Das jugoslawische Labyrinth Aleksandar Flaker Die Würde einer Literatur Noch im Jahre 1990 hat eine jüngere kroatische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin ein kurzes Essay veröffentlicht. Den Anlaß für diesen Text gab Van Eycks Bildnis der Heiligen Barbara. Sie stand vor dem Bild und dachte über die Heilige als "Beschützerin des persönlichen Schreibens" nach, die das Schrifttum vor der Zensur hütet. Aber als sie Bücher zu dieser Frage durchblätterte, erwies sich, daß die Heilige eine andere Rolle spielen sollte. Sie sollte eine Patronin der Artillerie, der Soldaten und der Feuerwehr sein! Die Hoffnungen der Autorin erwiesen sich als völlig illusorisch und doch wendete sie sich an die Heilige aus der Kölner Domkirche: "Befreie uns von diesem Donner, von diesem Pfeil, befreie uns von dem Kanonengießer, der Feuerwehr, den Blitzen und den Soldaten" 1. Es war ein literarischer "Vorschein". Nach der Befreiung von den Bedrohungen der "schriftstellerischen Freiheit", besonders von der Verdrängung der nationalen Tradition, befand sich die kroatische Literatur sehr bald in der Lage einer Tätigkeit, die den neuen Bedrohungen, die diesmal das ganze nationale Wesen und die Kultur in Frage stellten, Widerstand leisten sollte. Im Jahre 1991 erkrankte der kroatische Schriftsteller am Kellersyndrom. Die Städte Osijek, Zadar, Dubrovnik oder Karlovac erlebten eine unmittelbare Belagerung und standen monatelang unter Beschuß, das Staatszentrum Zagreb wurde zum Opfer des Luftangriffs und lebte von einem Alarm bis zum anderen, die Mehrheit der Einwohner der kroatischen Städte lebte tageoder wochenlang in improvisierten Schutzkellern. In so einem Keller ist die Sicht verengt, den Feind sieht man nicht, und es bleibt nur ein harter Wille zum Überleben und der Selbsterhaltungsinstinkt eines Volkes. Man hat die Tradition herbeigerufen, man hat sich der nationalen und christlichen Symbole des Leidens und der Hoffnung bedient, martiale Texte wurden geschrieben und komponiert, aber sehr früh hat man auch die Gefahr des Kommunikationsbruches mit der so nahe lebenden und 1 Andrea Zlatar:Treci prizor svete Barbara [Die dritte Erscheinung der Heiligen Barbara]. Gordogan 1990, S. 31-33. 1 schaffenden Welt der europäischen Zivilisation und Kultur bemerkt. Auf diese Bedrohung der "Provinzialisierung" der Kultur, die die schwere Last der nationalen moralischen Instanz übernommen habe, haben manche Stimmen aufmerksam gemacht. Und wenn wir heute die Frage stellen, ob die Literatur der Gefahr der Provinzialisierung entkommen sei, können wir diese Frage im Grunde genommen doch bejahen, auch wenn wir berücksichtigten, daß der "kroatische Dichter" manchmal zu einem "dichterischen Kroaten" wurde, wie es Nikica Petrak, ein kultivierter Dichter des kroatischen Universalismus, ironisch bemerkte. Dabei muß man auch die Realität des eingeengten Büchermarktes, des Zerfalls des Verlagswesens und die sehr geringen Einkaufsmöglichkeiten des möglichen Lesers beachten. Und auch unter diesen sehr schweren wirtschaftlichen und moralischen Umständen, hat die kroatische Literatur, wenn auch nicht in jedem Falle, ihre Würde beweisen können. Es ist kaum ein Zufall, daß zum Kultbuch des Jahres 1991 der Band der Scherben (Krhotine), von einer Kunsthistorikerin geschrieben und bebildert, wurde. Dieser Beitrag der Kenntnisse der kroatischen Provinz im neunzehnten Jahrhundert, wie Zeljka Corak ihr Buch im Untertitel beschrieben hat, ist wirklich den "Scherben" vieler verbaler oder ikonischer Texte aus den Wohnungen der kroatischen "Mittelklasse" gewidmet. Diese Mittelklasse brach zum ersten Mal nach 1945 und zum zweiten Mal im "dritten Krieg" zusammen, und in ihrer Sammlung dieser "Scherben" einer zerfallenden Welt sah die Autorin ihre eigene Möglichkeit, der neuen Katastrophe