Erschießen will ich nicht!

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Deutschlandradio/DEUTSCHLANDFUNK
Hintergrund/Feature
Redaktion: Karin Beindorff
Sendung:
Dienstag, 3. Mai 2005
19.15 - 20.00 Uhr
"Erschießen will ich nicht!"
Das Kriegstagebuch des Hauptmanns Dr. August Töpperwien
(1939-1945)
Von Diethelm Blecking und Mathias Brand
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Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt
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geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
DeutschlandRadio
- unkorrigiertes Exemplar -
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Töpperwien:
Solingen, 3. September 1939.
Als ich heute Nachmittag in den Garten, der in sonntäglicher Stille lag, trat, erwartete
mich Nachbar Hillers, im gedämpften Gespräch mit Gretel. Ich erfuhr, dass der
Rundfunk die Kriegserklärung Englands durchgegeben hat! Es war furchtbar, als der
Satz im Schweigen verhallte.
Es ist alles ganz anders mit mir als vor 25 Jahren!
Mir unbegreiflich, dass die meisten Menschen glaubten, England und Frankreich würden
sich wohl aus der polnischen Sache 'draushalten'. Ist es nicht ein gefährliches Zeichen,
dass viele Deutsche so ungehemmt niedrig vom Gegner denken?
Ich habe mich gestern beim Wehrbezirkskommando zur Ableistung jedes Dienstes,
auch unter meiner Kriegscharge, gemeldet.
Sprecherin:
August Töpperwien (Jahrgang 1892) lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in Solingen
und arbeitete dort als Gymnasiallehrer für Englisch und Französisch. Im Ersten
Weltkrieg hatte er sich freiwillig zur Armee gemeldet. Vom 3. September 1939 bis zum
6. Mai 1945 führte er ein Tagebuch, vermutlich für seinen Sohn Karl Christoph.
Töpperwien:
Solingen, 4.9.39.
Frankreich erklärt uns den Krieg. Haben heute Luftschutzkeller und Verdunklung fertig
gemacht. Mussolini? Wird er die Sache zum Halt bringen? ... Wenn der Weltbrand sich
entzünden sollte, es wird ein düsteres Geschäft werden...
Weltfeind ist England. Russland ist unser 'Freund’ über Nacht geworden.
Ich suche nach Klarheit und Festigkeit, besonders in E. Hirschs Predigten. Für meinen
Religionsunterricht auf der Prima habe ich mir eine Stellungnahme zu dem Wort 'Gott
mit uns’ überlegt.
Sprecherin:
Am 23. August 1939 wurde zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion ein
Nichtangriffs-Pakt geschlossen, der Hitler-Stalin-Pakt, der Geheimabsprachen zur
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Aufteilung Polens enthielt.
Töpperwien:
5. September '39.
Das Bewusstsein, dass nach unserem Russenpakt buchstäblich alles möglich ist, ist
furchtbar beklemmend. Adolf Hitlers Kampf gegen Polen und England wird skrupellos
total sein: totaler Einsatz aller Machtmittel, totale Verunehrung der Gegner. Aber ist
Adolf Hitlers totaler Kampf nichts anderes als die 'Gewalt', die nach Luther das Wesen
des irdischen Reiches sein soll? Ist es Dämonie?
7. September '39.
Ich war heute am Krankenbett eines Schülervaters, Vater von fünf Kindern; nach einem
Blutsturz vor Jahren jetzt wieder hohes Lungenfieber. Der Mann ist überzeugter Christ.
Er sagte mir: "Wir Christen haben vom nationalsozialistischen Staate nichts zu
erwarten!"
Es wird in diesen Tagen von neuem klar, welches wahrhaft unerhörten, sich immer noch
steigernden Maßes an Leidenschaft, Selbstvertrauen, Behauptungswillen, Mut, aber
auch an Kaltblütigkeit und Klugheit der Führer fähig ist. Dieser Mann ist nach meinem
Gewissen verschlossen gegen Christus. Zwischen diesen beiden Tatsachen stehen wir!
11. September '39.
Der Heeresbericht gibt zu, dass die Polen – angesichts einer verzweifelten Lage – zäh
kämpfen. Ich kann es wenden, wie ich will, es bleibt für mein Gewissen dabei: Des
Führers letztes Ziel war von Anfang an, Polen unter seine Verfügung zu bringen. Aber
das polnische Volk zog dieser Knechtschaft den schweren Kampf um seine Freiheit vor.
Göring hat gestern in seinem Appell heftig über die Polen gehöhnt, ja gewitzelt. Mich
erschüttert das, und ich kann nicht anders als wünschen: Möchte es den Polen gegeben
sein, in Ehre zu stehen bis zum bitteren Ende.
13. September '39.
Die Erfolge des Führers sind in diesen Tagen gewaltig. Aber lassen wir nicht unser
Gewissen trüben: Ein Volk wird von uns unterjocht, und den entscheidenden Teil der
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Erfolge verdanken wir dem Hand-in-Hand-Gehen mit den bolschewistischen
'Bluthunden' (so hießen sie noch gestern). Was können wir heute wieder lernen über
das Wesen geschichtlichen Handelns!
16. September.
So glaube ich, gebe ich dem Führer, was des Führers ist, und Christus, was Christus'
ist. Ich kann nicht sagen: Er ist ein Dämon; ich muss sagen: Er ist ein Mann Gottes.
