Eine Lanze für Kopenhagen - Ruhr

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Eine Lanze für Kopenhagen
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Für Klaus Michael Meyer-Abich aus Anlaß seiner Emeritierung!
Eine Lanze für Kopenhagen!
Michael Drieschner
Kopenhagen ist, jedenfalls in meiner Vorstellung, eine der friedlichsten Städte Europas, ohne
Bedarf für Kriegsgeräte wie Lanzen, – oder allenfalls zu dekorativen Zwecken. Wieso also
eine Lanze für diese Stadt, die so etwas gar nicht braucht?
Spaß beiseite: Kopenhagen ist dadurch ausgezeichnet, daß Niels Bohr fast sein ganzes Leben
dort verbracht hat. In Kopenhagen hat ein großer Teil der Gespräche über die neue Physik der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattgefunden, die etwa Werner Heisenberg in seinem
Dialogbuch1 beschreibt. Klaus Meyer-Abich hat die in Kopenhagen entstandene Philosophie
Bohrs in einem großen Buch23behandelt. Das Ergebnis dieser Diskussionen in Kopenhagen
und anderswo, aus dem Kreis der Schüler Bohrs hervorgegangen, nennt man – nur sehr vage
einen Komplex von Philosophie umschreibend – die „Kopenhagener Deutung der
Quantentheorie“. Diese Kopenhagener Deutung war zur Zeit ihrer Entstehung revolutionär,
wurde im Laufe der Zeit, wie es mit Revolutionen zu gehen pflegt, „Orthodoxie“, weitgehend
unverstanden in Lehrbüchern und Vorlesungen als selbstverständlich tradiert. Und wie sich
das für eine Orthodoxie gehört, wurde sie in den letzten zehn bis zwanzig Jahren von jungen
Revolutionären angegriffen und bekämpft – meistens mit nicht viel besserem Verständnis als
von den Orthodoxen verteidigt.
Es lohnt sich, gegen dieses Unverständnis anzukämpfen und, meine ich, für die ursprüngliche
Revolution, ungeachtet der Orthodoxie und der erneuten Revolution, eine Lanze zu brechen:
Eine Lanze für Kopenhagen!
Deutung
Wozu braucht eigentlich eine physikalische Theorie – die Quantenmechanik – eine Deutung?
Man sollte meinen, daß sie die Wirklichkeit so beschreibt, wie sie ist – vorsichtshalber
1
2
Heisenberg (1969)
Meyer-Abich (1965)
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vielleicht sagen: Sie beschreibt ein Modell der Wirklichkeit, das aber, wie es ist. Daß man die
Welt so beschreiben kann, ist das Welt-Bild der später so genannten „Klassischen Physik“.
Die neue Theorie Quantenmechanik entstand am Anfang des 20. Jahrhunderts aus Problemen
mit der klassischen Physik. Man hat diese Probleme intensiv genug studiert, um zu sehen, daß
sie im Rahmen der überkommenen Theorie nicht zu lösen waren. Max Jammer schildert das
unnachahmlich in seinen Büchern,4 Friedrich Hund5 in seiner strengen Kürze ebenso
unübertrefflich.
Von Max Planck begonnen, fortgeführt von Niels Bohr, Arnold Sommerfeld und anderen,
wurden unorthodoxe Formulierungen als Abhilfe vorgeschlagen. Aber erst die Theorien von
Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger von 1925/26 erwiesen sich als brauchbare
Lösungen für die aufgelaufenen Probleme , obwohl – oder gerade weil – sie radikal vom
bisher in der Physik Üblichen abwichen. Wie sich sehr schnell herausstellte, liefen diese zwei
mathematisch ganz verschiedenen Formalismen in ihren physikalischen Konsequenzen auf
dasselbe hinaus: Die Quantenmechanik war geboren.
Von da an hatte man einen Formalismus und in Ansätzen auch Regeln, wie man diesen
Formalismus mit den Messungen verknüpfen sollte, aber man konnte sehr schnell sehen, daß
die neue Theorie sich nicht im Rahmen des Gewohnten hielt, daß ihr Verständnis nicht
selbstverständlich war: Das Bedürfnis nach „Deutung“ war geboren.
