in seiner Wehrlosigkeit wird als moralisch gut
aufgewertet. Das war nach Nietzsche eine geschichtliche Umwertung der Werte durch das
Christentum – und dadurch wurde die Entfaltung des natürlichen Lebens gehemmt. Neben
diesem Blick aufs Historische hat Nietzsche einen scharfen Blick für psychologische
Mechanismen. Denn der Mensch, der die Moral lernt, muss lernen, seine natürlichen Triebe zu
unterdrücken: Er muss seine Instinkte zu Gunsten der Vernunft unterdrücken. Daraus entsteht ein
Ressentiment, ein heimlicher Hass, der sich nicht offen heraus traut, sondern der unbewusst wirkt
und sich mitunter auf grausame Weise Luft verschafft nach außen etwa in Form von Rache und
Vergeltung. Friedrich Schmidt erklärt das Ressentiment:
O-Ton Schmidt4:
„Es ist vorhanden, aber es darf sich eigentlich nicht äußern, weil diejenigen, die aus diesem
Ressentiment heraus denken oder agieren, insgeheim wissen, dass sie sich selbst diese Gewalt,
die zur Versagung des Glücks und zum Leiden führt, antun. Dass sie sich selbst damit abfinden,
dem glücklichen Leben zu entsagen. Das macht es auch schwer, diese Einstellung zu
überwinden, weil sie auf der einen Seite außerordentlich stark ist, auf der anderen Seite aber
einer ständigen Verdrängung unterliegt, sodass sie sehr, sehr schwer greifbar ist.“
Sprecherin:
Viele unserer Handlungen, so meint Nietzsche, seien eben gesteuert durch Mechanismen, von
denen wir höchstens eine Ahnung haben können – eben weil sie uns nicht bewusst sind.
Siegmund Freud war wahrscheinlich einer der ersten, der Nietzsches Schriften wahrgenommen
hat. Er sagt sogar, dass er Nietzsches Schriften „lange gemieden“ habe, weil sich dessen
„Ahnungen und Einsichten (…) oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen
der Psychoanalyse decken“.
Anstelle der Versagung und Unterdrückung fordert Nietzsche eine Moral, in der die Bejahung des
Lebens und des Glücks im Zentrum steht. Es ist dies der Übermensch, der von der „Sittlichkeit der
Sitte“ wieder los gekommene Mensch, wie Nietzsche schreibt. Der Frankfurter Philosoph
Wolfgang Jordan versteht den Begriff so:
O-Ton Jordan3:
„Ein Übermensch ist einfach kein Mensch mehr; und Mensch ist bei ihm ein Schimpfwort
geworden, deshalb auch der Titel Menschliches allzu Menschliches, es sind also auch diese
Kleinlichkeiten, die man beobachten kann – wir würden vielleicht heute auch sagen Mobbing,
diese ganz starken psychologischen Momente, die sich im Zwischenmenschlichen abspielen; und
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der Übermensch wäre der, der das durchschaut hat, bei sich selbst und auch bei anderen und
sich dadurch davon frei gemacht hat – das wäre dann eben der Übermensch, der nicht mehr auf
Rache und Ausgleich sinnt, der großzügig ist in jeder Hinsicht, das wäre der Übermensch.“
Sprecherin:
Doch Nietzsches Theorie des Übermenschen hat in einer anderen Richtung eine fatale Wirkung
gehabt: Es ist vor allem diese Theorie, die die Nationalsozialisten In Deutschland dreiunddreißig
Jahre nach Nietzsches Tod ganz in ihrem Sinne verstehen konnten. Der Übermensch wurde
interpretiert als ein Exemplar der arischen Herrenrasse. Aus dieser geschichtlichen Wirkung
Nietzsches könne man aber auch etwas lernen, meint der Philosoph Wolfgang Jordan:
O-Ton Jordan4:
Seit Nietzsche wird auch ein Autor an den möglichen Missverständnissen seines Werks
gemessen; er ist auch verantwortlich zu machen für das, was er nicht ganz deutlich gesagt hat;
also seit Nietzsche wissen wir: so etwas lax dahin Gesagtes kann manchmal bösere Folgen
haben als etwas, was man bewusst bösartig formuliert, also das ist bei ihm ein Kriterium
geworden. Die Nationalsozialisten haben ihn fast systematisch falsch verstanden, aber daran ist
er nicht selber schuld. Natürlich kann jemand, der Tod ist, sich seine Leser nicht mehr aussuchen,
vielleicht kann auch ein lebender Autor sich seine Leser und Fans nicht mehr aussuchen. Aber bei
Nietzsche ist es leider so, dass er diesen Missverständnissen auch vorgearbeitet hat, und das ist
ein Problem, dafür muss man ihn leider auch verantwortlich machen.
Sprecherin:
Nietzsche ist der Philosoph, der von sich behauptet, dass er mit dem Hammer philosophiert. Und
es sind seine mitunter auch gewalttätigen Phrasen und die Verherrlichung von allem Starken und
Instinktiven, was die Nationalsozialisten in ihre Ideologie problemlos einbauen konnten. Doch ging
es Nietzsche nicht darum, nationalistischen Strömungen vorzuarbeiten – im Gegenteil: Er
bezeichnet den aufkeimenden Nationalismus als eine sehr unangenehm stinkende Blume, die auf
dem Boden des Ressentiments wächst. Was auf jeden Fall von Nietzsche bleibt, ist sein
unbedingter Wille zum Denken, der auch vor unliebsamen Einsichten nicht zurückschreckt.
O-Ton Jordan4:
„Dass er grundsätzlich diese abgründigsten Gedanken formuliert, das heisst die sind immer
gründlich aber zugleich auch abgründig, also Gedanken und Einsichten, die sehr tief blicken
lassen und eine absolute Ehrlichkeit von sich fordern. Das ist der Philosoph, der keinen Halt
macht vor irgendwelchen Befindlichkeiten oder Sensibilitäten, sondern der deutlich das ausspricht,
was der Fall ist und das würde ich Nietzsche immer hoch anrechnen.“
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