30. September 1939.
So geht der Führer mit seinen Feinden um: Ist der politische Widerstand als gering zu
erachten: Konzentrationslager (Pfarrer Niemöller), ist er als bedeutsam zu erachten:
Absetzung mit 'hohen Ehren' (von [General] Fritsch: Entlassung, à la suite eines
Regiments, Staatsbegräbnis – ohne Führer –).
Sprecherin:
Ende Mai 1940 siegt die deutsche Wehrmacht in Frankreich gegen französische und
englische Truppen.
Töpperwien:
27. Mai 1940.
Der militärische und innere Zusammenbruch der Demokratien ist ungeahnt erschütternd.
Es zerbricht eine morsche Welt. Riesenhaft steigt die Gestalt des Führers empor! Wie
ängstigt uns, dass er Christus nicht will!
Sprecherin:
Juli 1940. August Töpperwien wurde zur Wehrmacht eingezogen und Kommandant
eines Kriegsgefangenenlagers im sauerländischen Warburg.
Töpperwien:
Warburg, 28. Juli 1940, nachts.
Ich tue in diesen Tagen alles, um für meine Aufgabe wohl gerüstet zu sein. Aber es fehlt
mir an der inneren Sicherheit, um in rechter Fröhlichkeit meine Sache zu machen. Es
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fällt mir nicht leicht, mit den Herren der Kommandantur in das Verhältnis
ungezwungener Kameradschaft zu kommen - ich bin anders als sie alle, eine Erfahrung,
die ich ja oft machen muss. Gebe Gott, dass ich meinen Mann stehe!
Offizierslager VI B, Warburg, 18. September '40.
Man macht mir vielfach den Vorwurf, ich sei zu "gutmütig" gegen die Gefangenen. Der
Vorwurf beschäftigt mich sehr!
Warburg, 20. Februar 1941.
Der Frühling naht! Und mit ihm ein blutiges Geschick: ein Vernichten und Morden, wie
es unsere Geschichte, auf so kurzem Zeitraum zusammengedrängt, wohl noch nicht
erlebt hat.
9. April.
Herrlicher Sonnenschein über den schimmernden Saatfeldern - auf dem Balkan ein
Meer des Hasses, Blutes und der Tränen. Welche Karfreitags-, welche Osterpredigt!
Heute fahren Gretel, die Kinder und Anneliese für die Osterferien nach Schwalefeld bei
Willingen (Sauerland). Ich gedenke Pfarrer Niemöllers im Konzentrationslager.
Oflag VI B, 22.6.41.
Krieg mit Russland... Die Propaganda über Nacht um 180 Grad gedreht. Wieviele
glauben der Propaganda? Der Massenmensch! Erschütternd. Schicksalstag! Jetzt
haben wir Weltkrieg. Amerika.- Die Treue zum Volk über alles!
Gretel und die Kinder unter zunehmenden Nachtangriffen und wir hier so in Sicherheit.
Man möchte nach vorn!
Altenau / Oberharz, 9. August 1941.
Eine wahrhaft wohltuende Wirkung des Krieges: keine Autos. Gestern bei Tisch große
Siegesnachrichten aus dem Osten. Wer in der Welt freut sich der deutschen Siege
außer wir selber? Der Russe, der zäheste unserer Gegner in der Landschlacht. Welche
Ströme von Blut, welches Meer von Hass. Es ist schön, für andere Menschen da sein zu
können, selbst für den Feind.
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Lager Warburg, 4. November 1941.
Vor einigen Tagen drei Engländer beim Buddeln eines Tunnels entdeckt. Gestern
Versuch von vier Engländern, als Handwerker verkleidet zu entkommen. - Elende
Schwierigkeiten bei der Materialbeschaffung für geistige Betreuung. Heute Abend
großer Ärger. Der Abwehroffizier hatte befohlen, nach Appell ein Schriftstück zu
verlesen, in dem englische Offiziere als Halunken und Diebe bezeichnet wurden.
Wirkung entsprechend. Da ich Gefahr für im Verzuge halte, bin ich auf eigene
Verantwortung nachher noch einmal ins Lager gegangen und habe Lagerältesten und
meinen Bat.- und Kompanieoffizieren erklärt, dass dieses Schriftstück 1) nicht meine
Meinung ist, 2) dass die Anordnung wahrscheinlich auf einem Missverständnis beruhte
und dass ich 3) dem Kommandanten sofort Meldung machen würde. Der Abwehroffizier
ein Mann ohne jedes innere Feingefühl und psychologisches Taktempfinden.
1. Advent 1941.
Heute meine erste Bekanntschaft mit den Russen! Wir kriegen gegen Abend russisches
Arbeitskommando von etwa 200 Leuten. Als ich abends von Warburg heimkam, fand ich
einen Russen sterbend auf der Straße, ein zweiter schwankte zwischen zwei anderen
dahin, ein dritter war schon tot im Bahnhof Warburg zurückgelassen worden. Hunger!
Und dabei sind dies schon Leute, die einige Wochen "aufgepäppelt" wurden. Russland welches unergründliche Grauen!
Sprecherin:
Von 5,7 Millionen gefangenen russischen Soldaten starben zwischen 2,5 und 3,3
Millionen in deutscher Gefangenschaft.
Töpperwien
5. Dezember '41.
Russenelend jetzt unter unseren Augen: 200 Mann Arbeitskommando. Augenblicklich
liegen 70 an "Ruhrverdacht". Kein Arzt kümmert sich um sie. Nur jüdische Ärzte
zugelassen! Bei Tod Entkleidung, Einhüllung in einen Papiersack, Beerdigung ohne jede
geistliche Handlung auf dem Judenfriedhof in Ossendorf. Auf mein Zureden genehmigt
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Kommandant Verteilung von 30.000 Zigaretten, ein Geschenk der Engländer an die
Russen. Russen erhalten zusätzlich das bei uns und den Engländern Erübrigte. Die
reichlichere Nahrung vertragen einzelne nicht und sterben daran!
