RTF-Dokument

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„Jürg Frey: Unhörbare Zeit“
ein Film von Urs Graf
INS UNBEKANNTE DER MUSIK
Dieser Titel der kleinen Filmreihe hat zwei Bedeutungen:
1. Miterleben wie ein Musikstück entsteht – ein Prozess, bei dem weder der Komponist noch der Filmautor
wissen können, wohin er führen wird.
2. Ich habe mich entschlossen, drei Filme mit Komponisten zu realisieren, die sich bei Ihrem Schaffen immer
wieder die Frage stellen, was Musik noch sein könnte – jenseits all dessen, was heute allgemein unter
sogenannter Zeitgenössischer Musik verstanden wird. Das Unbekannte (der Musik, der Kunst) liegt nicht in
einer bestimmten Richtung, es ist rund um und in uns.
Daher drei Filme mit drei Komponisten (zwei Komponisten, eine Komponistin) von drei grundsätzlich
verschiedenen musikalischen Ausrichtungen und von drei Musiker-Generationen. Jeder Film steht aber auch
für sich allein, ich bin dabei ganz auf diesen Menschen, auf dieses Schaffen konzentriert. Und die Dauer der
Arbeit des Komponisten bestimmt auch die Dauer meiner Arbeit. Wie beim ersten Film erstreckten sich auch
hier die Dreharbeiten fast über zwei Jahre hinweg - mit gleichzeitiger Rohmontage, gefolgt von einem halben
Jahr für die Fertigstellung des Films.
Ein Film von Urs Graf
(Buch, Regie, Kamera, Ton, Montage, Produktion und Texte, Sprecher)
Dem Nachspann ist zu entnehmen ist, dass ich den Film (mit Ausnahme der Uraufführung des Stücks) allein
realisiert habe. Das hat zwei Gründe:
Um einen Komponisten bei seinem Schaffen mit der Kamera zu begleiten, bedarf es einer sehr engen
Beziehung, eines sehr grossen Vertrauensverhältnisses. Ich bin seit Jahrzehnten an zeitgenössischer Musik
interessiert; Musiker und Komponisten gehören schon lange zu meinen nahen Freunden. So entstanden die
Aufnahmen bei längeren Besuchen, bei einem freundschaftlichen Zusammensein, das nicht nur von den
Dreharbeiten bestimmt war. Einer (noch so kleinen) Equipe wäre dies nicht möglich gewesen. Unser
Kontakte, unsere Gespräche waren nicht nur auf den Film ausgerichtet – sie begannen schon Jahre davor
und dauern weiter an.
Mein Interesse gilt einem Schaffen, das über die Grenzen der (eigenen) ästhetischen Konventionen hinaus
zu gelangen versucht. Schon ein Filmprojekt über relativ prominente Musiker, die sich im Rahmen dessen
halten, was heute allgemein unter Zeitgenössischen Musik verstanden wird, wäre schwierig zu finanzieren
gewesen. Doch interessiere ich mich ja gerade für Komponisten, die diese Grenzen in ihrem Schaffen immer
wieder überschreiten (und die daher nur einem kleinen Kreis bekannt sind). Es lässt sich leicht vorstellen,
dass ein solches Film-Projekt nur von wenigen Stellen und mit relativ kleinen Beiträgen unterstützt wird,
sodass ich das Budget auf ein absolutes Minimum beschränken musste. So wären Dreharbeiten mit einer
Equipe gar nicht finanzierbar gewesen.
Einzig Marlies Graf Dätwyler war bei den Musik-Aufnahmen für den DAT-Ton dabei und sie schützte mich
bei der Montage vor partieller Blindheit gegenüber dem eigenen Filmmaterial.
Ins Unbekannte – nicht nur – der Musik.
Natürlich bin ich als Filmautor sehr an dieser Musik interessiert – seit Jahrzehnten – (sonst wäre gar nicht an
eine solch enge Zusammenarbeit mit Komponisten zu denken gewesen). Doch gleichzeitig gibt es auch
noch ein tiefer liegendes Interesse, ein Interesse, das sich nicht auf Musik beschränkt – ein Interesse, das
auch der Teil des Publikums mit mir teilen kann: miterleben wie jemand in seinem Tun Neuland erkundet,
sich über das Altbekannte hinaus wagt. Ich hoffe, dass diese meine Sehnsucht nach dem Überschreiten der
Grenzen des Gewohnten der alltäglichen (und der filmischen) Konventionen auch von meinen Mitbürgern
geteilt wird.
Wichtig war mir, dass der Film auch einem Publikum Gewinn bringen kann, das keinen Zugang zur aktuellen
(sogenannten) E-Musik hat. So ist der Film für viele auch ein Einblick in eine fremde Welt hierzulande,
vermittelt eine Ahnung von den Hintergründen musikalischen Schaffens, der Dringlichkeit künstlerischen
Schaffens: der ständigen Suche nach etwas, das jenseits dessen liegt, was dem Komponisten bekannt ist,
die Suche nach Strategien, um sich selbst zu überlisten – um über die eigenen Gewohnheiten, die
gesellschaftlichen und künstlerischen Konventionen hinaus zu gelangen. So hoffe ich, dass ein Publikum
darin auch etwas von seinen Wünschen und Sehnsüchten entdecken.
So ist es nicht entscheidend, ob ein Publikum an der entstandenen Musik „Gefallen“ findet, das Wesentliche
muss sich unterwegs – beim Entstehen des Werks – mitgeteilt haben (auf einer Ebene, die wenig mit
musikalischen Kenntnissen zu tun hat). Aus diesem Erlebnis heraus kann auch ein Interesse für das
Resultat dieses Prozesses entstehen – für das Werk, dessen Uraufführung den Film beschliesst.
