Frank Gerhardt: „spazio - suono“ über die musiche notturne marciane 1. Dass ein Komponist über „Raum“ zu Ihnen sprechen möchte, klingt auf Anhieb wie eine der grössten Plattitüden Neuer Musik. Sicherlich gibt es kaum ein anderes Thema, das in den ästhetischen Debatten der letzten Jahrzehnte eine so zentrale Rolle einnahm. Wenn es aber in dem heutigen Zusammenhang trotzdem sinnvoll wie hilfreich erscheint, sich mit diesem Begriff zu beschäftigen, dann weil die Rolle des Raumes in seiner zeitlichen wie örtlichen Bedeutung gleichermassen zentral für meine Stücke, die Neue Musik im Allgemeinen und Venedig steht. Tatsächlich ist es so, dass die Stadt im Mittelpunkt der Überlegungen stehen wird: ein Gravitationszentrum für Musik aller Epochen, nicht nur der Moderne. Schließlich ist es gerade die Alte Musik, deren Klangwelt sich derart mit dem visuellen Bild der Stadt zu decken scheint, dass beides über touristische Zwecke hinaus nahezu synonym geworden ist: Vivaldi, Barock, die Oper etc... im kollektiven Assoziationsraum stehen diese Töne und die Bilder der Palazzi und Kanäle fest aneinandergebunden: Zeichen einer goldenen Vergangenheit und Zielpunkt mehr oder weniger klarer Wunschbilder eines imaginären Lebens. Nun weiss man sicherlich gerade in Venedig sehr genau um die „Verführung der Oberfläche“: um die Kraft der Fassade und die Verklärung, die die zeitliche Distanz einer Epoche angedeihen lässt. Sie sehen also: wir kommen quasi notwendigerweise auf Räume zu sprechen. Solche des Ortes und solche der Zeit - und dass diese beiden Ebenen sich letztlich immer gemeinsam und gegenseitig definieren ist eine der grundlegenden Mystifikationen, denen Kunst immer schon nachzuspüren versucht. 2. Ein Blick auf die Werke der alten Meister ermöglicht uns bezüglich ihrer Verortung eine klare Antwort: diese Musik besitzt ihren Raum, steht fest in einem ganzen Kanon uns vertrauter Zusammenhänge: ob zeitlich oder formal, Fragen der Klänge oder ihrer Ordnungen betreffend, ob es um thematische oder inhaltliche Dinge geht: die Grenzen, in denen sich diese Musik bewegt sind uns bekannt. Und dass uns auch innerhalb dieser Grenzen noch eine unendliche Vielfalt von Brillanz, Phantasie und Schönheit entgegenklingt, macht die Entdeckung dieses Bezirkes für alle zu einem wunderbaren Erlebnis. Nun ist es natürlich keine Neuigkeit, dass dieser stabile Raum zu seiner Entstehungszeit keinesfalls stabil war, sondern sich Festigkeit und Einheitlichkeit seiner Erscheinung eben durch unseren Blick aus (im Falle des Barock) über 300 Jahren Entfernung erst ergeben. Wie gesagt: die Grenzen, in denen sich diese Musik bewegt, sind uns bekannt, denn wir wissen um das Davor und das Danach - die Arbeit der Komponisten jedenfalls war alles andere als sicher und das uns heute geläufige Werk wie alle Kunstproduktion ein Ergebnis von geglückten und gescheiterten Versuchen, Fort- und Rückschritten, Zweifeln, von Neugier wie von Unsicherheiten geprägt. 3. 