Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie - ein multi- und interdisziplinäres Projekt Fred Karl Erschienen in: Karl, Fred (2003) (Hrg.): Sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie. Alter und Altern als gesellschaftliches Problem und individuelles Thema. Weinheim/München: Juventa, S. 7-18 Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der individuellen Thematik „Altern“ und den gesellschaftlichen Bedingungen und Folgen der demographischen Revolution inklusive der Ausweitung der Lebensphase „Alter“ muss sich unvermeidlich multidimensional vollziehen. Es existiert kaum ein anderes Gebiet der Humanwissenschaften, „das von so vielen Seiten zugänglich ist und so viele Facetten unseres Lebens berührt“ (Baltes & Mittelstraß, 1992, S. VII). Entsprechend sind viele Fachgebiete als Grunddisziplinen1 an der Analyse dieser Gegenstandsbereiche beteiligt. Welches große Feld die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie (viele Autoren bezeichnen sie komprimiert als Soziale Gerontologie) umfasst, wird in folgender Terrainbeschreibung sichtbar: „Zu den für die Sozial-Gerontologie relevanten Disziplinen zählen: Psychologie, Soziologie, Sozialpolitik, Politologie, Arbeitswissenschaft, Sozialund Arbeitsmedizin, Pädagogik/Erwachsenenbildung, Architektur und Städteplanung, Sozialgeographie, Wirtschaftswissenschaften (Volks- und Betriebswirtschaftslehre), Rechtswissenschaften, Sportwissenschaften, Sozialgeschichte, Ethnologie und Anthropologie, Sozialdemographie. Die Aufzählung ist nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden“ (Lehr, 1987, S. 7). Diese multidisziplinäre Breite der Gerontologie spiegelt auch das Disziplinen-Kapitel eines der aktuellen Handbücher zur Sozialen Gerontologie (Jansen, Karl, Radebold & Schmitz-Scherzer, 1999) wider. Dort war den Autoren von über 20 Disziplinen2 die Aufgabe gestellt, die jeweilige Einzelwissenschaft mit ihren Hauptfragestellungen und theoretischen Ansätzen sowie Anwendungsbezügen herauszuarbeiten. Die Autoren lösten diese Aufgabe äußerst unterschiedlich und verdeutlichten damit die Vielfalt an Herangehensweisen an den gegenseitigen Austausch. Multidisziplinäre Brüche sollten eben nicht geglättet, sondern als ein Charakteristikum der Quer- und Längsschnittdisziplin Gerontologie sichtbar und damit fruchtbar gemacht werden (Karl, 2002b). Durch diese Vielfalt an perspektivischen Beiträgen könnte es so aussehen, als würden Soziologie und Psychologie auf eine Ebene mit wissenschaftsgeschichtlich „jüngeren“ Fächern gestellt und damit marginalisiert. Mit Fug und Recht kann man jedoch beide Einzelwissenschaften als die beiden zentralen Bausteine der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie ansehen, wobei diese Namensgebung nicht zu dem Fehlschluss führen sollte, dass das Sozialwissenschaftliche primär für die Soziologie und das Verhaltenswissenschaftliche ausschließlich für die Psychologie stehe: Es soll hier nicht unbedarft von „Mutter-“ oder „Vaterdisziplinen“ die Rede sein, weil mit dieser Wortwahl geschlechtsspezifische Konnotationen und solche familiärer und generationenbezogener Weitergabe- und Ablöseprozesse verbunden wären. Eher geht es im Rahmen von Multi- und Interdisziplinarität um polygame „Partnerschaftsbeziehungen“ zwischen Einzeldisziplinen, deren Gegenstandsbezüge sich überschneiden. 2 Philosophie, Sozialanthropologie, Alltagsgeschichte, Demographie, Haushaltswissenschaften, Sozialökonomie, Sozialpolitikwissenschaften, Rechtswissenschaften, Sozialmedizin, Altersmedizin, Gerontopsychiatrie, Gerontopsychosomatik, Psychoanalyse, Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaften und Pädagogik, Sozialarbeitswissenschaft/ Sozialpädagogik, Thanatologie, Theologie 1 a) Sofern die Psychologie sich nicht ausschließlich naturwissenschaftlich-experimentellen LaborMaßstäben unterwirft und damit Gefahr läuft, die besondere Qualität menschlicher und zwischenmenschlicher Aktivität, Interaktion und