Sprecherin:
Ende des Jahres 1941 meldet sich August Töpperwien an die Ostfront.
Töpperwien:
Solingen, 27. Dezember 1941.
Der Führer hat Brauchitsch [den Oberbefehlshaber des Heeres] abgesetzt und den
Posten selbst übernommen!!
Der Schritt hat zweifellos phänomenale Bedeutung: vom preußischen Soldaten weg zum
SS-Mann! Erster Schritt: Absetzung von Fritsch. Der 'preußische' Soldat hat im Osten
versagt; wir brauchen 'härtere' Soldaten! Haben wir die Grenze, die der Mensch nicht
überschreiten darf, hinter uns getan?! Berichte von furchtbaren Vergeltungsakten der
SS.
Dortmund, Samstag 18. April 1942.
Nachmittags Gang durch die Arbeiterviertel nördlich des Hauptbahnhofs und in der
Unionstadt. Viele Kinder auf der Straße, kaum ein sichtlich degeneriertes Kind darunter
(die Auswirkung unserer Säuglingsabtötung?).
Dortmund, 6.5.42.
Versetzung nach Dulag 155 in Orscha bei Smolensk (als Leiter der Gruppe
Arbeitseinsatz). Ich bin glücklich!
Brest-Litowsk, 14. Mai 1942.
Am 13.5. morgens 7.46 Uhr Abfahrt von Dortmund nach Orscha. Etwa 2000 km!
Zusammen mit Oberleutnant Bongartz vom Stammlager VI D und Oberleutnant Kauffelt
vom Stammlager VI C. Spätnachmittags bei Frankfurt über die Oder. Herrlicher Blick auf
die welligen, mit Laubwald bestandenen Ufer. Dicht dabei Kunersdorf. Ich höre vom
neuen Sieg auf der Halbinsel Kertsch in dem Augenblick, wo der Zug dicht nach der
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Oder durch den Bahnhof des Dörfchens Kunersdorf fährt.
Das empfand ich als meine Einfahrt in den deutschen Schicksalsraum des Ostens! Ich
bin feierlich ergriffen und glücklich, dass ich nun in diesem Osten – wenn auch an noch
so bescheidenem Platze – eingesetzt werden soll. Wäre ich doch den an mich
herantretenden Aufgaben voll gewachsen!
In der Dämmerung über die deutsch-polnische Grenze von 1939. Sogleich starkes
Hervortreten der alten noch Stroh gedeckten Bauernhäuser.
Die Vorstadt von Posen bietet das wahrhaft erschütternde Bild polnischer Unfähigkeit
und Lässigkeit: wilde Bauerei ohne jede erkennbare Planung, grauenhafte
Flachdachkasernen, wüste Ödlandstreifen dazwischen, Elendsbaracken. Bei
hereinbrechender Morgendämmerung durch Warschau: die Weichsel ohne jede
Uferregulierung; in Warschau-Ost denselben üblen Eindruck wie in Posen-West von der
Unfähigkeit der Polen. Völlig extensive Kultur überall, wo wir durch Polen fahren. Die
Bauernhäuser in scheinbar wahllosen Streusiedlungen; meist arme Strohhütten. Weithin
fast ebenso viel Ödland wie Kulturboden.
Brest-Litowsk heute morgen 9.15 Uhr.
Überraschend schnelle Fahrt bis jetzt. Morgen früh 3 Uhr weiter nach Orscha (über
Minsk); Fahrdauer unsicher. Nachtquartier im Krakauer Hof. Brest-Litowsk typische
Oststadt, wie ich sie aus Bildern kenne.
Wiederum starker Verfall aller Wohnhäuser. Nur ein paar moderne Bauten in der
Regierungsstraße, weniger hässlich, als wie ich sonst an derartigem in Polen bisher
sah. Wie weit ist dieser Verfall hier auch den Polen zuzuschreiben? In welchem Zustand
kam die Stadt 1919 an Polen aus russischer Hand? Im Gottesdienst der großen
griechisch-katholischen Kirche. Ein auffallend hoher Prozentsatz wesentlich nordischer
(also nicht ostisch-baltischer) Typen, die man – abgesehen von der Kleidung – für
Deutsche halten könnte. Markt: Welche kümmerlichen Scharteken (Althandel) werden
angeboten. Kaum Esswaren (darunter wilder Sauerampfer).
Judenghetto hinter Stacheldraht um die – noch nicht zerstörte, aber geschlossene und
zerfallende große Synagoge.
Dieses ganze Land – unentwickelt und verloddert – wartet auf einen Herrn! Das ist mein
wesentlicher Eindruck! Das Bewusstsein der großen geschichtlichen Stunde ergreift
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mich wahrhaft.
Gussino (Russland), 19. Mai 1942.
Die Menschen hier (meist Weiber u. Kinder) scheinen ihr Unglück mit einer uns
unfasslichen Gelassenheit zu ertragen. In ihren Augen ist weder Hass noch
Verzweiflung. Es ist die Gelassenheit eines Menschenschlages, der vom Leben nicht
viel erwartete, insbesondere nicht die Lebensgier des Westeuropäers kennt. So
scheinen diese Menschen auch den Bolschewismus nicht gehasst zu haben. Sie haben
ihn hingenommen wie alle andere Not ihres harten Lebens. Es ist nur eine andere Welt
als die unsere. Was werden wir aus ihr machen?