1 Wir sind auf jeden Fall in der gleichen Situation, und man muss zugeben, dass Komponieren heute vielleicht noch etwas komplizierter geworden ist, eben weil unsere Ordnungssysteme offener geworden sind und sich die Suche danach häufig als lange und schwierig erweist. Wenn also die Alte Musik ihren „Raum“ besitzt, so muss ihn sich die zeitgenössische erst wieder schaffen und zwar (und hier findet sich wirklich ein „Neues“ der Neuen Musik) für jedes Stück individuell. Eine seriöse Lösung kann eingedenk der Diversifizierung der uns umgebenden Welt nur eine individuelle Werkgestalt sein, genau und verantwortungsvoll den jeweiligen Intentionen und klanglichen Möglichkeiten angepasst. Vielleicht ist gerade hier ein Kern der Venedig-Faszination innerhalb der Modernen Kunst zu finden, denn auch für diese Stadt ist die Raum-Suche konstitutiv geworden. Von fast allen Orten ist Venedig die am wenigsten selbstverständliche Stadt - alles andere als ein „Selbstläufer“ und Normalentwickler sondern ein Unikum: ein autonomes, gänzlich eigenständiges Ordnungskonzept, der Natur abgetrotzt. Quasi eine Stadt per SelbstDefinition und nicht durch die Wiederholung gängiger Rezepte. 4. Wenn man nun die zeitgenössische Musik nach ihren Methoden befragt, sich diesen eigenen Raum zu erschaffen, dann stösst man beinahe zwangsläufig auf ein Thema, das den Kern der Verbindung zur Stadt Venedig beinhaltet und das man mit einem kurzen Begriff als „Präsenz der Geschichte“ umschreiben kann: Die Suche nach Ort und Legitimation unseres Arbeitens geht einher mit der Hinterfragung der modernen Positionen im Kontext der abendländischen Musikgeschichte. Tatsächlich ist die Beschäftigung mit den Werken vergangener Epochen eines der zentralen Themen der modernen Kunst im Allgemeinen. Keine andere Phase der Geschichte hat die Historie, wie auch die sie prägenden Künstler, so umfassend befragt und Ihre Klänge als Zitate und Allusionen in die eigenen Arbeiten eingefügt wie die Unsere. Dafür spielt sicherlich die erstmalige Verfügbarkeit aller Musik auf elektronischen Medien eine grosse Rolle - es aber damit allein begründen zu wollen greift zu kurz. Viel wichtiger erscheint das Bedürfnis heutiger Künstler, sich als Teil eines zeitübergreifenden Projektes zu definieren, Gemeinsamkeiten bezüglich Inhalt und Motivation ihres Arbeitens kenntlich machen und präsentieren zu können - natürlich jenseits der blossen Kopie alter Rezepte, die es leider auch gibt und die wohl gerade wegen ihres „Venedig-Effektes“ so viel Erfolg haben: Trugbilder einer scheinbar heilen Vergangenheit. Wir erleben heute die Situation, dass verschiedenste Einflüsse auf die Musik wirken und entsprechend auch auf vielfältigste Weise den Klang und die Struktur zeitgenössischer Werke prägen. Allerdings zieht die heute häufige Beliebigkeit der verwandten Mittel die falschen Schlüsse aus den ästhetischen Fragestellungen. Vielmehr bleibt der zwar individuelle aber doch einheitliche Ansatz eines aus der Jetztzeit heraus denkenden und arbeitenden Komponisten unabdingbare Voraussetzung für künstlerische Qualität - auch dies ein Signum, dass für alle Epochen der Musikgeschichte bestand hat. 5. Der Begriff der „Präsenz der Geschichte“ führt uns zwangsläufig zu Venedig und ist nahezu paradigmatisch für die Essenz dieser Stadt. Er überschreitet bei Weitem die 2 Ebene bildlich, architektonischer Erscheinung und reicht bis in den Kern ihrer Existenz. Venedig ist vollgesogen mit Kunst der verschiedensten Epochen und gerade für Musiker ist dieses Reservoir extrem präsent. Viele der Grundlagen der Musikgeschichte (und damit eben auch der Jetztzeit) sind in dieser Stadt gelegt worden: die Mehrchörigkeit, Fragen der Klangfarbe und ihrer räumlichen Wirkung, die Erfindung der Tonalität um 1600 - diese (und noch andere) Grundlagen sind Venedig zuzuordnen und bleiben natürlich mit dem Bild dieser Stadt verbunden. Paradigmatisch für die Auseinandersetzung mit diesem historischen Material steht auch das Werk Luigi Nonos. Venezianer und einer der zentralen Komponisten der Moderne hat er sowohl bezüglich eigener Werke, wie in seinen ästhetischen Reflexionen immer wieder vom Klang und seiner Reise durch die verschiedenen Epochen der Musikgeschichte gesprochen. Auch die von ihm immer wieder benannten Anknüpfungen an die venezianischen Musik des 16.Jahrhunderts (z.B. Gabrieli) sind unüberhörbar und in Ihren Konsequenzen für die nach ihm arbeitenden Komponisten bedeutsam geworden. 