Selbstreflexivität zu verfehlen (Kaiser, in diesem Band), gehört sie selbstverständlich zu den Sozialwissenschaften und muss nicht extra genannt werden. b) Die Analyse des Verhaltens ist auch Gegenstand der Soziologie und nicht der Psychologie vorbehalten. Der Soziologie setzt sich darüber hinaus mit dem Zusammenhang zwischen „Verhältnissen“ und „Verhalten“ in seiner dialektischen Wechselbeziehung auseinander. Eine akteurtheoretische Soziologie sieht dabei die Sozialestruktur als das Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens unterschiedlicher Akteure. Umgekehrt wird Handeln durch soziale Strukturen, institutionelle Ordnungen und ungleiche Ressourcenverteilungen geprägt (Schimank, 2000). Die explizite Nennung des „Verhaltenswissenschaftlichen“ hat sich in der historischen Entwicklung der „Social and behavioral sciences“ verfestigt (Kondratowitz, in diesem Band). Wissenschaftspolitische Fachgesellschaften und Sektionsgliederungen akademischer Kongresse verwenden diese Doppelbezeichnung. Sie ist dann bedenklich, wenn mit ihr ein reduzierter (behavioristischer) Verhaltensbegriff assoziiert wird. Unter handlungstheoretischer Perspektive ist die Hervorhebung des Verhaltens und Handelns jedoch zu begrüßen, macht sie doch deutlich, dass es die Menschen durch ihr tätiges Engagement und durch die kreative Nutzung von Handlungsspielräumen sind, die die im Diskurs der Zivilgesellschaft bemühte „Gestaltung des Sozialen“ (vgl. Karl, 1999b) mit Leben erfüllen. In den Sozialwissenschaften wird zwischen Verhalten und Handeln differenziert nach dem unterschiedlichen Bewusstseinsgrad in der Intentionalität (auf der subjektiven Ebene) und nach der Möglichkeit, durch Handeln die soziale und natürliche Umwelt (auf der strukturellen Ebene) zu verändern (vgl. Clemens, 1993, S. 68). Für das quer- und längsschnittliche Thema des Alterns und Alters lassen sich somit Soziologie und Psychologie nicht trennen. Bereits vor 25 Jahren hielt Rosenmayr (1976, S. 227) eine Scheidung zwischen Alterspsychologie und Alterssoziologie für weder möglich noch auch nötig. Die Disziplinen öffnen sich seit längerem zueinander, wenngleich noch große Potentiale für die nachhaltige Umsetzung der wechselseitigen Impulse brachliegen. Die Umsetzung dieses interdisziplinären Anspruchs setzt allerdings zuvor die Rekonstruktion der originären fächerspezifischen Perspektiven (Rosenmayr; Backes; Kruse et. al., in diesem Band) und ihrer Geschichte (Wahl, in diesem Band) voraus. Perspektiven der Soziologie und Psychologie des Alterns Die Soziologie des Alterns beschäftigt sich mit "individuellen und kollektiven, in der Zeit ablaufenden Prozessen/Übergängen/Veränderungen, die strukturell beeinflusst sind" (Tews, 1979, S. 121). Als spezifische soziologische Fragestellungen ergeben sich aus dieser prozessualen Sichtweise z.B. die Frage nach dem Wandel von Werten und Normen, nach kohortenspezifischen Entwicklungen, sozialer Ungleichheit und Gesellschafts- und Kulturvergleichen (Motel-Klingebiel, Tesch-Römer & Kondratowitz, in diesem Band). In dem Handbuchbeitrag „Soziologie“ (Clemens, 1999) wird eine Unterscheidung in eine Alterssoziologie (Analyse der sozialen Struktur der Gesellschaft als Voraussetzung für die Lebensverhältnisse und soziale Differenzierung älterer Menschen) und in eine Soziologie der Lebensalter (Altersgruppen, Altersphasen und Altersstrukturen) als Alternssoziologie vorgenommen (diese Aufteilung folgt der von Rosenmayr, 1991). Die Alternssoziologie verknüpft im Konzept der "Institutionalisierung des Lebenslaufs" (Kohli, 1985) die individuelle Lebenslauf- mit der sozialhistorischen Gesellschaftsperspektive. Schließlich werden im Forschungsbereich "Sozialstruktur des Lebensverlaufs" alternde Generationen kohortenvergleichend analysiert (Mayer, 1990). Hinsichtlich bereichsspezifischer Ansätze haben die in der Generationenforschung, Familiensoziologie, Sozialpolitik, Berufssoziologie, Geschlechter- und Biographieforschung erarbeiteten