Den Anfang der bis heute nicht abgerissenen Deutungsdebatte machte die berühmte Arbeit
von Werner Heisenberg,6 in der er die Unbestimmtheitsrelation formulierte. Dieser Aufsatz ist
in intensiven Gesprächen mit Niels Bohr entstanden, und man kann ihn mit Recht die
Gründungsurkunde Kopenhagener Deutung nennen.
Betrachten wir diese „Deutungsdebatte“ genauer:
Quantenmechanik
Was ist das besondere an der Quantenmechanik, daß gerade sie, im Gegensatz zu früheren
physikalischen Theorien, eine Deutung braucht?
4
Jammer (1966, 1974)
Hund (1967)
6
Heisenberg (1927)
5
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Die „klassische“ Physik konnte von sich beanspruchen, daß sie die Welt so beschreibe, wie
sie ist: Den Variablen im mathematischen Formalismus – etwa „Ort“ oder „Länge“ oder
„Masse“ genannt – entsprechen Ergebnisse von Messungen, z. B. mit dem Meterstab, mit der
Waage oder, wie etwa in der Astronomie, mit Fernrohren und Winkelmeßgeräten. Was man
da mißt, ist aus dem alltäglichen Umgang mit den Dingen der Umwelt bekannt. Nicht ganz
direkt zugängliche Größen wie Impuls, Geschwindigkeit oder Energie lassen sich aus
„direkt“, also mit Maßstab, Waage, Winkelmesser o.ä. gefundenen Meßergebnissen
errechnen.
–
Freilich,
wenn
man
genauer
hinschaut,
wie
das
die
moderne
Wissenschaftstheorie tut, dann sieht man sehr wohl, wie komplex und gar nicht
selbstverständlich diese Zusammenhänge sind; aber es ist doch jedenfalls möglich, die
klassische Physik als Beschreibung der an sich vorhandenen Welt zu interpretieren. – Bei der
Quantenmechanik ist das nicht möglich, und das ist der Grund, warum die Quantenmechanik
eine Deutung braucht.
Was mit dem Formalismus der Quantenmechanik errechnet wird, sind nicht Größen, die man
in der Wirklichkeit vorfindet, sondern Wahrscheinlichkeitsverteilungen für mögliche
Meßergebnisse. Das klingt zunächst relativ harmlos, aber es bedeutet einen fundamentalen
Wandel im Verständnis von Wirklichkeit gegenüber dem Weltbild der klassischen Physik.
Denn die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit ist fundamental, sie läßt sich nicht auf den
Mangel an Wissen über „an sich“ feststehende Größen zurückführen.
Betrachten wir das genauer:
Wahrscheinlichkeit kommt auch in klassischen Theorien vor. Wenn man z.B. den
Anfangszustand eines mechanischen Systems nicht genau feststellen kann, dann setzt man für
verschiedene mögliche Anfangszustände jeweils eine Wahrscheinlichkeit an. Jeden
Anfangszustand kann man gemäß der deterministischen klassischen Theorie fortentwickeln,
und am Schluß hat man die möglichen Endzustände mit denselben Wahrscheinlichkeiten wie
die jeweiligen Anfangszustände. Man kann sich dabei immer sagen, „an sich“ hätte das
beschriebene physikalische System einen Zustand; da wir diesen Zustand aber nicht kennen,
können wir nur unser geringeres
Wissen in einer Wahrscheinlichkeitsverteilung
zusammenfassen und so trotzdem zu einer Wahrscheinlichkeitsverteilung über die
Endzustände kommen.7
7
Smoluchowski (1918)
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Die quantenmechanische Wahrscheinlichkeit ist anders, sie läßt eine solche Interpretation
nicht zu. Betrachten wir etwa das Standardbeispiel, die Beugung von Teilchen am
Doppelspalt.8
Wenn man viele Teilchen, z. B. Elektronen, durch einen geeignet dimensionierten
Doppelspalt schickt und dahinter auf einem Schirm auffängt, zeigt der Schirm nach einiger
Zeit ein charakteristisches Streifenmuster, abwechselnd Streifen von sehr dichten Einschlägen
von Elektronen und sehr wenigen. Dieses Streifenmuster kann man nicht erklären, wenn man
sich Elektronen wie kleine Gewehrkugeln vorstellt, die durch die beiden Spalte geschossen
werden. Das Streifenmuster sieht aber genauso aus wie das Beugungsbild, das eine Welle
verursacht, die durch einen Doppelspalt geht. Man kann gemäß der Quantenmechanik jedem
Elementarteilchen eine Welle mit einer seinem Impuls entsprechende Wellenlänge zuordnen,
und so dieses Beugungsbild quantenmechanisch „erklären“: Nach der Quantenmechanik
pflanzt sich die Wahrscheinlichkeit, ein Teilchen zu finden, nach Art einer Welle fort.