24. Juni '42.
Einzelne reguläre Truppenverbände der Russen sind offenbar im Norden
durchgebrochen: die Regsamkeit der Partisanen wird immer lebhafter. In einem Dorf der
unmittelbaren Nähe von Gussino wurde ein Landeseinwohner tot aufgefunden; er trug
ein Plakat: Wer uns verrät, dem ergeht es so.
Neuer Abmarsch-Befehl: Wir sollen am 28. und 29. Juni in zwei Teilen abtransportiert
werden nach Kursk.
Kommandant wird immer schwieriger zu behandeln, für alle Offiziere!
In unserem Dorf wurden 300 Juden erschossen. Beide Geschlechter, alle Alter. Die
Leute mussten ihre Oberbekleidung ablegen (offenbar sollte sie verteilt werden unter die
übrigen Bewohner des Dorfes) und wurden durch Pistolenschüsse umgelegt.
Massengräber auf dem hiesigen Judenfriedhof.
Tjapkin (Russland), 6. August 1942.
Seit 3.8. abkommandiert als Kommandant einer Armee-Gefangenen-Sammelstelle. Nur
wenig Leute zur Verfügung. LKW kaputtgefahren. Äußerst schwierige Arbeit, vor allem
Leerkolonnen herzuleiten, um die Gefangenen abzusetzen (nach Durchgangslager
Schachty). Lager liegt nicht an Hauptverkehrsstrang! Zur Zeit etwa 4.000 Gefangene.
10. August '42.
Soeben "schärfste Missbilligung" durch Kradmelder von Oberstleutnant und dem
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Kommandanten des rückwärtigen Armeegebietes, dass ich restlichen Zustrom der
Gefangenen. (3.600) aufgenommen, anstatt Bude am 9.8. kurzerhand zuzumachen (und
3.600 Kriegsgefangene in einer völlig wasserarmen Gegend auf 80 km in Marsch zu
setzen, was für viele den Tod bedeutet hätte!), bloß um sich Arbeit vom Halse zu halten.
Ganz ruhiges Gewissen: ganz sinngemäß dem Befehl des Oberquartiermeisters der
Armee gehandelt: "Das Lager zu schließen, sobald die im Lager und im Anmarsch auf
das Lager befindlichen Kriegsgefangenen abtransportiert sind." Ich habe meinen
Ehrgeiz darin gesetzt, die Leerkolonnen für die letzten 3.600 Kriegsgefangenen
schnellstens zu beschaffen. Viel Arbeit (Fahrten im Wagen und auf Krad) – sehr müde.–
Dauernd stärkste Hitze (um 45 C.).
14. August '42.
Vorgestern in Tjapkin. Oberstleutnant zunächst aufbrausend, dann sachlich: "Sie haben
logisch richtig gehandelt." Abschied mit Händedruck! Er schickt mir von dort aus
Kolonnen, um restliche 1.000 abzutransportieren. (Für die übrigen 2.600 hatte ich selbst
schon Leerraum gefunden). Oberstleutnant sichtlich erleichtert! Er begriff den Wahnsinn,
3.600 durch die Wüste zu schicken und hatte mir einen Zwischenbefehl zugehen lassen,
wonach ich zu melden hätte, wie ich marschierte, wo rastete, welche Kochmöglichkeiten
hätte! (Angst!) Befehl war nicht mit Schreibmaschine geschrieben. Oberstleutnant
genierte sich offenbar, Schreiber dies Angstprodukt sehen zu lassen!
Ich bin sehr befreit! Mein festes Verhalten hat Oberstleutnant offenbar überrascht und
imponiert!
Russland, 16. August '42.
Ich sitze seit heute morgen an der Ost-West-Rollbahn, die von Stalingrad nach Westen
führt. Ich habe einen Teil meiner Gefangenen aus dem Sammellager an die große
Rollbahn geführt, die von Stalingrad nach Westen führt, da ich die Kerle sonst nicht
loswerde. Vor Stalingrad offenbar verlustreiche Kämpfe: alle Leerkolonnen von dort
beladen mit Verwundeten. Eben 150 Leute losgeworden: einsichtiger Unteroffizier, der
sofort willig meinem Befehl zur Verladung nachkam. Solche Leute werden jetzt schon
spürbar seltener!! Den Rest der Gefangenen danach in ein Melonen-Kürbisfeld geführt:
ich will die Leute so gut behandeln, wie die Kriegsgesetze es zulassen.
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Zymljanskaja (Russland), 13. September '42. Sonntag
Stunden des Heimwehs. Ich gehe abends gern einen Hügel hinab, der auf unser Dorf
hinunter führt. Weiter Blick in die Steppe, die Öde verklärt durch die schönen
Pastellfarben der dämmernden Steppe und des unteren Himmels. Allein. Die flache
Erde verschwindet den Blicken, der Himmel ist alles: ich kann entfliehen. - Von den
Kindern liebe Briefe.
17. September.
4. Panzerarmee meldet von den Kämpfen von Stalingrad am 12.9.42: "Der Gegner
verteidigt jeden Fußbreit Bodens und jedes Haus mit äußerster Erbitterung. Es ist ein
Kampf, wie ihn die hier eingesetzte Truppe in diesem Kriege bisher noch nicht erlebt
hat."
Der Zufall ergab ein kurzes, aufrichtiges Wort des gegenseitigen ehrlichen
Verstehenwollens zwischen mir und Oberstleutnant; ich bin erfreut.
18.9.