Befunde vielfältige Implikationen für das Altern als Prozess und ihren Lebenslagen (Backes, in diesem Band). Die Psychologie des Alterns umgreift ein breites Spektrum grundlagen- und anwendungsorientierter Forschung. Als ihre wesentlichen thematischen Bereiche werden in dem Handbuchbeitrag „Psychologie“ (Kruse, 1999) die kognitive Leistungsfähigkeit (Intelligenz, Wissen, Lernen, Gedächtnis und Informationsverarbeitung), die alltagspraktische Kompetenz (Gestaltung des Alltags, Selbstständigkeit im Alltag, Gestaltung sozialer Beziehungen, psychische Bewältigung und Verarbeitung von Belastungen), die Persönlichkeitsentwicklung (Eigenschaften, Kognitionen, Emotionen und Motivation, Identität und Selbstkonzept), das Altern in spezifischen Umwelten (Einflüsse des gesellschaftlichen Altersbildes, soziale Unterstützung, sozioökonomische Rahmenbedingungen, Gestaltung und Einfluss räumlicher Umwelten) sowie psychische, kognitive und alltagspraktische Störungen (Formen und Verläufe) genannt. Was die Bedeutung psychologischer Teildisziplinen für die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie betrifft, so ermöglichen die in der Allgemeinen Psychologie, der Differentiellen Psychologie, der Entwicklungspsychologie und Persönlichkeitspsychologie erarbeiteten Analyseinstrumente, Konstrukte und Wissensbestände vielfältige Aussagen für das Altern als Prozess (Kruse, Schmitt & Wachter, in diesem Band). Die Öffnung hin zur Soziologie wird deutlich in den Beiträgen der Sozialpsychologie und Ökologischen Psychologie. Vor allem trug und trägt die Entwicklungspsychologie zur sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie bei, sie bezieht sich auf die Analyse der Veränderung von Fähigkeiten und Fertigkeiten und auf die Formen der Auseinandersetzung mit Aufgaben und Anforderungen des Alterns. Viele der genannten Bereiche und Themen werden sowohl von der Soziologie als auch der Psychologie bearbeitet, wobei beide Disziplinen wechselseitige Berührungen erkennen und suchen. So steht der Ansatz des "Lebensverlaufs“ (Mayer 1998) in der Soziologie in einem engen inhaltlichen Bezug zum psychologischen Ansatz der „Lebensspanne“ (Lifespan developmental psychology; vgl. Baltes & Smith, 1999; Staudinger, 2001). Auch die Thematik der Altersgrenzen ist notwendigerweise sowohl aus soziologischer wie psychologischer Sicht dekonstruierbar (Kohli, in diesem Band; Wahl, in diesem Band). Schließlich ermöglichen die Bemühungen in der Soziologie hinsichtlich der Verschränkung quantitativer und qualitativer Methoden (Motel-Klingebiel & Kelle, 2002) als auch die in der Psychogerontologie hinsichtlich einer Verbindung ideographischen und nomothetischen Vorgehens (Thomae, 1987; Kruse & Schmitt, 1998) methodische Anknüpfungspunkte für ein kooperatives Herangehen beider Disziplinen an als regelhaft vermutete Strukturen und biographische Deutungen. Multi- und Interdisziplinarität Die Zusammenschau der vielen Perspektiven für eine „sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie“ wird in unterschiedlicher Art und Weise vorgenommen. Die Ansprüche reichen von multidisziplinärer wechselseitiger Öffnung bis hin zur inter- und transdisziplinären Integration (vgl. Karl, 1999, S. 27-30). Weil der Gegenstand des Alterns und Alters sich multidimensional präsentiert, müssen die Disziplinen, die sich dieses Themas annehmen, sich mit den Ansätzen und Fragestellungen anderer Wissenschaften auseinander setzen. Zwar stehen weiterhin die jeweiligen fachspezifischen Perspektiven, Wertentscheidungen und Zugänge im Vordergrund, jedoch ermöglicht Multidisziplinarität eine wechselseitige Öffnung. Auf dieser Stufe des Austauschs könnte man die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie als „multidisziplinären Forschungsverbund" (Kühnert & Niederfranke, 1993) bzw. als „projektorientierten Disziplinenverbund“ (M.M. Baltes, 1987) verstehen. Weiter greifen Zielsetzungen der Interdisziplinarität: Sie streben die „Integration“ als