Von Gehirn und Hirnforschung

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Von Gehirn und Hirnforschung
In Stanislav Lems Science-Fiction-Roman „Solaris“ ist ein Planet eine riesige
Hirnmasse. Der Vergleich ist aktuell. Vieles spricht dafür, dass die aufregendsten
Endeckungen des 21. Jahrhunderts nicht auf einem fremden Himmelskörper,
sondern - sozusagen – bei der Erkundung eines inneren Planeten erfolgen werden:
dem menschlichen Gehirn.
Die Forschungsreise zu diesem Planeten begann im Altertum, als erste Theorien zur
Funktion dieser grauen, walnussförmigen Masse gebildet wurden. Es versteht sich
nicht von selbst, dass das Gehirn der Sitz des Verstandes ist. Der griechische
Philosoph Aristoteles war der Ansicht, der Mensch denke mit dem Herzen, das
Gehirn dagegen diene der Kühlung des Blutes. Heute wissen wir, dass das Gehirn
nicht nur das Denken, sondern auch wesentlich mehr ermöglicht. Auch unsere
Emotionen und Sinneswahrnehmungen werden vom Gehirn erzeugt. Die jüngsten
Erkenntnisse der Hirnforschung beginnen inzwischen unseren Alltag zu verändern.
Man weiß heute, dass das Gehirn vom Beginn des Lebens an durch Reize und
Erfahrung strukturiert wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist Babywäsche heute
nicht mehr nur weiß, sondern auch schreiend bunt. Und die Forderung, dass schon
im Kindergarten unterrichtet werden soll, wird nicht zuletzt durch Hinweis auf die
Ergebnisse der Hirnforschung gerechtfertigt.
Vereinfacht gesagt, besteht das Gehirn aus dem Kleinhirn, das für Bewegungsabläufe zuständig ist, dem Zwischenhirn, das unsere Sinnesleistungen und die
Stoffwechselprozesse steuert, dem limbischen System, das unsere Gefühle und
Leidenschaften kontrolliert und bewertet, und dem Großhirn, mit dem gedacht,
gehandelt und erinnert wird. Das Gehirn verarbeitet die Daten, die unsere
Sinnesorgane liefern, und erzeugt Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Die
„Welt“ nehmen wir niemals so wahr, wie sie ist, sondern immer nur in der Brechung
dieses Fensters. Auch könnte man sagen, dass unsere Situation der eines Jetpiloten
im Blindflug nicht unähnlich ist. Dieser hat keinen direkten Sichtkontakt mit der
Außenwelt, sondern verlässt sich bei Steuerung und Navigation völlig auf seine
Instrumente. Unser Gehirn ist mit dem Cockpit eines solchen Piloten vergleichbar.
Das Gehirn ist also nicht nur ein Fenster zur Außenwelt, sondern auch eine Art
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Gefängnis (allerdings mit recht komfortablen Haftbedingungen) – ein Raum, den wir
niemals verlassen können.
Ohne Gedächtnis hätten wir keine Persönlichkeit, denn jede Persönlichkeit lebt aus
ihrer Vergangenheit. Und ohne Gedächtnis könnten wir nicht lernen. Erst allmählich
beginnt man zu verstehen, wie das Gedächtnis funktioniert. Die Hirnforscher
unterscheiden das Langzeitgedächtnis, das Kurzzeitgedächtnis, das nur wenige
Minuten speichert, und das Ultrakurzzeitgedächtnis, das sinnliche Eindrücke wenige
Augenblicke nachklingen lässt. Eine andere Unterscheidung bezieht sich auf völlig
unterschiedlichen Leistungen, die häufig unter dem Überbegriff „Gedächtnis“
zusammengefasst werden: das episodische Gedächtnis, das den Werdegang der
Person festhält, das Wissenssystem, das Informationen zur Umwelt und Mitwelt
speichert (z.B. Sprachen, Kenntnisse der Verkehrsregeln und der Geographie), das
prozedurale Gedächtnis, das Fähigkeiten wie das Skifahren oder das Klavierspielen
festhält, und schließlich das so genannte Priming, das uns Reizmuster auch dann
wieder erkennen lässt, wenn die Wahrnehmung dem ursprünglichen Eindruck nur
ähnelt.
Im Gehirn gibt es verschiedene und voneinander getrennte Bereiche für die Aufnahme und den Abruf von Informationen. Selbst eine großflächige Entfernung von
Teilen der Hirnrinde (beispielsweise infolge eines Unfalls) löscht häufig nur wenig der
gespeicherten Informationen aus. Bei geistigen Fähigkeiten ist dies anders. Aus
Fällen von Hirnverletzungen hat man geschlossen, dass bestimmte Regionen des
Gehirns für bestimmte Funktionen zuständig sind. So ermöglicht ein bestimmtes
Areal der Hirnrinde das Erkennen von Gesichtern, ein anderes Gebiet das
Farbempfinden, ein weiteres die Wahrnehmung von Bewegung im Raum.
An sich ist die Zahl der Hirnzellen (mindestens 15 Milliarden), vergleicht man sie mit
den Zellen anderer Organe, nicht besonders beeindruckend. Aber die Zahl der
Verbindungen zwischen den Hirnzellen ist astronomisch groß. Jede einzelne
Hirnzelle ist mit bis zu 10.000 anderen Zellen verbunden. Das heißt, sie kann 10.000
andere Hirnzellen beeinflussen und auch von 10.000 Zellen beeinflusst werden. Über
maximal vier Zwischenstationen kann eine Hirnzelle jede andere Hirnzelle erreichen.
Im Gegensatz zu einem Computer zeichnet sich das Gehirn durch massive
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Parallelität der Prozesse aus: Kaum etwas geschieht nacheinander; das meiste
geschieht fast gleichzeitig. Für ein gesundes Gehirn ist es daher gar nicht möglich,
wahrzunehmen, ohne sich gleichzeitig zu erinnern und Gedanken zu haben, und zu
denken, ohne das Gedachte auch zu bewerten. Im Gehirn ist alles vernetzt.
Vergleicht man das Gehirn mit einem Kabelknäuel, so beträgt die Länge dieser Kabel
mehrere 100.000 km, und wie bei richtigen Kabeln fließt elektrischer Strom zwischen
den Nervenzellen. Wenn wir einen Gedanken fassen oder uns erinnern, entsteht ein
Erregungsmuster: bestimmte Zellen werden durch diesen elektrischen Strom
aktiviert. Dieses Muster kann wieder abgerufen werden – eine Voraussetzung für das
Lernen. Dies macht das Gehirn zur komplexesten und leistungsfähigsten Struktur
des Universums, die wir kennen.
Nach wie vor ist es jedem Computer überlegen.
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