Gestern mit Wagenkolonne wieder Bauholz geholt, diesmal aus Popow. Abbruch eines
stattlichen, noch gut erhaltenen Hauses. Russisches Schicksal. Während wir abreißen,
nähert sich zögernd ein alter Mann auf Krücken mit einer jungen Frau. Sie sehen eine
Weile unserem Geschäft zu. Dann bittet der Bauer um zwei der abgerissenen Balken.
Dabei erfahre ich: Das Haus gehörte dem Vater der Frau. Er wurde als Kulak nach dem
Ural verbannt, mit ihm sein Schwiegersohn, der Mann der Frau. Der Kulak ist in der
Fremde verstorben, von dem Mann ist keine Nachricht weiter gekommen. Die Frau
musste das Haus ihres Vaters verlassen, das der Kolchose übergeben wurde. Die
Balken sollen benutzt werden zum Ausbessern einer ärmlichen Kate, in die man die
Frau nach der Verbannung von Vater und Mann verwiesen hat.
24. September '42.
Wir Christen werden Fremdlinge im 'neuen' Deutschland! - Vor einer halben Stunde ging
die Sonne so majestätisch über dem Steppenhorizont und dem Wirrwarr der Welt auf.
'Gott sitzt im Regiment und führt alles wohl!' Wir müssen immer mehr glauben lernen,
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ins Unsichtbare hinein!
6. Oktober '42.
Heut Abend bei mir eine hübsche halb-städtische 18-Jährige aus Nikolajewskaja! Tritt
ein, ohne zu fragen. Setzt sich lächelnd auf die Truhe in meiner Stube. Ich rufe den
Periwoitschek: Sie suche ihren Vater im Lager; ich verspreche ihr, nachfragen zu
lassen, aber ihr Vater sei wahrscheinlich schon unter den Abtransportierten nach
Morosowskaja! Gar kein Entsetzen in dem jungen Gesicht, es lächelt fast unbeschwert
weiter. – Jetzt schläft die Schöne an der Tür meiner Stube umgewandt, Russland!
7. Oktober. Um 8 Uhr erscheint die Hübsche, wieder lächelnd. Um die Zeit sollte sie
Bescheid haben, ob der Vater im Lager sei. Er war im Lager. Aber er ist Partisan; sie
darf ihn nicht sehen. Sie spürt wohl, dass ihres Vaters Leben bedroht ist, aber ihr
Gesicht bleibt so unbewegt, dass ich nicht erkenne, ob ihre Ahnung Trauer oder
Entsetzen auslöst. Ob sie ahnt, dass ihr Vater erschossen werden wird?
Zymljanskaja, 11. November 42.
Der Winterfrost scheint nun eingesetzt zu haben. Welch köstliche Gabe jeden Morgen die von der Bäuerin angeheizte Stube! Immer diese sänftigliche Führung Gottes durch
mein bisheriges Leben hin!
12.11.
Seit gestern Nachmittag etwa 30/40 km östlich Dörfer in Brand. Nachts unheimliche
Fackeln. Ursache? Düstere Nachrichten aus Afrika. Wer in unserem Volk ahnte die
Schwere des kommenden Weltringens?
Wir marschieren in Süd-Frankreich ein zum Schutze der französischen Mittelmeerküste.
Italien allein ist selbst dazu zu schwach.
15.11.
Die Schwere des kommenden Ringens beginnt sich vielleicht nun vor jedermanns Auge
abzuzeichnen. Ich bin kein guter Offizier (dazu bin ich zu sehr ein kindlicher Mensch
geblieben); aber an Treue will ich mich von niemandem übertreffen lassen. Dazu helfe
mir Gott.
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19. November '42.
Vorgestern Befehl zum Abrücken nach hinten: Betreuung der Kriegsgefangenen in den
Räumen Morosowskaja und Forschtadt.
Als wir hier Ende Juli einrückten, glaubten wir alle, dass es baldigst weiter nach Osten
oder Südosten vorwärts gehen würde. Aber Stalingrad wurde ein halbes Verdun.–
Die Nacht um 3 Uhr Postenrevision. In dem weitläufigen Dorf und in der Monotonie der
Landschaft verlaufen! Musste mich in einem Bauernhause weiterfragen! Unterwegs
begegnete mir der Führer eines Pferdekommandos (von Stalingrad ins Pferdelazarett
hinten). Von seinen 12 Russen Begleitkommando (Kriegsgefangene) sind ihm innerhalb
8 Tagen schon 3 ausgerissen. Der Riesenraum hat uns bereits zum Einsatz einer
ganzen Armee Hilfsvölker gezwungen. Die ungeheure Gefahr! Unsere beiden
Hilfsformationen: Kosakenhundertschaft und Ukrainer Wachkompanie haben beide
kosakische bzw. ukrainische Offiziere als Führer. Zweifel in der Einheit, ob wir ihnen die
Führer belassen sollen.
Ich bin durchaus der Ansicht, dass sie bleiben, obwohl es unsere Ausbildungsaufgabe
erschwert. Ohne einheimische Führer, deren Vertrauen wir gewonnen haben, versagen
diese Fremdvölker in der Stunde der Erprobung.
Nowo-Schachtinsk (Russland), 4. Januar 1943.
Mit LKW bis hierher. Mittags Gespräch mit Hauptmann vom Stabe der 6. Armee. Die
ganze Armee vor Stalingrad eingeschlossen; etwa 200.000 Mann! Äußerster Ernst der
Lage an der gesamten Südostfront! Tauwetter; zerwühlte Straßen. Abends Sturm und
etwas Regen.