Gemäß der „klassischen“ Auffassung von Wirklichkeit würde man das Ergebnis so
interpretieren, daß jedes Elektron an sich auf einer bestimmten Bahn durch den Doppelspalt
auf den Schirm fliegt, daß aber gemäß der Quantenmechanik die Wahrscheinlichkeiten – die
z.B. auf einer mangelnden Kenntnis des Anfangszustandes des Elektrons beruhen – sich so
exotisch verhalten, daß auf dem Schirm das bekannte Strichmuster entsteht. Gegen diese
Auffassung liegen aber von der Quantenmechanik her zwei Einwände nahe:
1. Gemäß der Quantenmechanik hat ein Teilchen keine Bahn. Das ergibt sich aus der
„Unbestimmtheitsrelation“,
die
Heisenberg
schon
in
seinem
Aufsatz
von
1927
quantenmechanisch abgeleitet hat.
2. Wenn man, gegen die Quantenmechanik, einmal annimmt, jedes Elektron flöge in
Wirklichkeit auf einer Bahn entweder durch den rechten oder durch den linken Spalt, kommt
man zu Widersprüchen mit den experimentellen Ergebnissen.
Betrachten wir die beiden Einwände genauer:
1. Unbestimmtheitsrelation
In der klassischen Physik ist der Zustand eines Systems dadurch beschrieben, daß man allen
Größen, die ihn definieren, bestimmte Werte zuordnet. So ist z. B. der Zustand eines
8
Heisenberg (1930)
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Massenpunkts, des einfachsten Systems der klassischen Mechanik, vollständig beschrieben
durch die Angabe von drei Koordinaten für den Ort und drei Komponenten des Impulses. Bei
komplexeren Systemen gehört zur Kennzeichnung des augenblicklichen Zustands die Angabe
bestimmter Werte für jeden Punkt des Raumes – bei einer inkompressiblen Flüssigkeit z. B.
Dichte und Impulsdichte an jedem Ort: Eine vielfache Unendlichkeit von reellen Zahlen.
In der Quantenmechanik dagegen wird ein Zustand dadurch gekennzeichnet, daß man für
jeden möglichen Meßwert die Wahrscheinlichkeit angibt, ihn bei einer entsprechenden
Messung zu finden. Dabei kann es zwar vorkommen, daß ein bestimmter Meßwert die
Wahrscheinlichkeit 1 erhält und entsprechend die alternativen Meßwerte derselben Größe die
Wahrscheinlichkeit 0; dann kann man mit Recht sagen, das Objekt habe die Eigenschaft, die
diesem Meßwert entspricht. Es ist aber nicht möglich, daß alle Eigenschaften, mit denen man
das Objekt beschreiben kann, die Wahrscheinlichkeit 1 oder 0 haben, d. h. entweder vorliegen
oder nicht vorliegen – wie das in der klassischen Physik als selbstverständlich vorausgesetzt
wird.
Werner Heisenberg hat diese Eigenschaft der Quantenmechanik am Beispiel von Ort und
Impuls in seinem Aufsatz von 1927 formuliert: Wenn für ein Elektron der Ort festliegt, dann
ist sein Impuls gänzlich unbestimmt; wenn umgekehrt sein Impuls festliegt, dann ist sein Ort
gänzlich unbestimmt. Heisenberg leitet sogar eine spezifischere Bedingung für die
Unbestimmtheit der beiden Größen ab, nämlich die Ungleichung
q  p ‰
2
.
