Prof - Ruhr-Universität Bochum

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Prof. Dr. Andreas Faissner, Zellmorphologie und molekulare Neurobiologie, Fakultät
für Biologie
Räume der Begegnung: Wo Nervenbahnen entstehen, wachsen und
sich verändern
Wie der Schlussstein eines Gewölbes bildet ein sechsarmiges Molekül den
Dreh- und Angelpunkt im extrazellulären Raum zwischen den Nervenzellen. Mit
„stop- and go- Signalen“ beschleunigt es das Wachstum, baut Barrieren oder
steuert Wanderungsprozesse. Ließe sich der molekulare Alleskönner
medizinisch nutzen, dann könnten durchtrennte Nervenzellen wieder wachsen
oder Stammzellen gezielt entwickelt werden.
Das Nervensystem der Säuger besteht aus einer unvorstellbar großen Zahl von
Nervenzellen (Neuronen), die über vielfältige Verbindungen miteinander verknüpft
und in eine strukturierte Umgebung von Stützzellen (Gliazellen) eingebettet sind.
Beim Menschen rechnet man mit 1012-13 Neuronen, 1015-16 Synapsen
(Verschaltungen) und 1013-14 Gliazellen. Damit übersteigen die Zellen des
Nervensystems die auf 30 000 bis 40 000 geschätzte Zahl humaner Gene um das
zehn Milliardenfache.
Wie wird ein solches System höchster Komplexität durch eine vergleichsweise
beschränkte Zahl von Genen gesteuert, so dass es entstehen, sich selbst
organisieren, stabilisieren und sich während der Lebenszeit eines Organismus
verändern kann? Diese Frage auf der Ebene der Einzelzelle und der neuronalen
Netze zu klären, ist heute das zentrale Thema der Entwicklungsneurobiologie.
Ausgangspunkt für die Entstehung des Nervensystems ist eine Vielzahl
undifferenzierter neuraler Vorläuferzellen, die sich in genau festgelegten
Entwicklungsphasen bilden und zu neuroanatomischen Subsystemen ordnen.
Zwei Grundprinzipien ermöglichen diese bemerkenswerte Leistung, die heute
zahlreiche wissenschaftliche Projekte weltweit durchdringen und miteinander
verzahnen: Integration durch Interaktion. Die Wechselwirkungen gehen von Signalen
während der frühen Embryonalentwicklung aus, die die Vorläuferzellen für bestimmte
Entwicklungsbahnen programmieren. Wenn Nerven- und Stützzellen ihre Plätze
eingenommen und ihre jeweiligen Merkmale ausgebildet haben, steuern spezielle
Moleküle das weitere Geschehen: Sie ermöglichen erst, dass sich Nervenzellen
erkennen oder in der jeweiligen Umgebung zurecht finden können. Besonders
kritisch sind diese Moleküle bei der Ausbildung von Nervenzellververbindungen - den
sog. Axonen (Abb. 3). Darin unterscheidet sich das Nervensystem von jedem
anderen Gewebe des Körpers.
Nervenzellen werden in dichter Packung von Gliazellen umgeben. Diese
sternförmigen Gebilde, sog. Astrocyten (s. Abb. 2), übertreffen die Zahl der Neuronen
um das zehnfache und übernehmen wichtige Funktionen im Zentralnervensystem.
Sie kontrollieren z.B. die extrazelluläre Konzentration von Salzen oder den
gerichteten Transport von Stoffen aus den Blutgefäßen des Nervensystems zur
Nervenzelle. Sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des
Zentralnervensystems (ZNS): So bilden sie Leitschienen, auf denen Nervenzellen
wie kleine Züge in ihre Zielgebiete ziehen. Sie lenken die beweglichen, aktiv
wandernden Wachstumskegel der Axone (s. Abb. 4) an den vorgesehenen Platz,
indem sie das Richtungswachstum unterstützen oder vorübergehend durch
Gewebebarrieren blockieren (Abb. 5). Vermutlich tragen Astrocyten auf diese Weise
dazu bei, dass sich Muster und Strukturen im ZNS stabilisieren.
Wie aber regulieren die Astrocyten diese Entwicklung des Nervensystems? Sie
bilden sog. astrogliale Makromoleküle, die das Verhalten der axonalen
Wachstumskegel beeinflussen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass ganze
Familien dieser Makromoleküle in den Raum zwischen den Zellen (extrazellulärer
Raum) abgegeben werden, der während der Phase der Gewebsorganisation noch
bis zu 30 Prozent des gesamten Volumens des Zentralnervensystems ausmacht.
Bisher ist wenig darüber bekannt, wie dieser Raum strukturiert wird. Für andere
Gewebe außerhalb des Nervensystems konnte nachgewiesen werden, dass
spezialisierte makromolekulare Systeme darin eine Schlüsselrolle einnehmen. Die in
den extrazellulären Räumen des Nervensystems vorhandenen Makromoleküle
lassen ebenfalls eine solche Bedeutung vermuten.