19. Januar.
Mein Dolmetscher (ein ordentlicher Mensch) versichert mich, dass ihm in der Ukraine
mehrfach erzählt wurde, dass Mütter ihre Neugeborenen verzehrt hatten. Analphabeten als Fabrikdirektoren. Herrschaft der Partei nur durch Angst (Erschießung er meint, dass wohl 20 Millionen erschossen seien, und Verschickung). Angst der Eltern
vor der Denunziation der eignen Kinder. Vollkommene Verwahrlosung der Jugend
(besonders auch geschlechtlich). Zerrüttung der Ehen. Größte Leichtigkeit, die Ehe zu
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lösen. Es gibt Frauen, die von vier Männern Kinder hätten. Die religiöse Frage: Wer
nicht in der Partei war, hätte zuhause für sich allein unauffällig seine religiöse Übung
halten können. Jedoch strengstens untersagt, Zirkel zu bilden (Verschickung).
Debelzewo (Russland), 5. Februar 1943.
Stalingrad endgültig verloren! 200.000 Mann mit viel Waffen verloren.
Verweigerte der Führer den rechtzeitigen Rückzugsbefehl aus militärischen oder aus
Prestigegründen???! (Sein Wort: "Verlassen Sie sich darauf! Wir sind in Stalingrad, und
wir bleiben in Stalingrad!"). Fünf Tage Trauer im Reich. Die schweren Kämpfe gehen
weiter!
Auf dem Marsch, 7. September '43.
Marsch in Richtung: Grischino.– Echte Ukraine. Der Russe in Grischino! Sofortiger
Weitermarsch trotz der Erschöpfung der Kriegsgefangenen um 9.30 Uhr. Ich auch
hundemüde. Dauernd an der Ordnung der Marschkolonne gearbeitet. Übernachtung der
Gefangenen in Wosnessenka.
Auf dem Marsch, 9. September '43.
Abmarsch Wosnessenka gestern um 7.15 Uhr. Ernste Nachrichten vom Vorrücken der
Russen links und rechts von mir. Ringsherum brennen die Vernichtungsfeuer. Weitere
Eile, damit ich nicht eingeschlossen werde! Um 22 Uhr erhalte ich durch meinen
Erkundungsoffizier die Nachricht, dass vor mir die Bahnstation Wassilkowka von den
Deutschen gegen 21.00 Uhr geräumt war. Ich fasse den schwerwiegenden Entschluss,
die Kriegsgefangenen freizulassen, da ich keine Möglichkeit mehr sehe, sie durch den
sich schließenden feindlichen Ring durchzubringen. Abfahrt mit LKW, die
Kriegsgefangenen merken nicht, dass ich die Wachen einzog: Alles liegt auf dem Feld
im Erschöpfungsschlaf. Unheimliche Stunde!
Stille. Zäsur
Dnjepropetrowsk (Ukraine), 13. September '43.
Oberstleutnant – im Gegensatz zu allen Kameraden – der Ansicht, dass ich um die
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Kriegsgefangenen hätte kämpfen müssen. Er befürchtet, dass Sache vor Kriegsgericht
kommt. Lügen-Bericht eingereicht. Oberstleutnant persönlich sehr anständig zu mir. Ich
habe ganz ruhiges Gewissen! Weitermarsch hätte bedeutet: Zusammenstoß mit
russischen Panzerkräften, Verlust aller Kriegsgefangenen, Verlust aller Leute, Verlust
aller Wagen. Ich habe Oberstleutnant erklärt, dass ich nie angenommen habe, dass für
mich in Frage käme, in dieser Situation mich dem Feinde zu stellen.
Tscherwonny (Ukraine), 18.November '43.
Gestern aus dem Munde eines ostpreußischen Landwirts furchtbare angeblich
authentische Einzelheiten darüber gehört, wie wir in Litauen die Juden (vom Säugling
bis zum Greis) ausgerottet haben!
"Wer zum Schwerte greift, der soll durchs Schwert umkommen." Wer darf in einem
Kriege nach gesittetem Denken getötet werden: der Soldat, der mit der Waffe oder
anderen Mitteln direkt kämpfende Zivilist, in grundsätzlich eng begrenztem Umfang der
nicht kämpfende Zivilist im Vergeltungsakt.
Bratskoje (Ukraine), 6. März 1944.
Früh raus (größerer Abtransport Zivilevakuierter. Einsatz im Reich).
Früh wach; viel an Karl Christoph gedacht! Wenn ihm Schwerstes bestimmt, dann bitte
ich nur, dass ihm erspart werden möchte, als Arbeiter nach Russland verschleppt zu
werden!!
Bratskoje, 9. März.
Gestern kam ein Weib, von mittleren Jahren und ebenmäßigen Zügen, zu mir,
bedrängte mich mit flehentlichen Küssen auf Hände und Schulter, ich möchte ihren
Mann aus dem Lager herausgeben, der mit ihr und ihren zwei Kindern sich auf
Familientreck befinde und nicht weit vor der Stadt von ukrainischer Gendarmerie ohne
Befragung aufgegriffen und mitgenommen worden sei. Ich konnte nicht anders, als die
standhafte Treue dieser Frau belohnen, obwohl die Bestimmungen es mir verboten. Der
Mann nahm seine Befreiung hin, ohne irgendein Anzeichen der Bewegung.
Stille. Zäsur
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Bokowo, 19. März 44.
Mehrfach Trupps von ziehenden Zigeunern: Wir haben schon viel gesehen an Jammer
und Lumpen in Russland. Dieser Jammer übertrifft alles.