Das ist die mathematische Formulierung der Unbestimmtheitsrelation. Sie besagt, daß das
Produkt aus der Unschärfe des Orts,  q , und der Unschärfe des Impulses,  p , in allen
quantenmechanischen Zuständen eine Mindestgröße hat, nämlich (ungefähr)
2
, eine
Konstante mit dem Wert von ca. 10-34 [W·s2]
Man liest oft, daß die Unbestimmtheitsrelation besage, man könne Ort und Impuls nicht
zugleich mit beliebiger Genauigkeit messen. An diese irreführende Formulierung schließt sich
dann einer von zwei Fehlschlüssen an: nämlich entweder, daß daraus folge, daß das Elektron
dann auch nicht Ort und Impuls zugleich haben könne, denn was man nicht messen könne, das
gebe es nicht. Oder es wird umgekehrt geschlossen, daß das Elektron ja trotzdem Ort und
Impuls haben könne, auch wenn man sie nicht messen kann. – Der erste Schluß ist als Schluß
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unzulänglich; denn selbstverständlich arbeitet die Physik auch mit Größen, die man faktisch
nicht messen kann. Der zweite Schluß ist als Schluß zwar zulässig, kommt aber zu dem
falschen Ergebnis, da er die Unbestimmtheitsrelation als Voraussetzung in einer zu
schwachen Form benutzt.
Richtig lautet das Argument so:9
Die
Heisenbergsche Unbestimmtheitsrelation
formuliert
eine Eigenschaft, die der
Quantenmechanik als Theorie zukommt: Es gibt keinen quantenmechanischen Zustand, bei
dem das beschriebene System zugleich scharfen Ort und scharfen Impuls hat. Soweit die
Quantenmechanik stimmt, ist damit die Sache erledigt. Nun könnte jemand einwenden (wie in
den Anfangszeiten der Quantenmechanik geschehen): „Es ist doch sowohl der Ort wie auch
der Impuls beliebig genau meßbar. In Wirklichkeit hat also das Elektron einen scharfen Ort
und einen scharfen Impuls, in diesem Punkt ist die Quantenmechanik falsch.“ Erst gegen
diesen Einwand muß man dann auch mit den Möglichkeiten der Messung argumentieren. Und
da hat nun eine lange Diskussion ergeben, daß es nicht möglich ist, Ort und Impuls an einem
Elektron oder an einem anderen quantenmechanischen System zugleich genau zu messen.
Heisenberg diskutiert das10 am Gedankenexperiment der Ortsmessung mit einem
„Gammastrahl-Mikroskop“. Mit einem solchen Mikroskop kann man entweder genau
feststellen, wo das Elektron ist, und macht damit die Kenntnis seines Impulses unmöglich,
oder man mißt seinen Impuls, bekommt dann aber kein scharfes Bild mehr von seinem Ort.
Diese Erörterung hat den argumentativen Status einer Widerlegung möglicher Einwände
gegen die Quantenmechanik. Die Unbestimmtheitsrelation für sich sagt zunächst nur, daß es
keinen quantenmechanischen Zustand gibt, in dem Ort und Impuls zugleich scharfe Werte
haben; und erst in zweiter Linie folgt daraus, daß man, wenn die Quantenmechanik stimmt,
einen solchen Zustand auch nicht messen kann, denn was es nicht gibt, das kann man auch
nicht feststellen: Der Schluß ist also genau umgekehrt wie oben angegeben.
Aus der Unbestimmtheitsrelation folgt nun auch sofort, daß ein Elektron gemäß der
Quantenmechanik – genaugenommen – keine Bahn hat: Wenn ein Teilchen auf einer Bahn
fliegt, dann hat es zu jedem Augenblick einen bestimmten Ort – aus diesen Orten besteht ja
die Bahn –, aber gemäß der zeitlichen Abfolge dieser Orte auch in jedem Punkt einen
bestimmten Impuls. Wenn also das Elektron eine Bahn hätte, dann hätte es auch an jedem
9
M. Drieschner (2001)
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Bahnpunkt einen bestimmten Ort und einen bestimmten Impuls, im Widerspruch zur
Unbestimmtheitsrelation; also war die Hypothese, daß das Elektron eine Bahn habe, falsch.