6. Zu behaupten, dass in meinen Stücken alle diese Bestrebungen nachzuvollziehen sind, ist natürlich gleichermassen falsch wie vermessen. Kein einzelnes Werk kann ästhetische Entwicklungen, die sich über Generationen von Komponisten erstrecken, in ihrer Gänze abbilden - umso weniger, wenn es sich um so kleinformatige Arbeiten wie die vorliegenden handelt. Trotzdem sind die besprochenen Tendenzen signifikant für die heute erklingenden Stücke: wie in einem Brennspiegel bündeln sich hier die oben beschriebenen Phänomene. Die „marciana“-Stücke verflechten viele Raum-Stränge zu einer Linie, Themen, die sich gegenseitig beleuchten und hinterfragen: musikhistorische wie biographische Auseinandersetzungen, Fragen der Instrumente, ihrer Farben und Verwendung, letztlich auch das „stille“ Grundthema der ganzen Werkreihe: Erinnerung und die ihr innewohnenden Möglichkeiten. Erinnerung über Epochen hinweg, bezüglich der eigenen Biographie wie auch innerhalb des engen Zeitrahmens eines erklingenden Musikstücks wird hier behandelt: wie wird sie wahrgenommen und welche Bedeutung hat die Wiederholung in solchen Zusammenhängen? Ist sie überhaupt als Identität des Gleichen möglich oder besitzt nicht sowohl die Zeit wie auch das eigene Bewusstsein die viel stärkere Kraft, Ereignisse und ihre Einordnung zu verändern? Ist Erinnerung nicht eher ein höchst subjektives Gut - wie eine Fata Morgana, nur eben auf der rückwärtigen Seite des eigenen Weges? 7. Dass dieses Thema gleichzeitig von zentraler Bedeutung für die Wahrnehmung Venedigs ist, wird niemand bestreiten. Erinnerung als Neuschöpfung oder Fragen nach der Trughaftigkeit einer bildhaften Erscheinung sind essentiell für diese Stadt und jeden, der sie einmal besuchen konnte und so schliesst sich hier auch der Kreis, erklärt sich 3 einerseits, warum die Werke des heutigen Abends venezianische Stücke sind, wie auch, warum Klänge einer vergangenen Epoche, hier die Allusionen von Originalzitaten Monteverdis, für den Werkzyklus konstitutiv sind. In den Assoziationen der Nacht, des 17.Jahrhunderts, der Gitarre und ihrer Klangwelt beschreibt sich eine irreale, quasi „traumhafte“ Vereinigung von Vergangenheit und Gegenwart, die aber gleichzeitig merkwürdig nah an der Realität Venedigs ist. Und vielleicht sehen wir gerade hier schon ein wenig vom Kern des „venezianischen Mythos“ vor uns: keine blosse Stadt sondern gleichzeitig auch eine Vision der Vergangenheit zu sein. Wir begegnen in den Stücken plötzlichen Änderungen der Gegebenheiten, des Lichts, der Verhältnisse - Wichtiges wird nebensächlich, Nebensächliches bekommt zentrale Bedeutung: ein ständiger Perspektivenwechsel, bildlich der schwankende Boden auf dem Stadt und Stück stehen. Gerade aber in einer so vagen Situation, in der Darstellung eines zerbrechlichen Momentes öffnet sich die Möglichkeit für einen Blick hinter die Fassade der puren Logik, werden Begegnungen möglich - Geistesverwandtschaften über Epochen hinweg. (März 2005) 4