Zusammenführung der sich mit dem Altern befassenden Grunddisziplinen an. Während auf multidisziplinärer Ebene jede Disziplin die Altersphänomene nur von ihrer spezifischen Perspektive aus beschreibe, integriere – mit dem Ziel der praxisrelevanten Umsetzung (vgl. SIMA; Oswald et. al., in diesem Band) – "interdisziplinär gerontologisches Vorgehen ... indessen von Anfang an" (Thomae, Kruse & Olbrich, 1993, S. 2). „Erst jene Veröffentlichungen, in denen Ergebnisse verschiedener Disziplinen aufeinander bezogen, integriert und im Kontext verschiedener theoretischer Ansätze diskutiert und zur Beschreibung von Alternsformen herangezogen werden, verdienen die Charakterisierung als interdisziplinär. (...) Die Analyse eines Phänomens im theoretischen Kontext und mit den Untersuchungsmethoden verschiedener Disziplinen sowie der Versuch, Zusammenhänge zwischen Alternsprozessen in verschiedenen Dimensionen zu finden, bleibt eine Voraussetzung für die Entwicklung interdisziplinärer Theorien des Alters" (ebd., S. 3 und 4). Im folgenden soll dieses Möglichkeitsfeld sozial- und verhaltenswissenschaftlicher Kooperation am Beispiel gerontologischer Lehrbücher (Prahl & Schroter, 1996; Backes & Clemens, 1998; Lehr, 2000) und Forschungsprojekte (BOLSA, ILSE, BASE, Alterssurvey, OASIS) aufgezeigt werden. Die Beiträge in dem vorliegenden Buch sind ein Versuch, diesen graduell variierenden Zielsetzungen gerecht zu werden. Öffnung der Disziplinen Nur eine wechselseitige Aufmerksamkeit und Vernetzung kann sicherstellen, dass neue Fragerichtungen, die sich häufig eher in den Einzeldisziplinen herausbilden, auch Beachtung finden und in die jeweilige Disziplin zurückwirken (Wahl 2002b, S. 16). Tatsächlich formulieren die sich mit Altern und Alter beschäftigenden Vertreter aus der Psychologie und Soziologie den Anspruch, sich weiteren disziplinären Sichtweisen zu öffnen. (a) In einer Psychologie des Alterns sollten nach Lehr (2002, S. 30) die wichtigsten soziologischen und biologischen Alternstheorien als Grundlage und ständiges Hintergrundwissen präsent sein – dies schon aus Gründen der geschichtlichen Rekonstruktion, weil viele alternsbezogenen Konzepte und Theorien aus der Zusammenarbeit von Psychologen und Soziologen hervorgingen. Lehr (2002) weist u.a. darauf hin, dass die Kontinuitätstheorie zwar von einem Soziologen stammt, der diesen Ansatz aber vor allem mittels psychologischer Argumentation entwickelte. Außerdem sei in der Gerontologie das Konzept des „sozialen Netzwerks“ von US-Psychologen erarbeitet worden, das (neben weiteren in Europa entwickelten Netzwerkansätzen) vor allem in der Alterssoziologie Verwendung finde. (b) Die Soziologie als Gesellschaftswissenschaft sollte nach Prahl & Schroeter (1996, S. 26) die Resultate anderer Disziplinen aufnehmen und diese – als die gesellschaftliche, soziale und individuelle Ebene verbindende „selbstreflexive Wissenschaft“ – ideologiekritisch würdigen. Eine „Systematisierung grundsätzlichen Wissens schwerpunktmäßig aus einer bestimmten fachlichen Richtung: hier vor allem der Soziologie“ (Clemens, 2002, S. 36) zielen Backes & Clemens (1996) in ihrem Lehrbuch zur Sozialwissenschaftlichen Alternsforschung an. Was die Umsetzung der Ansprüche zur Perspektivenöffnung betrifft, so lassen die Inhaltsverzeichnisse der genannten Lehrbücher erkennen, dass diese Blickerweiterung auch tatsächlich versucht wird. So werden in der „Psychologie des Alterns“ auch gesellschaftliche und soziale Themen behandelt, in der „Soziologie des Alterns“ zusätzlich psychogerontologische Theorieansätze vorgestellt. Relativierend muss dabei aber bedacht werden, dass es sich dabei oft um eine eher selektiv-ergänzende und additive Hereinnahme von Theorien und Befunden anderer Disziplinen handelt, ohne dass die Auswahl inhaltlich begründet worden wäre. Keinesfalls darf diese partielle „Öffnung der Disziplinen“ dazu führen, dass z.B. Studierende Texte nicht mehr in ihren originalen Fassungen, sondern nur mehr