2. Beugung am Doppelspalt
Kehren wir zu den Experimenten am Doppelspalt zurück! Man kann an ihnen unmittelbar
erkennen, daß die Annahme, jedes Elektron flöge entweder durch den linken oder durch den
rechten Spalt, mit den Messungen nicht verträglich ist: Stellen wir uns vor, man schließt, um
das zu prüfen, zunächst einen Spalt – sagen wir den rechten. Dann sind alle Elektronen, die
auf dem Schirm ankommen, durch den linken Spalt geflogen und erzeugen auf dem Schirm
dahinter ein charakteristisches Beugungsbild, das anders aussieht, als wenn beide Spalte
geöffnet sind. Ähnlich geht es, wenn wir dann den linken Spalt schließen, und alle Elektronen
durch den rechten geflogen sind: wenn die beiden Spalte ansonsten gleich sind, entsteht
genauso ein Beugungsbild wie vorher, nur gegen das erste etwas verschoben. Wenn wir nun
annehmen, daß auch dann, wenn beide Spalte geöffnet sind, jedes Elektron entweder durch
den linken oder durch den rechten Spalt geflogen ist, dann können wir aus den beiden
vorangegangenen Experimenten das Ergebnis des dritten erschließen: Das neue Beugungsbild
wird dann einfach die Summe der beiden vorhergehenden sein; der eine Teil wird erzeugt von
denjenigen Elektronen, die durch den linken Spalt geflogen sind, der andere Teil von denen,
die durch den rechten Spalt geflogen sind.
Man könnte dagegen einwenden, daß die Elektronen in einem Elektronenstrahl sich
gegenseitig beeinflussen, so daß diese Wechselwirkung das Beugungsbild verändern würde.
Man kann, um dieses Argument zu prüfen, den Elektronenstrahl immer weiter abschwächen,
so daß schließlich mit größter Wahrscheinlichkeit jeweils nur ein einziges Elektron durch den
Doppelspalt unterwegs ist. Dadurch ändert sich aber die Verteilung der Streifen in dem
Beugungsbild nicht, es dauert nur länger, bis ein Beugungsbild als dichte Verteilung sichtbar
wird.
Faktisch zeigt sich nun, daß der oben angeführte Schluß falsch war: Wenn beide Spalte
geöffnet sind, entsteht ein völlig anderes Beugungsbild als es die Überlagerung der
Beugungsbilder der Einzelspalte wäre. Irgend etwas an der obigen Schlußkette war also nicht
in Ordnung, und es liegt nahe, die Annahme aufzugeben, daß jedes Elektron durch genau
einen der Spalte fliegt. Dieses Argument ist zwingend, wenn wir für die Theorie Lokalität
10
Heisenberg (1930)
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voraussetzen: Man muß annehmen, daß auf ein Elektron, das durch den linken Spalt fliegt, die
Tatsache, ob der rechte Spalt geschlossen oder geöffnet ist, keinen Einfluß hat. Eine solche
Annahme liegt nahe, denn kaum etwas hat sich in der Physik so sehr bewährt wie die LorentzInvarianz, also die Gültigkeit der speziellen Relativitätstheorie; und aus ihr folgt die
„Lokalität“ der Wechselwirkung. Gemäß der Relativitätstheorie müssen wir also
voraussetzen, daß es für ein „lokal“ durch den linken Spalt fliegendes Elektron gleichgültig
ist, ob der rechte Spalt geschlossen oder geöffnet ist.