Zunächst haben wir herausgefunden, dass einzelne Makromoleküle, wie z. B. das
Tenascin-C (lat. tenere: halten, nascere: geboren werden), das Wachstumsverhalten
der Axone beeinflussen. Dabei scheint Tenascin-C sehr ambivalente Funktionen zu
vermitteln, denn in bestimmten Situationen fungiert es als Barriere oder
Grenzmolekül im Nervengewebe, in anderen beschleunigt es als homogenes
Wachstumssubstrat das Wachstumsverhalten von Axonen erheblich. Schließlich
aktiviert Tenascin-C auch die Zellbindung und steuert Wanderungsprozesse.
Bei multifunktionalen Molekülen sind häufig strukturelle Einheiten (Kassetten) des
Moleküls für einzelne Funktionen verantwortlich. Es gelang uns tatsächlich, diesen
verschiedenen Kassetten oder Modulen des Tenascin-C hemmende („stop!“) und
stimulierende („go!“) Signale für das Wachstum der Axone zuzuschreiben (s. Abb.6
a, b). Diese Beobachtungen legen nahe, dass Nervenzellen über spezialisierte
Rezeptoren auf die unterschiedlichen Bereiche des Makromoleküls reagieren.
Unsere Hypothese bestätigte sich: Das „go“-Signal für axonales Wachstum wird
durch das Neuron mit Hilfe eines spezialisierten Adhäsionsproteins (Contactin) vom
Tenascin-C abgelesen und umgesetzt. Hierbei dient Contactin als eine Art Fühler,
der die Wachstumsgeschwindigkeit des Wachstumskegels über interne
Signalumsteuerungsprozesse reguliert (Schema, Abb. 7).
Wir werden nun die Sequenz der Aminosäuren, d.h. die Bausteine der Eiweiße
bestimmen, aufgrund derer sich die beteiligten Proteine von Tenascin-C und
Nervenzelle erkennen. Damit wird es auch möglich werden, die Sequenz für das
„go!“-Signal zu isolieren und in gereinigter und konzentrierter Form in künstliche
Transportvehikel einzubauen. Ziel ist es, diese das Wachstum stimulierenden
Bereiche gezielt in die Nähe verletzter Nerven zu bringen, um dort im
Wachstumskegel den Regenerationsprozess in Gang zu setzen. Dieser Weg ist
schon deshalb sinnvoll, weil das „go!“-Signal in einem Abschnitt (Kassette) des
Tenascin-C lokalisiert wurde, der nicht in allen seinen molekularen Varianten
vorkommt.
Strukturkassetten, die für die Stimulation des Wachstums entscheidend sind,
unterliegen einem speziellen Verarbeitungsprozess – dem sog. alternativen
Spleißen. Dabei werden quasi aus der Blaupause für das Eiweiß bestimmte Stücke
herausgeschnitten bzw. ausgetauscht, bevor der Bauplan durch die Boten-RNA im
Zellplasma in Eiweiße umgesetzt wird. Auf diese Weise wird immer gerade die Serie
funktioneller Kassetten des Tenascin-C bereit gestellt, die zum jeweiligen Zeitpunkt
benötigt wird. Wenn jede dieser Kassetten frei austauschbar wäre, ergäbe sich eine
Gesamtzahl möglicher Kombinationen von 2n (n: Zahl alternativ gespleißter
Kassetten). Im Tenascin-C der Maus finden wir sechs Kassetten, für den Menschen
wurden neun beschrieben. Damit sind bei der Maus theoretisch 64 Kombinationen
möglich und 512 beim Menschen. Im Nervensystem der Maus haben wir mehr als
dreißig Varianten des Tenascin-C zu bestimmten Zeitpunkten der Entwicklung
nachgewiesen (s. Abb. 8). Die Kombinationen kommen mit unterschiedlicher
Häufigkeit vor, was dafür spricht, dass ihr Entstehen gezielt reguliert wird.
Diese Variabilität des Tenascin-C eröffnet interessante Perspektiven. So ist
vorstellbar, dass die Eigenschaften unterschiedlicher Gebiete des Nervensystems
durch bestimmte Varianten des Makromoleküls festgelegt werden. Auch das
Wachstum der Axone könnte bevorzugt durch einzelne Varianten gesteuert werden,
wie wir für Tenascin-C in der Kulturschale belegen konnten.