gefiltert und aufbereitet lesen – eine solche Aneignung dürfte dann eine oberflächliche sein (vgl. Backes, in diesem Band) und gilt vice versa für alle Beteiligten. Auch auf der Ebene von zentralen sozialwissenschaftlichen Kategorien läßt sich an den verschiedensten Konstrukten (z.B. Kompetenz, Wohlbefinden, Lebens(ver)lauf) nachvollziehen, wie diese wechselseitige Öffnung vorgenommen wird und zu welchen Ergebnissen sie führt. Ein besonders lehrreiches Beispiel für die konzeptionelle Entwicklung eines seit dem 19. Jahrhunderts eingeführten Begriffs ist das der „Lebenslage“. Aus soziologischer Position wird dabei gegenüber einer „objektivistischen“ Verwendung in der Sozialpolitik auf dessen Potential zur Erfassung des Wechselbezugs objektiver und subjektiver Dimensionen der Lebenssituation verwiesen (Clemens 1994). Neuere Arbeiten zielen auf handlungstheoretische Vertiefungen und die Hereinnahme qualitativer Forschungsmethoden in das Lebenslagekonzept (Aner, 2002). Ausgehend von der Diagnose, dass sich die Alternssoziologie bisher nicht ausreichend um eine Mikrofundierung ihrer Strukturanalysen bemüht habe, versucht Schulz-Nieswandt (Schulz-Nieswandt, in diesem Band) eine sozial- und verhaltenswissenschaftliche Reformulierung des Lebenslagekonstrukts. Integration der Disziplinen Bei diesem weitergehenden Anspruch wird nach Möglichkeiten der Integration soziologischer, psychologischer sowie zusätzlicher disziplinärer Ansätze und Erkenntnisse gesucht. Innerhalb der Psychologie sei es „die ökologische Perspektive“, die ein gewisses integratives Potential habe, um die psychologischen Teildisziplinen zugunsten einer über die Fächergrenzen hinausgehenden Kooperation zu bereichern (Kruse, Schmitt & Wachter, in diesem Band). Über die Psychologie hinausgreifend, vertritt auch Wahl die Auffassung, dass die Ökologische Gerontologie zu einem Modellfeld für interdisziplinäres Arbeiten werden könnte oder bereits geworden ist, denn in diesem Feld existierten besondere Chancen, psychologische mit soziologischen und letztlich gesellschaftlichen Aspekten des Alterns zu verbinden (Wahl, 2002b, S. 15). Aus soziologischer Sicht wird gefragt, ob der in der Begrifflichkeit einer „Person-Umwelt-Relation“ verwendete Begriff der „Umwelt“ schon differenziert und weit reichend genug entwickelt ist (Karl, 2002a). Zwar sei die Rede von der räumlich-physikalischen und technologischen, sozialen, infrastrukturellen und institutionellen Umwelt, jedoch werde dieser Spannungsbogen in der konkreten psychogerontologischen Analyse auf die unmittelbare soziale und physikalische Umwelt verkürzt. In der Soziologie zielt der ökologische Ansatz (z.B. Brand, 1997; Huber, 2002) angesichts der Befürchtung, dass die ökonomische Globalisierung ihren Siegeszug auf Kosten der sozialen Substanz und des sozialen Kitts zwischen den Generationen führe, auf die Sicherung "sozialer Nachhaltigkeit". Dieser ökonomisch-gesellschaftliche Schlüsselbegriff beinhaltet zwingend eine Verknüpfung zur Verhaltensebene. Was sich die ökologische Soziologie für ihre Forschungsaktivitäten bereits vornimmt – angesichts des Krisenherde erzeugenden, weltweit ungleichen Ressourcen- und Energieverbrauchs die Untersuchung der Akzeptanz und faktischen Verbreitung von „nachhaltigen Lebensstilen“ zu forcieren (Wehling, 1997, S. 37) – könnte auch für die sozial- und verhaltenswissenschaftliche Gerontologie eine relevante Fragestellung sein. An diesem Beispiel des aktuellen und globalen Umwelt-Themas wird bereits deutlich, wie schwer die „Integration“ verschiedener einzelwissenschaftlicher Ansätze zu bewerkstelligen ist. Von besonderem Interesse dürfte daher sein, inwieweit es bei den formell in einem Team und informell zusammenarbeitenden Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen in den gerontologischen Längsschnittprojekten gelingt, wechselseitige Perspektivenübernahmen umzusetzen und integrierende Forschungsansätze herzustellen. Breit angelegte Forschungsprojekte