Dieses Argument läßt sich durch Experimente am Doppelspalt nicht sehr gut belegen, da die
beiden Spalte ja aus der Notwendigkeit des Experiments heraus sehr nahe beieinander liegen
müssen. Die Diskussion ist aber an anderen Beispielen weitergeführt worden und hat ergeben,
daß tatsächlich Quantenmechanik und Lokalität zusammengenommen die Annahme
ausschließen, daß man quantenmechanische Systeme durch „verborgene Parameter“ wie etwa
Ort und Impuls zugleich beschreiben könnte. Das eingehend zu diskutieren würde aber hier zu
weit führen.11
Der Status von Kopenhagen
Es gibt unter Physikern und Philosophen „Realisten“, die auch für die Quantenmechanik eine
Interpretation nach dem Muster der klassischen Physik suchen. Um das durchhalten zu
können, hat man einerseits die Möglichkeit, das Ergebnis anzugreifen, daß im genannten Sinn
„realistische“ Theorien nicht-lokal sein müssen, andererseits kann man das Ergebnis
akzeptieren und nach neuen nichtlokalen Theorien suchen. Der einzige mir bekannte Vertreter
der ersten Richtung ist Franco Selleri12, der die Zuverlässigkeit der Experimente bezweifelt,
welche anscheinend die Nichtlokalität beweisen. Selleri behauptet gar nicht, daß er eine
überzeugende Gegentheorie vorlege; aber er zeigt wirklich, daß die Konsequenz, die im
allgemeinen aus den einschlägigen Experimenten gezogen wird, nicht logisch zwingend ist.
Das muß man ihm zugestehen; so weit wird man allen derartigen Einwänden folgen müssen;
denn es gibt wohl in der Physik überhaupt keinen logisch zwingenden Schluß, man ist immer
auf einigermaßen plausible Argumente angewiesen.
Die Mehrheit der Realisten akzeptiert, anders als Selleri, die experimentellen Befunde und
gibt realistische Formen der Quantenmechanik an, die entsprechend der obigen
11
12
Einstein, Podolsky, Rosen („EPR“) (1935), Bell (1964)
Selleri (1990)
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Argumentation dann nicht-lokal sind. Hier kommen wir auf den Kernpunkt der Debatte: Es ist
nämlich nicht so, daß „realistische“ Interpretationen der Quantenmechanik schlicht
„unmöglich“ sind. Es hängt vielmehr alles davon ab, was man „möglich“ oder „unmöglich“
nennt, und was man bereit ist, für „physikalisch vernünftig“ zu halten. Einmal mehr zeigt sich
hier ein Problem des Empirismus: Die eigentlich interessanten Fragen lassen sich gar nicht
empirisch entscheiden. Sie brauchen zu ihrer Beantwortung vielmehr außer empirischen
Daten auch eine gehörige Portion Nachdenken, philosophische Arbeit!
Am bekanntesten und überzeugendsten unter den realistischen Vorschlägen sind die von
David Bohm und seiner Schule13. Bohm schlägt keine neue Theorie vor, die sich von der
Quantenmechanik
unterscheiden
würde,
sondern
nur
eine
Umformulierung
der
Quantenmechanik. Und zwar schreibt er die quantenmechanische Theorie eines Ein-TeilchenSystems so um, daß sie formale Ähnlichkeit mit einem klassisch-mechanischen Problem
bekommt. Die „Bahn“ des klassischen Teilchens, die diesem Problem entspricht, postuliert er
dann als die Bahn des entsprechenden quantenmechanischen Teilchens. Diese Bahn ist als
eine Bahn im üblichen Sinn nicht beobachtbar und unterliegt – wie es nicht anders zu
erwarten ist – Fernwirkungen aus anderen Teilen des Raumes, ist also insofern nur schwer als
Beschreibung von Wirklichkeit zu interpretieren. Immerhin zeigen die Bohmschen
Rechnungen, daß man auch in der Quantenmechanik eine Sprechweise einführen kann, nach
der Teilchen auf Bahnen laufen – wenn auch auf sehr skurrilen Bahnen. – Das ist allerdings
nur möglich für Ein-Teilchen-Systeme; für quantenmechanische Mehrteilchensysteme ist eine
Bohmsche Beschreibung bisher nicht gelungen.
Bis hierher scheint sozusagen eine symmetrische Situation zu herrschen: Sowohl die
Kopenhagener Interpretation wie auch die realistische führen eine neue Beschreibung von
Wirklichkeit ein, die von der klassischen abweicht, und in beiden Fällen muß man sich an
neue Beschreibungselemente gewöhnen, die es vorher nicht gab.