Ein schlichtes Bäuerlein antwortete mir auf die Frage, ob sie lieber rumänisch bleiben
möchten oder zu Stalin zurückkehren: Lieber rumänisch bleiben! (Die Ukrainer können
nicht vergessen, dass Stalin mehrfach die vollen Scheunen der Dörfer so weit entleeren
ließ, dass furchtbare Hungersnöte im Lande herrschten. Export-Getreide!). Er fügte auf
Russisch hinzu: "Werden wir wieder sowjetisch, dann haben wir unter den Rumänen
wenigstens ein paar ruhige Jahre gehabt."
Gura-Galbena. (Rumänien) 1. April 1944.
Abmarsch von Bacioioa 6 Uhr, Es geht in bergiges Gelände, Nebel. "Gute", d.h.
befestigte Straße bis auf halbem Weg. Auf diesem Weg gute Marschleistung. Ich gehe
der Kolonne voraus hohen Mutes, singe Kirchenlieder und gedenke der Meinen.
Ranzesti (Rumänien) 11. April '44.
Prut überschritten! Nunmehr Russland endgültig verlassen!! Das Prut-Tal lag in
leuchtenden Farben. – Furchtbares Elend der Viehtrecks und der
Kriegsgefangenentransporte! Vieh und Menschen verenden zu Hunderten vor Hunger!
Ein Transportführer, den ich eben bat, einen halbtoten Russen von der Dorfstraße
wegzuholen, erzählte mir, dass er von 1000 Zivil-Wehrfähigen an die 400 im
Schneesturm hat tot oder halbtot am Wege liegen lassen müssen, da bei der
anhaltenden Kälte kein Grün treibt, verendet das Vieh zu Tausenden! Ich höre von zwei
Lazarett-Fahrern, die sich aus Verzweiflung erschossen haben! Von Rinderherden zu
1000 sind keine 150 übrig geblieben!
Krasne, 8. Juli 44.
Gretels Geburtstag. Wir sind nun vier Jahre voneinander getrennt. Aber es liegt viel
Segen in der Trennung, für uns, auch für die Kinder. Möchten die Kinder dem
Kommenden gewachsen sein.
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Samoklęski (Polen), 27. Juli '44.
Wir marschieren von neuem zurück, da Russe unaufhaltsam vordringt. Unsere
1. Panzerarmee soll zerrieben sein (so der russische Sender!). Auf den Landstraßen
gehen die motorisierten Reste zurück; darauf viel "Versprengte". Die Katastrophe im
Osten ist da! Ich sehe keine Möglichkeit eines Waffensieges mehr! Was kommen wird,
muss furchtbar sein!
Zum ersten Mal heute Soldaten gesehen, die nach Auflösung aussahen!– –
Tarnów (Polen), 5. August '44.
Hier ist auch alles im Abrücken! Kriegsgefangenenlager in der ehemaligen SS-Kaserne.
Wilhelm II. vermied nicht das Unheil des Zwei-Fronten-Krieges, ebenso wenig Adolf
Hitler. Nur der beherrschten Weisheit Bismarcks gelang es.
Es geht der militärischen Niederlage entgegen! So ist immer wieder das düstere
Gedankenspiel. Alle Maßnahmen und Erlasse der Regierung erscheinen als
verzweifelter Krampf. Gott gnade uns! Von zuhause ohne Nachricht seit Anfang vorigen
Monats.
Abmarsch in der Nähe von Kronstadt. Von da ab Gefangenen-Trecks, offenbar nach
Norden. (Generalgouvernement?) Werden die Durchgangslager aufgelöst werden? Ich
möchte nicht zurück in die Heimat.
Tarnów (Polen), 17. August '44.
Die militärische Katastrophe naht in Frankreich!! Und es war in so vollen Tönen vom
Atlantik-Wall und der Wirkung der Vergeltungswaffen die Rede! – –
Adolf Hitler ist mit einer Fülle natürlicher Eigenschaften genialen Führertums begabt. Ich
glaube wie bisher, dass er nicht das seelische Ungeheuer ist, zu dem ihn seine Gegner
– außerhalb und innerhalb unseres Volkes – machen. Antagonist des liberalistischen
wie des bolschewistischen Menschentums, teilt Adolf Hitler dennoch mit beiden das
Schicksal, dass das Ohr seines Gewissens der Botschaft des Christentums
verschlossen ist. Daher ist ihm jene letzte und allein echte Demut versagt, aus der allein
die höchste Weisheit – und die feste Selbstbegrenzung und Zucht – fließt, aus der allein
das Dauerhafte begründet werden kann.– Oh, großer Bismarck!
Gottes Gericht geht über die Welt. Gott hat die Welt ihrer Gottlosigkeit überlassen. Wer
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von uns hat dieses Gericht nicht verdient? – Gott gnade uns! – – – Gott gnade unseren
Kindern!
Dabrowa, 30. 9.
Es mag sein, dass kein November 1918 wiederkommt. Kommt nun ein Ende wie das der
Nibelungen an Etzels Hof?
Joniny (Polen), 6. November 1944.
Je deutlicher es wird, dass Hitler nicht der Gott ist, den die Menschen anbeteten, desto
mehr fühle ich mich an ihn gebunden.– Gott sei Dank immer noch überwiegend
trockenes Wetter.
9. November.
Geburtstag. Dauernd draußen im Wald von 7 bis 16.30 Uhr. Abends todmüde. Schön
das Bewusstsein innerer Gewissheit, wenn alles draußen vergeht. Abends Gänsebraten
mit Offizieren.
12.11.
