Hinweise für den Lehrer

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Abitur 2005 Philosophie Gk (Lehrer)
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Hinweise für den Lehrer
Die vorgelegte Prüfungsaufgabe besteht aus zwei Prüfungsarbeiten A und B.
Der Prüfungsteilnehmer hat davon eine Prüfungsarbeit auszuwählen. Alle Prüfungsunterlagen
sind geschlossen nach Ablauf der schriftlichen Prüfung einzusammeln.
Die Prüfungsarbeit wird entsprechend dem nachfolgend ausgeführten Erwartungshorizont
bewertet.
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Erwartungshorizont A
1. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen den EPA-Anforderungsbereichen I und II.
Nietzsche formuliert in diesem Text radikale Kritik an moralischen Entscheidungen, die sich
am Gewissen und am Pflicht-Begriff orientieren. Die Orientierung an universalistischen
moralischen Prinzipien diffamiert er als unreflektierten Glauben, der die historisch
kontingenten Bedingungen von Moral nicht erkennt. Vor dem Hintergrund der Analyse der
Kultur seiner Zeit und seiner Diagnose des Werteverfalls am Ende des 19. Jahrhunderts geht
Nietzsche davon aus, dass moralische Orientierungen und Wertentscheidungen immer
historisch bedingt sind und als solche auch analysiert werden müssen. Radikaler als viele
spätere Philosophen dringt er darauf, die Unsicherheit aller festen Werte und Normen zu
erkennen, den illusionären Halt moralischer Regeln aufzugeben und sich neue Wege zu
schaffen. Entscheidend ist für Nietzsche die Reflexion der historisch sich verhindernden
Bedingungen von Moral – dies hält er für einen unabdingbaren Anspruch des "intellektuellen
Gewissens“.
In diesem Aufgabenteil sollte Nietzsches Moralkritik – an den Begriffen des Gewissens sowie
der Pflicht – und seine Kritik an Kants Kategorischem Imperativ rekonstruiert werden. Dass
Nietzsche für das kritische Denken, die Reflexion der Entstehungsbedingungen von
moralischen Auffassungen argumentiert, sollte hier deutlich gemacht werden.
2. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich II.
Vor allem gegen das Kantische Universalisierungsprinzip wendet Nietzsche seine
Moralkritik. Aus seiner Sicht ist es unmöglich, allgemein gültige moralische Urteile zu fällen;
zum einen, weil Entscheidungssituationen niemals gleich sind und Handlungen immer
individuelle Handlungen sind, deren Maximen nicht auf ein und dasselbe Prinzip zurück zu
führen sind, und zum anderen, weil kontingente historische Bedingungen verantwortlich sind
für moralische Entscheidungen. Dass bei der Entscheidung für eine Handlung eine
Perspektive der Allgemeinheit eingenommen wurde, ist nicht nur nicht möglich, sondern kann
auch niemals zweifelsfrei nachgewiesen werden.
Da Nietzsche sich in diesem Textauszug ausdrücklich gegen Kant wendet, sollte die Kritik an
Kant in diesem Aufgabenteil besonders erörtert werden. Dazu muss das universalistische
Prinzip Kants, der kategorische Imperativ, zunächst erläutert werden. Die
Verallgemeinerungsperspektive, die Prüfung von Maximen, die freie Wahl guter Maxime und
die Berücksichtigung vernünftiger Zwecke beim Kantischen Maximentest sollten
berücksichtigt werden. Anschließend sollte geprüft werden, ob Nietzsches Zuschreibung,
beim kategorischem Imperativ handele es sich um ein Prinzip der Selbstsucht, begründet ist.
3. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich III.
Unstrittig ist, dass Nietzsche das Problem des Nihilismus, der Entleerung und Unsicherheit
fester Werte und Normen nachhaltig in die nachfolgenden ethischen Reflexionen eingebracht
hat. Es gibt kaum Theoretiker der normativen Ethik, die sich nicht auch mit Nietzsche und
seiner Moralkritik auseinander gesetzt haben. Die Kritik am Universalismus, die Kontextferne
abstrakter ethischer Basis-Prinzipien sowie die Vielfältigkeit von Handlungssituationen sind
Aspekte, die in der Reflexion der normativen Ethik und auch der angewandten Ethik eine
wichtige Rolle spielen. Die kritische Reflexion von Moral statt der Begründung normativer
Theorien wird von Vertretern der frühen Kritischen Theorie, von postmodernen Denkern, von
Feministinnen und anderen als angemessene Aufgabe der Moralphilosophie gefordert.