Minimal-Interpretation
Die Symmetrie besteht aber nur scheinbar. In Wirklichkeit sagt die Kopenhagener
Interpretation nur das, was notwendig zusätzlich zum mathematischen Formalismus gesagt
werden muß, damit die Quantenmechanik überhaupt eine physikalische Theorie ist. Ein
mathematischer Formalismus, etwa die Theorie des Hilbertraums, ist ja noch keine
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physikalische Theorie. Erst eine physikalische Interpretation einzelner mathematischer
Objekte des Formalismus führen zu einer physikalischen Theorie.
Für die Quantenmechanik wäre das etwa die folgende Interpretation (der nicht fachlich
versierte Leser möge das einfach als ein Bild nehmen für die genannte Zuordnung):
Selbstadjungierte Operatoren entsprechen physikalisch meßbaren Größen, deren Eigenwerte
den möglichen Meßwerten dieser physikalischen Größen, der Zustand eines physikalischen
Systems wird dargestellt durch einen Dichte-Operator (ein gewichtetes Mittel aus
Projektoren); die Wahrscheinlichkeit, einen Meßwert zu finden, ist die Spur des
Operatorprodukts aus Dichte-Operator und Projektor auf den zugehörigen Eigenzustand, und
entsprechend ist der Erwartungswert der physikalischen Größe die Spur des Operatorprodukts
aus Dichte-Operator und Observablen-Operator.
Das Charakteristische an der Kopenhagener Deutung ist, daß sie über diese Minimal-Interpretation nicht hinausgeht. Das wird von „Kopenhagenern“ gelegentlich bekräftigt, etwa in
der Form: „Mehr sagt die Quantenmechanik nicht“, oder: „Wenn die Quantenmechanik
richtig ist – und das bezweifeln wir ja nicht -, dann ist dies auch die richtige Beschreibung der
Wirklichkeit“.
So weit würden wohl auch Realisten die Minimal-Interpretation der Quantenmechanik
akzeptieren. Der Unterschied in der Sicht auf die Quantenmechanik zeigt sich erst bei der
Frage, ob man nun mit diesem Ergebnis zufrieden sein soll oder nicht. Einstein hat sich
vehement dafür eingesetzt, nach einer besseren Theorie zu suchen, da die Quantenmechanik ja
offenbar unvollständig sei, indem sie eben nicht eine „an sich vorhandene“ Wirklichkeit
beschreibe. Bohr dagegen war ganz zufrieden mit dem Bild, das die Quantenmechanik von
der Wirklichkeit zu liefern schien, da er schon unabhängig von der Quantenmechanik ohnehin
der Meinung war, daß die Besonderheit der klassischen Physik, uns das Bild einer
Wirklichkeit an sich zu liefern, unsere Auffassung von dem, was Wirklichkeit sei, eher
irreleitet. So versuchen auch moderne „Realisten“ eher, zusätzlich zu dem, was die
Quantenmechanik liefert, eine Beschreibung zu finden, in der doch „an sich vorhandene“
Eigenschaften von Wirklichkeit vorkommen. Ihr Argument dabei ist, daß es doch erlaubt sein
müsse, auch „ontologische“ Annahmen zu machen, solange sie nur nicht zu Konsequenzen
führen, welche der Quantenmechanik widersprechen. Anhänger der Kopenhagener Deutung,
13
Bohm (1950, 1993); vgl. Passon 2004, dazu Drieschner 2010
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zu denen ich mich zähle, würden dem entgegensetzen: „Die Redeweise von an sich
vorhandenen Eigenschaften von Objekten hat, sofern sie der Quantenmechanik nicht
widerspricht, keinerlei beobachtbare Konsequenzen. Wozu soll es gut sein, auf einer
Beschreibungsweise zu bestehen, die sich nirgends irgendwie manifestiert, und die dabei noch
problematische Elemente enthält, wie etwa Überlichtgeschwindigkeit von Partikeln oder
instantane Fernwirkungen.“
Die „realistische“ Beschreibung der Wirklichkeit von Bohm und seiner Schule scheint mir ein
reines Spiel mit Worten zu sein. Die Anhänger dieser Sprechweise betonen sogar, daß sich die
von ihnen postulierten Wirkungen, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten,
prinzipiell nicht dazu eignen, Signale oder Energie zu übermitteln; sie taugen also tatsächlich
nur als eine ungewöhnliche Sprechweise.