zu widerstehen. Und das war wirklich nicht wenig! Das Verfahren eines anderen Autors steht der Idee Coraks nahe. Während aber die Autorin "Scherben" in einer vom Kriegsschauplatz entfernten Region gesammelt hat, bietet uns Pavao Pavlicic die "Scherben" aus seiner Kindheit in einer im Kriege völlig zerstörten Stadt. Sein Sapudl (1995) ist zwar der Stadt Vukovar gewidmet, aber im Text des bekannten Krimiverfassers gibt es keine Helden und Schlachten. "Sapudl" ist nur ein Name einer Straße, die es in der Gespensterstadt an der Donau nicht mehr gibt. Schon früher gab es einen "Vorschein". Noch vor den Kriegsereignissen erschien ein Buch, das Donau (Dunav) hieß. Das Buch entsprach nicht der Donau aus dem Text von Claudio Magris: es war der Stadt Vukovar gewidmet, von dem Fluße aus gesehen. Pavlicic hat schon damals ein Denkmal dieser Märtyrerstadt errichtet. Er kommt selbst aus Vukovar! Der Barbarei und der Gewalt konnte die kroatische Literatur die kulturelle Würde einer europäischen Region, die die Renaissance im Mittelmeerraum mit dem mitteleuropäischen Barock verbindet und oft den "Blick nach Bosnien" der Franziskaner und des Islams wendet, entgegenstellen. Es ist kein Zufall, daß sich 2 ein Dichter aus einer anderen verwundeten und bedrohten Stadt an den Nachlaß nicht nur der Literatur, die in Dubrovnik entstand, und der Stadt selbst, sondern auch an die Shakespeare-Tradition anlehnte. Luko Paljetak hat während des Krieges einen Band seiner Lyrik unter dem Titel Flüchtlingsgedichte (slowenisch: Ubezne pesmi, zweisprachig) in Ljubljana herausgegeben, und danach ein Drama, das das mögliche weitere Schicksal der Personen Nach Hamlet (Poslije Hamleta, 1994) dem Theater in seiner Stadt anbot. Der Barbarei, auch den dichterischen "volkstümlichen" Formen des im serbischen Gebrauch mythologisierten Zehnsilbers, stellten mehrere kroatische Dichter, wie Zvonimir Mrkonjic, Nikica Petrak oder Tonko Maroevic, die tradierten Kunstformen des Sonetts gegenüber, und wenn wir die Wege der gegenwärtigen kroatischen Literatur "zurück" zum Plusquamperfekt der allgemeineuropäischen Tradition folgen, so können wir gleich den dichterischen Band der Hundert alexandrinischen Epigramme (Sto aleksandrijskih epigrama, 1993) von Sibila Petlevski erwähnen. Sie hat nämlich in "ihrem Keller" hochkünstlerische "klassische" Verse mit mehreren mythologischen Motiven der Feldzüge des mazedonischen Kaisers und Anspielungen an die Gegenwart geschrieben, und mit dem Begriff Alexandrismus können wir manches in der kroatischen Gegenwartsliteratur bezeichnen. Das sind z.B. auch die Neubearbeitungen der Texte von Euripides, die unter dem Titel Vor dem Tor des Hades (Pred vratima Hada, 1994) Lada Kastelan veröffentlicht hat, und am anderen Pol der kroatischen Dramaturgie die aus Kroatien exterritorialisierten Texte Slobodan Snajders, wie Trost der nördlichen Meere (Uraufführung in Frankfurt/Oder 1995) oder das Schauspiel Die Schlangenhaut (Zmijski slak), das Evangeliummotive und orale Erzähltradition mit der verbrecherischen Kriegsaktualität der Morde und Vergewaltigungen verbindet, ohne auf jegliche konkrete Situationen hinzuweisen. Das Stück des umstrittenen Autors des auch im Burgtheater aufgeführten Kroatischen Fausts sollte durch Italien auch nach Kroatien zurückkommen. Ein Sonderbeispiel der Bezüge kroatischer Autoren auf die Weltliteratur finden wir in Nedjelko Fabrios Roman Der Tod Vronskis (Srt Vronskoga, 1994), der als "achtes Buch der Anna Karenina" geschrieben wurde, und in dem der Held Tolstojs als Freiwilliger nach Serbien in unserer Gegenwart kommt und in Vukovar seinen Tod findet. Die Fabel wird so mit einer Chronik der Belagerung parallelisiert. Das Geschehen im "zweiten Krieg" thematisierte der groteske und karnevaleske Ranko Marinkovic in seinem Roman