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Die eigene Auseinandersetzung mit der Kritik Nietzsches am Universalismus sollte an der
Frage ansetzen, ob eine allgemein gültige Ethik im 21. Jahrhundert – auch vor dem
Hintergrund des gesellschaftlichen Pluralismus und der multikulturellen Gesellschaft –
überflüssig ist oder für wichtig gehalten wird zur Realisierung des friedlichen
Zusammenlebens. Entweder können Kandidaten für eine universalistische Ethik hier
dargestellt oder Ansätze partikularer Ethiken begründet werden. Daraus folgende
Konsequenzen für die Aufgabe der Ethik sollten aufgezeigt werden. Wenn keine Konzeption
einer Ethik herangezogen wird, sollte begründet werden, welche Aufgabe für die Ethik im
21. Jahrhundert gesehen wird. Dabei kann man an ethisch brisanten Fragen ansetzen und
diskutieren, inwiefern angesichts neuer technischer Fortschritte (zum Beispiel der
Gentechnologie oder der Hirnforschung) allgemein gültige Ethikbegründungen wichtig sind.
Es kann auch grundsätzlich diskutiert werden, ob eine „neue Ethik“ für das 21. Jahrhundert
notwendig ist oder traditionelle Modelle, Prinzipien etc. ausreichend sind.
Andere sinnvolle Ausführungen des Prüflings können Teile des Erwartungshorizonts ersetzen.
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Erwartungshorizont B
1. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich I.
Seit einiger Zeit wird sowohl in Fachpublikationen als auch in der Öffentlichkeit angesichts
der Fortschritte in der Hirnforschung eine Diskussion zwischen Neurophysiologen,
Psychologen und Philosophen darüber geführt, in welchem Maße Bewusstseinsinhalte durch
neuronale Prozesse beschreibbar und bestimmbar sind. Dabei geht es letztlich um die Frage,
ob sich das menschliche Selbstverständnis vollständig naturalisieren lässt.
Die Autoren des Manifests stellen zunächst kurz die grundlegende Erkenntnis der neurophysiologischen Forschung heraus, wonach mentale Vorgänge mit biologischen im Gehirn
korrespondieren; sie nennen dafür bereits erforschte Beispiele wie das Treffen von
Entscheidungen. Sie behaupten sogar, dass die unbewussten Prozesse den bewussten
vorausgehen. Alle psychischen Erlebnisse seien somit beschreibbar als physikochemische
Prozesse im Gehirn, auch wenn noch viele Einzelheiten unklar seien. Als wichtigste
Erkenntnis der Hirnforschung stellen die Autoren heraus, dass sich unser Bewusstsein im
Laufe der Evolution entwickelt hat und also vollständig natürlichen Ursprungs ist. Daraus
leiten die Autoren zahlreiche Erwartungen ab. Zum einen sehen sie mittelfristig
Anwendungsmöglichkeiten der Forschungsergebnisse bei der Behandlung von
neurophysiologischen und psychischen Erkrankungen mit Medikamenten und künstlichen
Organen. Zum anderen sehen sie Behandlungschancen bei „Verhaltensauffälligkeiten“. Die
ethischen Probleme solcher persönlichkeitsverändernder Eingriffe und das neu entstehende
Menschenbild müssten mit den Geisteswissenschaften diskutiert werden, aber auf der
Grundlage dieser neuen Erkenntnisse über den nun einzig durch seine Biologie bestimmten
und damit auch zu bestimmenden Menschen. Traditionelle anthropologische Konzepte seien
damit unbrauchbar geworden.
2. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich II.
In Anknüpfung an die erste Aufgabe soll hier gezeigt werden, dass die Autoren des Manifests
den Entwurf eines monistischen und materialistischen Bildes vom Menschen unternehmen.
Dabei stützen sie sich auf die Ergebnisse ihrer naturwissenschaftlichen Forschung. Mehrere
Eckpunkte dieses Entwurfs lassen sich in dem Text finden, die sich in Hinsicht auf ihre
Konsequenzen fortschreiben lassen. Zum einen stellen die Autoren heraus, dass der Mensch
und sein menschliches Bewusstsein Ergebnisse biologischer Evolution sind und somit der
Selektion unterliegen. Also ist der Mensch einerseits vollständig determiniert und wird damit
andererseits auch vollständig naturwissenschaftlich beschreibbar und erklärbar, es gibt keinen
metaphysischen Rest in ihrem Entwurf. Der Mensch ist aber dadurch nicht nur in der Lage,
sich selbst restlos zu verstehen, sondern er enthebt sich auch zugleich seiner Selektion,
insofern er sich perfektionieren kann. Der Mensch ist grundsätzlich perfektibel. Das
ermöglicht eine Gestaltung menschlichen Lebens, die Unterschiede von krank und gesund,
Lust und Unlust, Wissen und Unwissenheit usw. aufhebt, wie die Autoren selbst anführen.
Menschliches Erleben würde optional, d. h. individuell verfügbar, gesellschaftliches
Zusammenleben steuerbar. Je nach Entwicklungsgeschwindigkeit der Forschung allerdings
erwächst mittelfristig zunächst eine Selektion von Menschen durch den Menschen selbst, bis
die Perfektibilisierung umfassend verwirklicht werden kann.
Es sollte in diesem Aufgabenteil ein möglichst konkretes Bild des Menschen aus dem Text
entwickelt werden, damit die folgende Erörterung und Beurteilung differenziert geleistet
werden kann. Dabei kann in Zweifel gezogen werden, ob die bisherigen Ergebnisse der
Autoren für ein neues Menschenbild überhaupt genügen.