Viel Patschschnee und Regen. Schwerer Dienst. - 1,6 Millionen Gefangene, 900.000
Vermisste! - Front vor uns bisher still.
28. Dezember 1944.
Ein schneller Sieg wäre ebenso furchtbar für uns gewesen wie die Niederlage! Der
Erzbischof von Krakau hat an alle Polen einen Aufruf erlassen, sich an den
Verteidigungsmaßnahmen gegen den Bolschewismus zu beteiligen.
Laibenhau, 28. Januar 1945.
Der Russe bei Laybusch. Tiefe Einbrüche in das Oberschlesische Industriegebiet.
Kämpfe bei Schneidemühle! Die militärische Katastrophe ist unabwendbar!
Nun kommt unausdenkbares Leid! Kreuz über Deutschland! Ich klage den Führer nicht
an! Niemand außer ihm fand den Mut zum Handeln. Gottes Gericht gilt uns allen!
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Roßhof (Schlesien) 13. Februar 1945.
Gestern Sonderkommando: Abtransport der letzten "marschfähigen" Kriegsgefangenen
des Russenlagers von Stammlager 344 im Fußmarsch von Lamsdorf nach Wolfelsdorf.
Schwere Aufgabe! Sehr erschöpfte Menschen. Seit zehn Tagen Wassersuppe, um
möglichst viel im Lager eingehen zu lassen! Ich höre, dass hier auf dem Durchmarsch
vielfach Erschöpfte auf der Dorfstraße erschossen würden. Ich versuche, zusätzliche
Verpflegung zu beschaffen. Von den 318 Kriegsgefangenen schon zehn nach kurzem
Marsch erschöpft und zum Stammlager zurückgeschickt.
Es werden schwere Tage werden! Erschießen will ich nicht!
Stille. Zäsur
Nettelstein, 24. Februar 45.
Erkältet, Furunkel, im Bett. - Die äußere Trennung von den Meinen wird mir nicht
schwer. Umso mehr suche ich, zusammen mit ihnen, die innere Welt abzuschreiten, in
der wir leben möchten, wenn die äußere zerbrochen wird. Wesentliche Hilfe das Buch.
Ich lese viel und schicke viel nach Haus. Es ist mein größtes Glück, dass die Kinder
willig folgen, insbesondere der Junge.
Petersdorf (Riesengebirge), 13. März 1945.
Stille im Dorf. Lauban (vor uns) wieder in deutscher Hand. Kaum Gefangene (etwa 100):
es wird - nach Aussagen der Soldaten - das meiste niedergemacht!
Rasende Wut über die furchtbaren Gräueltaten der Russen! - Heute die erste Drossel
singen hören.
17. März.
So führt eine Menschheit Krieg, die gottlos geworden ist. Die russischen Bestialitäten im
deutschen Osten - die Terrorangriffe der Angloamerikaner - unser Kampf gegen die
Juden (Sterilisierung der gesunden Frauen, Erschießung vom Säugling bis zur Greisin,
Vergasung jüdischer Transportzüge)!
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Gründonnerstag.
Lektüre. "Laß das Geheimnis zu dir ein, / Das allen Gram zur Freude macht: / Vor Nacht
verwahrten sie den Stein, / Vor Morgen ist der Herr erwacht. / Sie hielten nächtens
scharfe Wacht / Und schliefen, weil es Tag ward, ein / Geh, Seele, folg ihm in die Nacht:
Bald ruft der Hahn, bald bricht der Stein" Rudolf Alexander Schröder.
Die Amerikaner in Wetzlar!
2. Mai 1945.
Der Führer in der Reichskanzlei gefallen.
Das Paradigma des heroischen Menschen ist zu Ende gespielt! Gott gnade uns! Wird
nun die furchtbare Falschrichtung in A. Hitlers Politik offenbar: Gegen die
Angloamerikaner Krieg zu machen, wenn sein eigentlicher Feind der Bolschewismus
ist!?!
4. Mai 45.
Dies erfüllt mich angesichts des Todes des Führers Ehrfurcht vor menschlicher Größe,
Schauder vor der Gottesferne des natürlichen Menschen. - Die göttliche Wahrheit
unseres christlichen Glaubens. Ach, wie arm sind wir vor ihm!
6. Mai.
Berlin verloren. Führerhauptquartier verstummt. Waffenstreckung im Norden. Es
kämpfen nur noch Heeresgruppe Mitte, Süd und Südost. Der Russe gruppiert die gegen
Berlin eingesetzten Armeen um zum Großangriff in Richtung Görlitz.
Die nächsten acht Tage werden unser Schicksal hier unten entscheiden. Werden wir die
Tage überstehen?
Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit.
Stille
Absage:
Erschießen will ich nicht! Das Kriegstagebuch des Hauptmanns August Töpperwien.
Ein Feature von Diethelm Blecking und Mathias Brand.
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Sie hörten eine Produktion des Deutschlandsfunks.
Es sprachen:
Burkhardt Klaußner und Cornelia Schönwaldt.
Ton und Technik:
Ingeborg Kiepert und Jürgen Hille
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Karin Beindorff
Nach dem Ende des Krieges geriet August Töpperwien in polnische Gefangenschaft
und kehrte 1949 nach Solingen zurück. Er arbeitete wieder als Lehrer. Töpperwien
starb, 63 Jahre alt, am 3. Oktober 1956. Über seine Erlebnisse und Taten im Krieg hat
er nicht gesprochen. Sein Tagebuch wurde erst vor wenigen Jahren von polnischen
Kindern auf dem Dachboden eines Bauernhauses gefunden.
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