gelten dann als interdisziplinär, wenn der vereinbarte Forschungsgegenstand durch ein und dieselbe Stichprobe definiert ist und die Interpretation und Bearbeitung der Daten gemeinsam von den beteiligten Forschern der unterschiedlichen Disziplinen vorgenommen wird (Busse, 1970, S. 8f.; Lehr, 1998, S. 54). Multi- und Interdisziplinarität in den großen gerontologischen Forschungsprojekten An den derzeitigen umfangreichen Forschungsprojekten, an denen deutschsprachige Alternswissenschaftler beteiligt sind, lassen sich die graduellen Unterschiede wechselseitiger Zusammenarbeit und integrierender Konzeptentwicklung überprüfen. In der ersten großen gerontologischen Longitudinaluntersuchung Deutschlands, der „Bonner Längsschnittstudie des Alterns“ (BOLSA; Fooken, in diesem Band) übernahm noch ein Fach pionierhaft die Rolle der Leitdisziplin für eine spezifische Ausrichtung der Fragestellungen und für die institutionelle Absicherung des Vorhabens. Die zeitlich über die Erhebungszeitpunkte in der Mitte der 60er bis Anfang der 80er Jahre hinausreichenden Auswertungen und Popularisierungen der BOLSA geschahen vornehmlich aus psychologischer Perspektive (vgl. Lehr & Thomae, 1987) – eine seltene Ausnahme stellt die Auswertung von BOLSA-Daten unter einem soziologischen Lebensstilkonzept von Tokarski (1989) dar. Ein weiteres Beispiel für die Dominanz einer Disziplin, die sich aber anderen Einzelwissenschaften und hierbei auch der Soziologie öffnet, bildet die "Interdisziplinäre Längsschnittstudie des Erwachsenenalters“ (ILSE; Martin et.al., 2000). Auch ihre theoretischen Leitlinien gründen primär in der Entwicklungspsychologie und der psychologischen Biografik. Zum Vergleich zweier historisch unterschiedlich gelagerter Geburtskohorten und zur Untersuchung der Wechselwirkungen zwischen epochalem Kontext und dem Verlauf individueller Entwicklung, wurde das Generationen- bzw. Kohortenmodell aus der strukturfunktionalistischen Soziologie aufgegriffen. In der Art und Weise der Datenauswertung und Interpretation der Ergebnisse ist dabei unverkennbar, dass dieses interdisziplinäre Bemühen auf der Basis der psychologischen Disziplin geschieht (Schmitt & Martin, in diesem Band). Bei der „Berliner Altersstudie“ entwickelten die vier als gleichberechtigt angesehenen Forschungseinheiten Psychologie, Soziologie/Sozialpolitik, Psychologie, Psychiatrie, Innere Medizin/Geriatrie gemeinsame theoretische Orientierungen (Differentielles Altern, Kontinuität und Diskontinuität im Alterns- und Lebensverlauf, Kapazitäts- und Handlungsreserven, Altern als systemisches Phänomen). Die überwiegende Anzahl der Einzelpublikationen ist als disziplinspezifisch einzuordnen, wobei in die Auswertungen auch die von anderen Fachgebieten definierten Variablen integriert wurden. In den BASE-Monographien (z.B. Mayer & Baltes, 1996) werden die wichtigsten zunächst disziplinär berichteten Forschungsergebnisse disziplinenübergreifend interpretiert. BASE ist dabei eine der wenigen Studien, die sich auf Leben und Altern Hochbetagter konzentriert und der es dabei gelingt, Teilnehmerheterogenität in der Stichprobe herzustellen (Smith & Delius, in diesem Band). Der „Alterssurvey“ umfasst mit der Untersuchung der „Zweiten Lebenshälfte“ auch die erwachsenen Kinder der heute Alten und Hochbetagten. Damit eröffnen sich nicht nur Analysen von Generationenbeziehungen, sondern durch die besondere Thematisierung von Statusübergängen im Längsschnitt auch Hinweise darauf, wie sich die Veränderung der Lebenssituation im mittleren Lebensalter, beim Übergang in den Ruhestand und der Antizipation des hohen Alters vollzieht und erlebt wird. In der ersten Welle des Alterssurvey wurde nebeneinander ein soziologischer (Kohli & Künemund, 2000) und ein psychologischer Ergebnisbericht (Dittmann-Kohli, Bode & Westerhof, 2001) vorgelegt. In der zweiten Welle will man durch die Bündelung soziologischer und entwicklungspsychologischer Theorien auf die zentralen Fragestellungen des