Dieses eben erwähnte Argument gegen die Realisten wird von diesen gelegentlich so
empfunden, als wollten die „Kopenhagener“ aller Welt verbieten, in bestimmter Weise über
die Wirklichkeit zu sprechen. Das würde aber wohl kein Kopenhagener ernsthaft vorschlagen.
Er würde nur davor warnen, denke ich, ein reines Spiel mit Worten für die Beschreibung von
Wirklichkeit auszugeben, noch dazu unter der Fahne des „Realismus“; ein Verbot zu fordern
ist da gar nicht notwendig.
Die Philosophie Niels Bohrs
Ich habe eine Darstellung der Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik gegeben,
wie sie mir vernünftig und verteidigenswert erscheint. Es gibt aber auch andere, abweichende
Auffassungen davon, was die Kopenhagener Interpretation ist. Insbesondere ist Niels Bohrs
eigene Philosophie, auch was die Interpretation der Quantenmechanik betrifft, viel
umfassender als die oben genannte Kopenhagener Minimal-Interpretation; die wäre wohl für
Bohr nichts als pure Selbstverständlichkeit gewesen. Wer sich über die Philosophie Niels
Bohrs informieren will, findet in Klaus Michael Meyer-Abich mit seinem Buch (1965) einen
kundigen Führer.
LITERATUR
K. BAUMANN / R. SEXL (Hrsg.)(1984): Die Deutungen der Quantentheorie, Braunschweig
J. S. BELL (1964). On the Einstein Podolsky Rosen Paradox. Physics l, 195. In Bell (1987)
– (1987). Speakable and Unspeakable in Quantum Mechanics. Cambridge (UP)
Eine Lanze für Kopenhagen
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D. BOHM (1952): Phys.Rev. 85(1952)166,180; abgedruckt in: J.A. WHEELER UND W.H. ZUREK,
(eds.): Quantum Theory and Measurement, Princeton, NJ 1983; deutsch in Baumann 1984.
– / B. J. HILEY (1993): The undivided universe : An ontological interpretation of quantum theory.
London [u.a.] : Routledge
M. DRIESCHNER (2001): Artikel „Unbestimmtheitsrelation“. In: Historisches Wörterbuch der
Philosophie, Bd. 11, Basel.
– (2010): Rezension von Passon (2004) In: Journal for General Philosophy of Science / Zeitschrift für
Allgemeine Wissenschaftstheorie 40 (2010).
A. EINSTEIN, B. PODOLSKY, N. ROSEN (1935). Can Quantum Mechanical Description of Physical
Reality Be Considered Complete? Phys. Rev. 47(1935)777. (genannt „EPR“)
W.HEISENBERG (1927), Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und
Mechanik. Zs.f.Physik 43( 1927)172–198. Abgedruckt in: A. HERMANN(Hg.): W. Heisenberg, N.
Bohr: Die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie. Dokumente der Naturwissenschaft, Band 4.
Stuttgart (Battenberg) 1963.
– (1930), Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie. Leipzig (Hirzel) 1930; Nachdruck
Mannheim (Bibliograph. Inst., htb 1) 21963.
– (1969), Der Teil und das Ganze. München (Piper)
F. HUND (1967), Geschichte der Quantentheorie, Mannheim etc. (Bibliographisches Institut) 31984.
M. JAMMER (1966), The Conceptual Development of Quantum Mechanics. New York (McGraw-Hill)
– (1974), The Philosophy of Quantum Mechanics. New York etc. (Wiley)
K. M. MEYER-ABICH (1965), Korrespondenz, Individualität und Komplementarität. Wiesbaden
(Steiner)
O. PASSON (2004), Bohmsche Mechanik: Eine elementare Einführung in die Deterministische
Interpretation der Quantenmechanik. Frankfurt (Harri Deutsch)
F. SELLERI (1990), Quantum paradoxes and physical reality. Dordrecht [u.a.] (Kluwer).
M.V. SMOLUCHOWSKI (1918): Über den Begriff des Zufalls und den Ursprung der
Wahrscheinlichkeitsgesetze in der Physik. Die Naturwissenschaften, Heft 17 (26.4.1918), S. 253263
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