Eine Anekdote zum Thema „Gefallen“:
Nach einem Konzert hörte ich einen Komponisten aus dem Publikum zum Komponisten, dessen Werk eben
uraufgeführt worden war, sagen: „Dein Stück hat mich wahnsinnig irritiert – das war ganz toll!“
Zwei Qualitäten.
An den Solothurner Filmtagen 2006 beherrschte das von Nicolas Bideau lancierte Thema „Qualität und
Popularität“ die öffentlichen Auftritte und durchzog die Berichterstattung der Medien:
Popularität war mir nie Thema.
Da ich ein gesellschaftlich interessierter Mensch bin, zeigt sich das halt auch in meinen Filmen.
Doch bei der Arbeit an den Filmen geht es nur um Qualität. Und zwar um zwei Arten von Qualität:
Es geht um die Qualität der Gestaltung der Bilder, Töne, Texte, der Montage – kurz: der ganzen Form des
Films. Und es geht um eine zweite Art der Qualität: Es geht darum, dass mein Film etwas leistet - über das
Konkrete seiner vordergründigen Themen hinaus. Es geht darum, dass mein Film in der Vertiefung seiner
Themen etwas anspricht, das auch mich berührt und interessiert – Dinge, die mir in meinem Leben wichtig
sind.
Ich bin davon überzeugt, je weiter die Themen eines Films vertieft werden, desto näher kann man an ein
Bereich gelangen, der uns – der vielen Menschen gemeinsam ist, wo viele etwas aus ihrem Leben
wiedererkennen können.
Das ist keine Spekulation auf Popularität, aber es ist ein Massstab dafür, ob der Film über meine privaten
Interessen hinaus etwas leistet. Wie weit dies beim einzelnen Film gelungen ist, kann ich meist erst aus
etwas zeitlicher Distanz beurteilen.
Zentrale Themen des Films.
Einige wenige (aus den Zusammenhängen des Films gerissene) Zitate, in denen das besonders hervortritt,
um das der Film kreist, wenn er miterleben lässt, wie das Musikstück „Unhörbare Zeit“ entsteht - Vorhaben,
Arbeitsweise, künstlerische Haltung von Jürg Frey – und die Beziehung zwischen der Kunst und dem
sogenannten Alltag:
„…der Raum ist da und es ist ein stehender Klang von diesen vier Streichern und den zwei
Schlagzeugern – das ist quasi die Ausgangssituation…
Ich stelle mir jetzt vor, eine halbe Stunde wäre das Stück. Dann würde dieser Klang eine halbe
Stunde da sein. –
Aber ich habe immer ein ambivalentes Gefühl, weil ich gestalterisch ein bestimmtes Bedürfnis
habe…
…wenn ich (diesen einen Klang) zerstöre, hoffe ich auch etwas zu gewinnen daraus – ich möchte,
dass am Schluss wirklich ein Gewinn da ist – ich möchte mehr –
der halbstündige Klang ist einfach da und wenn man die Situation akzeptiert hat, dann ist keine
Gefahr da. Es ist einfach nicht gefährlich. kompositorisch ist es eigentlich kein Wagnis.
… diese Situation von dieser halben Stunde – ja man muss sie zerstören.“
Er sagt, er versuche sich dem Stück, dieser Wolke, diesem vagen und verletzlichen Etwas ganz
vorsichtig zu nähern, seine Fähigkeiten dafür offen zu halten – nahe und erreichbar, aber doch auf
einer tieferen Ebene, so dass sie die Sache nicht berühren oder gar vereinnahmen.
„Ich möchte die Schönheit, die vom Material ausgeht, erlebbar machen. Es gibt Augenblicke, in
denen man das einfache und eindeutige musikalische Material hören kann – Augenblicke, in denen
das Hören nicht durch Erinnerungen verstellt ist. Dann wissen wir zuerst nicht, was wir vor uns
haben und wo wir sind; aber es ist gerade das, was ich suche, dieses Material und diesen Ort.“
Er sagt, es sei ihm wichtig, ob er die Karotten für ein bestimmtes Gericht in Stäbchen oder in
Scheibchen schneide und es sei ihm wichtig, wie er es auf den Tisch bringe. Und in diesem Sinn sei
beides – die Kunst und der ganze Rest - auf derselben Ebene. Und so könne er auch relativ leicht
vom einen zum andern hinüber wechseln.
Und er sagt:
„Wenn man seine Kunst auf ein Podest stellt, braucht man danach all seine Kräfte, um sich dagegen
zu stemmen, damit sie nicht wieder herunterfällt.“
Musik, Musiker und Musikerinnen
Jürg Frey ist befreundet mit den Komponisten und Musikern Christian Wolff und Antoine Beuger. So war es
kein Zufall (aber für mich ein grosses Geschenk), dass diese im Zeitraum meiner Dreharbeiten zusammen
mit Jürg Frey an Konzerten ihre Stücke spielten.
Auch ein grosser Gewinn für den Film war, dass das kanadische Bozzini-Streichquartett das Stück
„Unhörbare Zeit“ uraufführte. Und dies mit der Präsenz, Intensität, Lebendigkeit, für die das Quartett bekannt
ist.
Das Bozzini-Quartett hatte auch schon die Streichquartette von Jürg Frey auf CD eingespielt (Wandelweiser
EWR 0410).
Die genauen Angaben zur Musik in diesem Film (Komposition, Stück, Interpreten) finden sich im Nachspann
des Films; dieser ist im Filmprotokoll aufgeführt.
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