gegenwärtigen gerontologischen Diskurses (Lebensqualität und Entwicklungsprozesse in der zweiten Lebenshälfte, Ungleichheiten im Lebenslauf sowie Generationenverhältnisse und Kohortenunterschiede) eingehen. Der Alterssurvey demonstriert, wie soziologische und psychologische Denktraditionen zusammengebracht und für eine Alterssozialberichterstattung im Längsschnitt umgesetzt werden können (Hoff, Tesch-Römer, Wurm & Engstler, in diesem Band). Die Lebensbedingungen der Älteren in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, setzen sich die Beteiligten der internationalen Studie OASIS zum Ziel. Diese Studie nimmt nicht nur Vergleiche zwischen Individuen und Subgruppen Älterer vor, sondern differenziert auch auf gesellschaftlicher Ebene nach Wohlfahrtsregimes und Versorgungssystemen – es geht um die Wechselwirkung intergenerationaler Familienbeziehungen einerseits und wohlfahrtsstaatlicher Dienstleistungsangebote andererseits. Die internationale Arbeitsgruppe vergleicht die objektiven Lebensbedingungen in den untersuchten europäischen Ländern, arbeitet aber vor allem die kulturell verschiedenen Familienpolitiken, Solidaritätsnormen sowie Mischformen zwischen wohlfahrtsstaatlichen und informellen Unterstützungsleistungen im Falle von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit heraus. Letztlich fokussiert OASIS auf die subjektiv wahrgenommene Lebensqualität (als subjektivem Wohlbefinden) mit Hinweis darauf, dass nicht die objektiven Bedingungen, sondern die subjektive Interpretation dieser Bedingungen „Realität“ konstituiert (Motel-Klingebiel, Tesch-Römer & Kondratowitz, in diesem Band). Anwendungsbezug und Interdisziplinarität In der Soziologie und Psychologie des Alterns stellt sich die Problematik der Anwendung und Anwendbarkeit in besonderer Hinsicht. Dies deswegen, weil Altern und Alter zu den Alltagserfahrungen und -diskursen der Menschen gehören und weil von einer Alternswissenschaft unmittelbar Beiträge zur Lösung der damit verbundenen Aufgaben und Probleme erwartet werden. Die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Praxis funktioniert allerdings nicht via direkter Mittel-Zweck-Beziehungen, deshalb ist statt Anwendung besser von Verwendung zu sprechen: die Nutzer „verwenden“ Wissenschaftswissen gemäß der eigenen Bedarfe und der mit den Bedürfnissen verbundenen Selektionsfilter. Diese Verwendung, Verwandlung und Transformation von Wissensbeständen zwischen Wissenschaft und Praxis (Karl, 2000) erfolgt z.B. in den Domänen der Politik und Medien, der professionellen Ausbildung und Fortbildung, der Qualitätssicherung in den Einrichtungen – und zwar in Kooperation und/oder Auseinandersetzung mit eigenständigen Verwendergruppen. Diese Gruppen verfügen selbst über mehr oder weniger Ressourcen der Aufnahme und Aufarbeitung oder gar der Erzeugung von wissenschaftlichem bzw. ErfahrungsWissen. Sie setzen dabei ihre jeweiligen Interpretationsspielräume ein. Umsetzung von Wissenschaft hat in diesem Prozeß auch mit Machtverhältnissen zu tun (Höpflinger, 2000). Die Verwendung wissenschaftlicher Ergebnisse läuft über mehrere Vermittlungsinstanzen und findet in verschiedenen Handlungskontexten statt (Kondratowitz, 1993; 2002) – für einen erfolgreichen Wissenstransfer ist deshalb der Aufbau gelingender, d.h. dialogischer Intermediärstrukturen entscheidend. Schon die elaborierte wissenschaftliche Methodik und Fachsprache erschwert eine direkte Vermittlung der differenzierten Ergebnisse, sie müssen übersetzt werden, wobei „Interventionsagenten“ (Wahl & Tesch-Römer, 2000, S. 7) eine Schlüsselrolle einnehmen. Dies sind im Bereich der Altenarbeit nicht zuletzt die wissenschaftlich ausgebildeten Berufsgruppen (von akademisch weitergebildeten Pflegeberufen über Sozialarbeiter und -pädagogen bis hin zu den Absolventen gerontologischer Aufbaustudiengänge), die sowohl einen direkten Praxisbezug als auch eine professionell geprägte Fachorientierung aufweisen und somit interessierte, aber auch