Never more (1994), in dem auf die Existenzproblematik der Gegewart gezielt wird. Man kann diesen Roman, der auch mehrere ironische oder parodistische Zitate aus der Weltliteratur und dem Film enthält, als ein "Nie mehr!" der ideologischen Manipulation an einem Intellektuellen verstehen. Mit 3 diesem Roman schreitet die kroatische Literatur auch einer Stärkung ihrer im Kriege bedrohten Urbanität entgegen. Wenn wir über die Verteidigung der Urbanität sprechen, müssen wir Sarajevo nennen. Die kroatischen Schriftsteller aus dieser Stadt haben auch ihre Würde behalten. Man kann darauf hinweisen, daß die Schriftsteller aus Bosnien im Transit (Dzevad Karahasan) oder auch für längere Zeit (Miljenko Jergovic, Ivan Lovrenovic u.a.) in Kroatien nicht nur Zuflucht gefunden haben, sondern auch Verleger finden konnten. Dasselbe gilt auch für manche Schriftsteller der serbischen Option, die jetzt in Kroatien wohnhaft sind (Bora Cosic, Mirko Kovac). Es sei auch bemerkt, daß der kroatische Schriftstellerkreis nach 1989 auch die Autoren, die sich in der Emigration befanden, aufgenommen hat. Unter denen soll man an erster Stelle den schon vor dem zweiten Kriege bekannten Dichter und Herausgeber der Kroatischen Revue (Hrvatska revija) im Exil, Vinko Nikolic, erwähnen, aber auch jene, die neben den Motiven eines nostalgischen Patriotismus auch ihre bitteren Erkenntnisse aus den unfreiwilligen Wanderungen durch die europäischen und amerikanischen Räume mitgebracht, und sich auch in den Dienst des kroatischen literarischen Lebens gestellt haben (so der heutige Herausgeber der Zeitschrift Vijenac, Boris Maruna). Allgemeine Anerkennung fand nach 1989 auch die Lyrik des früher schon bekannten Theologen Ivan Golub, nicht wegen der üblichen "katholischen" konfessionellen Motive, sondern dank des sehr breiten Humanismus eines Dichters, der Mut gezeigt hat, in sein Bauernvolk zurückzukommen, um dort authentische, manchmal auch "gotteslästerliche" Aussagen im kajkavischen Dorfdialekt zu verdichten (Covjek od zemlje – L'Uomo di Terra [Ein Mensch der Erde], zweisprachig, Mailand 1994). Auf einer Seite die zurückerworbene Diaspora, auf der anderen Seite eine Vertikale, die auf das Himmlische hinweist, beweisen auch die Würde einer Literatur, die diese Dimensionen ihres Raumes früher marginalisieren oder gar verschweigen mußte. Hier können wir nicht alle Werte der gegenwärtigen kroatischen Literatur nennen. Aber wir dürfen z.B. nicht die ständige Anwesenheit des weniger in den Medien gezeigten Dichters Daniel Dragojevic, oder die Rückkehr von der Gelegenheitsdichtung zurück zu Motiven seiner schwer beschädigten Heimatstadt im Buche Karlstädter Diptychon (Karlovacki diptih, 1995) des bekanntesten kroatischen, auch in Österreich übersetzten, Dichters Slavko Mihalic marginalisieren. Man konnte schon in dieser Auswahl mehrere Beispiele des Anteils der kroatischen Frauen an der Literatur bemerken. Zusätzlich zu den schon erwähnten Namen, wenn wir die Frauen, die in der Publizistik eine große Rolle spielten und spielen, außer Acht lassen, müssen wir doch wenigstens die zurückgezogene, schüchterne, 4 aber sehr sensible Dichterin Anka Zagar nennen, und als wir schon diesen Beitrag geschrieben haben, erfuhren wir, daß wir bald ein Prosabuch von Sibila Petlevski unter dem Titel Pariser Suiten (Pariske suite) erwarten dürfen. Kroatische Schriftstellerinnen standen schon vor 1989 im Vordergrund der kroatischen Literatur; in der Kriegszeit wurde ihr Anteil an der Würde der Literatur als einer humanistischen Tätigkeit noch sichtbarer. Dieser Text ist hier nur zur privaten Lektüre verfügbar. Im Rahmen von [house]: http://www.kultur.at/3house Achten Sie die Urheberrechte! Falls Sie etwas anderes als private Lektüre ins Auge fassen, verständigen Sie sich bitte mit dem Autor. 5