Tenascin-C besteht aus sechs Untereinheiten, die sich zu einer sechsarmigen
Gestalt verbinden (Abb. 9). Damit könnte Tenascin-C ein Integrator des
extrazellulären Raumes sein, der mit Bestandteilen in diesem Raum sowie mit
Rezeptoren auf den Zelloberflächen in Verbindung steht. Das Molekül bildet dann
wie der Schlussstein eines Gewölbes den Dreh- und Angelpunkt der
Matrixarchitektur. Es wird während der Entwicklung vermehrt gebildet, dagegen ist es
später im Gewebe so gut wie nicht mehr vorhanden. Bei Verletzungen oder
krankhaften Prozessen tritt es dann plötzlich wieder auf, z.B. in Hirntumoren. Auch
das könnte ein Anzeichen dafür sein, dass Tenascin-C in Regenerationsprozesse
des Nervensystems einbezogen ist. Interessante Perspektiven für die Prognose oder
Diagnostik eröffnen sich, wenn es gelänge, das Auftreten bestimmter Varianten des
Makromoleküls im Blut bestimmten Erkrankungen zuzuordnen.
Bis heute gelten durchtrennte Nervenverbindungen als nicht wieder herstellbar, wie
z.B. im Falle von Querschnittlähmungen. Wenngleich Nervenzellen das Potenzial
besitzen, unterbrochene Verbindungen wieder aufzubauen, verhindern dies
Barrieren, die sich den Wachstumskegeln in den Weg stellen (Abb. 10). Solche
Hindernisse für die Regeneration bilden Astrozyten, die in der Umgebung von
Wunden die sog. astrogliale Narbe aufbauen. Tenascin-C kommt in diesen Narben in
hoher Konzentration vor und scheint die Bildung von Barrieren zu unterstützen, wie
Experimente an Mikroläsionen nahe legen (Abb. 11). Hier könnte die integrative
Funktion des Tenascin-C bei der Organisation übergeordneter Matrixstrukturen dazu
beitragen, eine undurchdringliche extrazelluläre Struktur aufzubauen, die intaktes
Gewebe gegen Wundregionen abgrenzt. Eine sinnvolle Funktion verkehrt sich in ein
Regenerationshindernis.
Wenn wir die Bauprinzipien der Barrieren entschlüsseln, könnte das zu Strategien
führen, mit denen sich die Matrixarchitektur destabilisieren lässt. Eine Regeneration
könnte dann möglich sein. Dabei ist entscheidend, ob wir Varianten des Tenascin-C
finden, die Kassetten mit speziellen „stop“-Signalen für das Axonwachstum
aufweisen.
Schließlich zeichnet sich ausgehend von Tenascin-C in jüngster Zeit eine aufregende
Perspektive ab. Das Makromolekül tritt verstärkt in jenen Regionen des
Nervensystems auf, in denen sich Zellen aktiv vermehren. Dort findet man während
der Entwicklung neurale Stammzellen, die auch in bestimmten Gebieten des
ausgewachsenen Nervensystems gebildet werden. Diese sog. subventrikuläre Zone
ist ebenfalls mit Tenascin-C angereichert. Wir haben daraufhin ein Projekt in Angriff
genommen, das die Rolle der extrazellulären Matrix für die Stammzellentwicklung
und -Differenzierung klären soll. Es stellt sich die Frage, ob Tenascin-C als Integrator
dieser Matrix-Architekturen vielleicht auch ein geeignetes Milieu gestalten kann,
indem sich bevorzugt Stammzellen bilden und reifen.
Dabei ist von besonderem Interesse, welche Signale das Makromolekül an die
Stammzellen weitergibt und wie diese im Zuge ihrer Differenzierung umgesetzt
werden. So scheint Tenascin-C die Stammzellpopulation, ihre Vermehrung und ihre
Sensitivität für bestimmte Wachstumsfaktoren zu regulieren. Ob diese Mechanismen
in erster Linie das Wachstum oder den natürlichen Zelltod der Stammzellen
betreffen, ist Gegenstand weiterer Forschungen. Doch es ist bereits erkennbar, dass
Tenascin-C die Entwicklung von Vorläuferzellen für die Myelinbildung zwar fördert –
deren Einwanderung in bestimmte Territorien aber verhindern kann. Das Myelin
bildet die Umhüllung der Nervenfasern, die sog. Myelinscheide, die z.B. bei der
Multiplen Sklerose zerstört ist. Auch hier zeigt sich wieder die Ambivalenz dieses
Makromoleküls, die bei einem therapeutischen Einsatz ein sehr gezieltes Vorgehen
voraussetzen würde.
Der neurale Extrazellulärraum kann damit nicht mehr als ein gestaltloser, mit
Flüssigkeiten und Salzen angefüllter Hohlraum gelten, sondern ist ein durch
spezialisierte Moleküle hochstrukturiertes Mikromilieu. Dieses Milieu könnte
entscheidende Prozesse bei der Bildung, Umbildung und der Regeneration des
Nervensystems beherbergen. Unser Ziel ist es, die unsichtbaren und höchst
dynamischen Strukturen molekular aufzuklären und abzubilden.
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