kritische Multiplikatoren bzw. Mediatoren sind (vgl. Karl 2000, S. 19). Gerade in einem derart in Bewegung befindlichen Gegenstandsbereich wie dem der sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie, wo sich immer wieder theoretisch-konzeptionelle Modelle „kompetenten“ und „konstruktiven“ Alterns mit in der Öffentlichkeit so benannten Phänomenen der „Vergreisung“ und „Überalterung“ überlappen, ist Selbstreflexivität hinsichtlich der Grundannahmen heutiger Gerontologie und der verschiedenen Umsetzungsmaßnahmen erforderlich (vgl. Höpflinger, 2000, S. 210). Dies nicht zuletzt wegen der den Zielen der Interventionsgerontologie unvermeidlich inhärenten Normativität. Intervention ist ganz wesentlich mit Normen verbunden, deren Voraussetzungen (z.B. eine anhaltende Leistungsorientierung in den Ansätzen „erfolgreichen Alterns“ und aktivierender Altenpflege) sich die in diesem Feld beteiligten Akteure nicht immer bewußt machen. Um so wichtiger wird der Begründungszusammenhang in einer anwendungsbezogenen Soziologie und Psychologie des Alterns. Praktisch-methodische Intervention muss sich somit auf Theorie beziehen (Wahl, 2002a). Dieses theoretische Erfordernis verweist auf Interdisziplinarität, da sonst die multidimensionalen Aspekte im (Merkmale von Individuen und Gruppen und verschiedene Kontexte umschließenden) Bedingungszusammenhang nicht angemessen erfaßt werden können. Aus gutem Grunde erscheint dieser Band zur Sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Alternsforschung in der Reihe „Grundlagentexte Soziologie“, wird Altern und Alter doch immer mehr ein gesellschaftliches und individuelles Thema. Daher muss sich die Auseinandersetzung mit Altern und Alter der komplexen Verknüpfung von Makro- und Mikroaspekten stellen, gleich welcher Ausgangspunkt der Analyse gewählt wird, sei es einer, der von Individuen und kleineren Netzwerken, einer der von Milieus und Netzwerken oder von Regionen, Kulturen und Gesellschaften aus die Verschränkung zu Kontexten und Umwelten sucht. In der „sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Gerontologie“ verbinden sich die Soziologie und Psychologie des Alterns mit anderen Einzelwissenschaften. Literatur Aner, K. (2002): Übersituative Handlungslogiken und Lebenslagenkonzept. In: Karl, F. & S. Zank (Hrsg.): Zum Profil der Gerontologie. Kassel: Kasseler Gerontologische Schriften Bd. 30, S. 89-98 Backes, G.M. & W. Clemens (1998): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. Weinheim u. München: Juventa Backes, G.M. (1997): Alter(n) als ,gesellschaftliches Problem’? Zur Vergesellschaftung des Alter(n)s im Kontext der Modernisierung, Opladen: Westdeutscher Verlag Baltes, M.M. (1989): Forschung und Lehre in Psychologie und Sozialwissenschaften. In: Deutsche Gesellschaft für Gerontologie (Hrsg.): Stand und Zukunftsperspektiven der Gerontologie in der Bundesrepublik Deutschland: Forschung und Lehre. Lübeck: DGG, S. 61-74 Baltes, P.B. & M.M. Baltes (1992): Gerontologie: Begriff, Herausforderung und Brennpunkte. In: Baltes, P.B. & J. Mittelstraß (Hrsg.): Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung. Berlin/New York: de Gruyter, S. 1-34 Baltes, P.B. & J. Mittelstraß, J. (1992) (Hrsg.): Zukunft des Alterns und gesellschaftliche Entwicklung, Berlin: de Gruyter Baltes, P.B. & J. Smith (1999): Multilevel and systemic analyses of old age: Theoretical and empirical evidence for a Fourth Age. In: Bengtson, V.L. & K.W. Schaie (Hrsg.): Handbook of theories of aging. New York: Springer, S. 153-173 Brand, K.W. (1997) (Hrsg.): Nachhaltige Entwicklung – eine Herausforderung an die Soziologie. Opladen: Westdtsch. Verlag Busse, E.W. (1970): Administration of the interdisciplinary research team. In: Palmore, E. (Hrsg.): Normal Aging. Durham: Duke University Press, S. 7-17 Clemens, W. (1993): Soziologische Aspekte eines "Strukturwandels des Alters". In: Naegele, Tews (Hrsg.), S. 61-81. Clemens, W. 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