Nachgefragt Der Paarpsychologe FSP, Josef Lang, zu Liebe, Sex und Zärtlichkeit zwischen Senioren (Interview in “Limmattaler Tagblatt” Dienstag 21.3.2000 ) Herr Josef Lang, wie erklären Sie sich als Psychologe FSP, dass verliebte Senioren selten ein weiteres Mal heiraten? Josef Lang: Viele Paare heiraten erst, wenn sie mit Blick auf ein Kind eine zusätzliche Sicherheit bauen wollen. Das fällt bei Senioren weg. Zudem bedarf Verliebtheit und Liebe nicht der Heirat, um gedeihen zu können. Achtung, Freiheit, Toleranz und Pflege der Beziehung sind ebenso wichtige Faktoren. Freie Formen der Beziehung, wie sie häufig praktiziert werden, entsprechen dem Gefühle eines autonomen Menschen. Nach dem Schmerz eines Partnerverlusts oder der Erfahrung einer schwierigen Beziehung riskieren Senioren nicht unbedingt gleich wieder eine feste Bindung. Ist die Wahl des Partners im Seniorenalter zufälliger als in Jugendjahren, im Sinne von: Hauptsache man hat jemanden? Lang: Zufälliger ist sie nicht. Vielleicht sind ältere Menschen sogar wählerischer als jüngere. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie sehr Menschen mit zunehmendem Alter ehrlicher werden und von falschen Rücksichtnahmen absehen. So wird nicht Liebe vorgetäuscht, wo keine ist. Dass sich aber jede «reine» Liebe mit handfesten Interessen verbinden lässt, ist auch bei Senioren nicht auszuschliessen. Weshalb verschiebt sich im «zweiten Frühling» das Bedürfnis weg von Sex hin zu mehr Zärtlichkeit? Lang: Die Sexualität kennt viele Spielformen, die manchmal erst mit dem Schwächer werden des Sexualtriebes entdeckt werden. Das Bedürfnis nach Sex geht dabei nicht verloren. Das Potential zu erotischer Liebe ist lebenslang und umfasst mehr als Geschlechtsverkehr. Wenn Senioren mit nachlassender Attraktivität der Körper eine Verinnerlichung mancher Lebensvollzüge entwickeln, kann auf diesem Boden Zärtlichkeit gedeihen, die sich viele schon immer gewünscht haben. Viele Seniorenpaare beenden gleichzeitig mit der Beendigung des Geschlechtsverkehrs auch andere sexuelle Aktivitäten. Inwiefern unterscheiden sich dabei die Bedürfnisse zwischen Frau und Mann? Lang: Sex spielt für Männer ursprünglich eine grössere Rolle, doch dies verwischt sich mit zunehmendem Alter; Sexualität verliert bei ihnen in stärkerem Masse an Bedeutung als bei Frauen. Bei den 60- bis 69-Jährigen spielt Geschlechtsverkehr bei 85 Prozent der Männer und bei 50 Prozent der Frauen eine Rolle, bei den 70- bis 79-Jährigen kehrt das Interesse um: Es sind jetzt 30 Prozent der Männer und 38 der Frauen. Frauen scheinen in einer Seniorenliebe selbstbewusster zu sein. Sind sie die aggressiveren, emanzipierteren Frauen? Lang: Es gibt mit zunehmendem Ehealter einen Trend zu einer grösseren weiblichen Dominanz - Ausnahme: Sexualität. Falsche Rücksichtnahmen sind nicht mehr nötig. Menschen in reiferen Jahren entdecken oft die Einmaligkeit ihres Lebens. Was einem Schock nahe kommen kann, ist zugleich ein Aufbruch, radikaler sein Leben zu leben. Warum bleiben Männer im hohen Alter eher in traditionelleren Mustern verhaftet? Lang: Wo die Vergangenheit länger wird als die Zukunft, wird die Tradition gewichtiger. Da Männer eine kürzere Lebenserwartung haben und intensiver in Strukturen eingebunden wurden, mögen sich traditionelle Muster klarer zeigen. Weshalb betrachtet der Nachwuchs das späte Liebesglück seiner Eltern oftmals mit Misstrauen? Lang: Das Gelingen einer zweiten Ehe von Senioren hängt wesentlich von der Zustimmung der Kinder ab. Zudem ist die ökonomische Situation entscheidend. Doch genau im «Ökonomischen» könnte das Misstrauen begründet sein. Vielleicht sieht der Nachwuchs einen Teil des gedanklich schon annektierten Erbes plötzlich davonschwimmen. Und: Der jüngere Mensch mag fälschlicherweise annehmen, Liebe sollte für Opa oder Oma keine Rolle mehr spielen. Dabei wissen wir, dass drei Viertel der Zweitehen von älteren Menschen von den Beteiligten als Erfolg erlebt wird. (pan)