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3. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich III.
Das von den Autoren des Manifests angedeutete Bild des Menschen kann man als
materialistische Perspektive nun in Bezug setzen zu den klassischen materialistischen
Konzepten, wie sie etwa von La Mettrie oder d’Holbach vertreten wurden. Es könnte gezeigt
werden, dass die Autoren diese Konzepte lediglich in Begriffen der Neurophysiologie
reformulieren und somit alte Hoffnungen erneuern.
Ergiebig ist ein Vergleich mit Arnold Gehlens These vom Menschen als eines Mängelwesens,
das sich aus Unangepasstheit und Unspezialisiertheit in der Natur eine Kultur als „zweite
Natur“ schafft und schaffen muss. Hier stellt sich auch die Frage nach der Identität des
Menschen, insofern sämtliche „Teile“ der Maschine Mensch ersetzt werden könnten.
Kritisch gegen die Autoren des Manifests lassen sich beinahe alle klassischen Positionen
fruchtbar zum Vergleich heranziehen, insbesondere der Leib-Seele-Dualismus von René
Descartes. Mythologische Schöpfungsmodelle, Aristoteles oder Kant (Vernunftbegabung),
Plessner (exzentrische Positionalität), Cassirer (animal symbolicum) oder auch Scheler
(Stufen des Organischen) räumen alle dem Menschen dabei eine Sonderrolle in der Natur ein,
die die Autoren des Manifests ihm nicht mehr gewähren mögen. Insofern kann hier sowohl
die Selbstzuschreibung des Menschen als freies Wesen thematisiert werden als auch die
Frage, inwiefern die modernen anthropologischen Konzepte tatsächlich noch dualistisch sind.
Die Sonderrolle bezieht sich dabei aber auch auf eine menschliche Selbstinterpretation als
bewusstes Lebewesen, die sich seitens der Hirnforschung als Illusion eines Ichs (Kino im
Kopf) erweist. Hier ist fraglich, welchen evolutionären Vorteil jene Freiheitsillusion des
Bewusstseins haben sollte. Sinnvoll ist auch deshalb eine Fokussierung des Vergleichs auf
den Aspekt des Erlebens, wobei in Frage steht, inwiefern der Dualismus in einem neuen
materialistischen Menschenbild wirklich aufgehoben wird und ob Bewusstsein als bloßes
Epiphänomen hinreichend erklärt ist, ob sich also Ich- und Er-Perspektive oder − in Hinsicht
auf das Problem des Determinismus − Handlungsgründe und Verhaltensursachen aufeinander
reduzieren lassen. Möglich ist aber ebenso ein Vergleich mit Hobbes oder Rousseau. Dabei
würde sich der alte Gegensatz zwischen diesen beiden Antipoden insofern auflösen, als dass
gerade auf der Ebene der Verhaltenssteuerung des Menschen die Änderungen möglich wären,
die die verschiedenen Ausgangsannahmen obsolet machen.
Deutlich werden sollte in dieser Aufgabe vor allem der Gegensatz von Dualismus und reinem
Materialismus und geklärt werden, inwieweit diese Extreme sich bestimmten Konzepten
zuordnen lassen.
4. Die Aufgabe entspricht im Wesentlichen dem EPA-Anforderungsbereich III.
Ziel dieser Aufgabe ist es, durch einen Transfer in eine wertende Textgattung die
Auseinandersetzung von Aufgabe 3 in eine Beurteilung zu führen. Dabei lässt sich von
Aufgabe 2 ausgehend der von der Hirnforschung erwünschte Dialog zwischen Natur- und
Kulturwissenschaften nur sehr eingeschränkt denken. Die Naturalisierung des menschlichen
Selbstverständnisses bestreitet ja gerade die Fundierung des Menschenbildes in einer
geisteswissenschaftlichen Forschung und deren These einer Sonderstellung. Die Autoren
bleiben hier allerdings ambivalent: das neue Menschenbild soll einerseits erst im Dialog
entwickelt werden, ist aber andererseits bereits festgelegt. Immanente Widersprüche zeigen
sich auch in der Frage, ob sie vom Primat der biologischen Determination ausgehen oder ob
das erst ein Ergebnis weiterer Forschung sein kann. Aufgezeigt werden könnte, dass die
Naturalisierung des Menschenbildes selbst die Sonderstellung des erkennenden Menschen
voraussetzt, die sie zugleich bestreitet, indem Naturwissenschaft auch immer
Geisteswissenschaft ist. Hier kann auf transzendentale Konzepte (etwa Kant) zur
zurückgegriffen werden. Ein Dialog zwischen Geistes- und Naturwissenschaft ist also
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gleichwohl nötig. Er könnte auch ergeben, dass die Hirnforschung gerade den Dualismus, den
sie fälschlich der modernen Philosophie unterstellt, selbst als Gegensatz von Körper und
Gehirn restituiert, indem sie das Denken, Fühlen usw. allein im Gehirn verortet.
Andere sinnvolle Ausführungen des Prüflings können Teile des Erwartungshorizonts ersetzen.
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