KULTUR 15 NORDWESTSCHWEIZ MONTAG, 18. JANUAR 2016 Sei uns gegrüsst, du holdes Venezia Operette Mit Johann Strauss’ «Eine Nacht in Venedig» setzt sich die Theatergesellschaft Beinwil am See ein Denkmal Dazu geben alle, die dort oben stehen, spürbar ihr Bestes. Das ist eine gehörige Portion an darstellerischem und stimmlichem Können. Musikalisch erfreuen auch die Damen und Herren im Orchestergraben, wie sie unter Stabführung von Konrad Jenny das venezianische Volksleben, die unbeschwerte Heiterkeit und die Liebesglut in den einfallsreichen Strauss-Melodien wunderbar wiedergeben. Die Damen und Herren vom Chor überzeugen nicht nur gesanglich, sondern ebenso durch ihre leidenschaftliche Präsenz und ansteckende Spielfreude. VON ROSMARIE MEHLIN Draussen schneits, doch drinnen, im Löwensaal, herrscht eitel Sonnenschein. Wir befinden uns in Venedig, zwar auch zur Winterszeit, doch sprühende Italianità und Carnevale bodigen jedwede tiefen Temperaturen. «Alle maskiert, wo Spass, wo Tollheit und Lust regiert . . .» Die Handlung von «Eine Nacht in Venedig» ist ganz so, wie Operetten-Libretti sie zuhauf erzählen. Geschichten von Liebesfreuden, Verführern und Verführten, mehr oder weniger standhafter Treue und von nicht selten doppelt und dreifach potenzierten Verwechslungen. Auch wenn dies bestens bekannt, so ist das Geschehen doch immer wieder amüsant. Denn da ist ja, vor allem anderen, die Musik, sind die Ohrwürmer zum Schwelgen und Mitsingen: «Komm in die Gondel mein Liebchen oh, steige nur ein . . .» Gegen 500 Walzer, Polkas, Mazurken, Galopps hat Johann Strauss geschaffen, dazu ein gutes Dutzend Operetten, von denen die meisten allerdings schon lange nicht mehr aufgeführt werden. Drei aber sind noch immer Höhepunkte auf vielen Spielplänen: die «Fledermaus», der «Zigeunerbaron» und «Eine Nacht in Venedig». Diese dritte führt die Theatergesellschaft Beinwil am See nun zum ersten Mal in ihrer 152-jährigen Vereinsgeschichte auf. Temperament und komödiantisch Ein Hauch von Fellini Der Applaus nach der Premiere am Samstag wollte nicht enden. Nicht grundlos: «Mir ist auf einmal so eigen zumute. Irgendwas prickelt und kitzelt im Blute. Irgendwas trägt mich weit weg in Himmels Seligkeit . . .» – die Annenpolka im 2. Akt bringt auf den Punkt, wie man sich als Zuschauer und Zuhörer im Löwensaal fühlt. Die Begeisterung fängt beim Bühnenbild und der raffinierten Beleuchtung (Ueli Binggeli) an und mündet in Staunen ob der pfiffigen Szenenverwandlung bei offener Bühne. Dann sind da die Kostüme, diese mitreissenden, opulenten Augenweiden, die Walter Joss und Vivat Techavanvekin geschaffen haben. Ob Solist, Statist oder Chormitglied – das Outfit jeder Figur ist ein Bijou für sich, geschaffen aus einem Füllhorn kreativer Fantasie und realisiert aus teilweise sehr edlen Stoffen mit liebe- Annina, Pappacoda, Ciboletta und Caramello in ihren originellen Kostümen. vollen Details, Glitter und Glanz. Zum dritten Mal stellt Monika Wildi mit dieser Inszenierung in Beinwil ihr aussergewöhnliches Talent unter Beweis. Bewegung, Schrittfolgen, Tanz und Ruhe wechseln sich wohldosiert ab. Mit den Solistinnen, Solisten, Damen und Herren vom «Treu sein, das liegt mir nicht . . .» Der köstlich dekadente Herzog FOTOS: PETER SIEGRIST Chor zaubert Wildi fesselnde Bilder ins Bühnenbild. Verstärkt durch teilweise köstlich überzeichnete Masken und Frisuren (Monika Malagoli), erinnern sie, je länger der Abend, desto mehr an Figuren Federico Fellinis. «Ach wie so herrlich zu schaun, sind all die reizenden Fraun . . .» In dieser «Nacht in Venedig» stieben die Funken von der Bühne hinunter und entfachen im Publikum grosse Begeisterung. Wesentliches dazu tragen natürlich auch die Solistinnen und Solisten bei. In ihren Rollen sind sie trefflich besetzt und packen nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch. Daniel Zihlmann ist, die Frauen reihenweise verführend – «Treu sein, das liegt mir nicht. . .» –, ungewohnt dekadenter, aber gerade dadurch köstlicher Herzog. Ulla Westvik als Annina und Simone Rigling als Ciboletta führen ihre Männer mit Charme, Köpfen und Temperament mitreissend an der Nase herum. Thomas Leu ist zwar Zürcher, überzeugt aber als durch und durch italienischer Makkaronikoch. Raphael Höhn als herzoglicher Barbier gefällt vor allem in seiner Eifersucht, die sein Meister in ihm entfacht. Sehr amüsant und bestens gelungen sind auch die komödiantisch-komischen Auftritte von Christian Jenny, Pascal Ganz und Peter Eichenberger, der drei alten Senatoren, ganz zu schweigen vom visuell überwältigenden Erscheinen ihrer Gattinnen. Kurzum – sich sattsehen und satthören an dieser Aufführung fällt schwer. So tritt man denn nach drei Stunden – «Ninanana, Ninanana, hier will ich singen» in den Ohren – beglückt vom sonnigen Markusplatz hinaus in den verschneiten Löwenplatz. Vorstellungen vom 22. Januar bis 3. März. Ticketreservation www.theatergesellschaft.ch Chor und Solisten überzeugten nicht nur durch die Musik, sondern auch in der theatralischen Darstellung. Aargauer Absenzen Fachbuch Ein musikgeschichtliches Buch über die Schweiz hat für Aargauer Komponisten nur ein paar Streiflichter übrig. VON WALTER LABHART Erstmals seit 1932 liegt wieder eine Musikgeschichte der Schweiz vor. Verfasst hat sie ein Innerschweizer, der Sarner Musikologe, Organist, Historiker, Radioredaktor, Staatsarchivar, Musikkritiker und Professor für Deutsche Philologie Angelo Garovi. In dreissig kurzen Kapiteln lässt er sehr anschaulich Re- vue passieren, was, wo und gelegentlich warum schweizerische und auch ausländische Komponisten hierzulande hervorgebracht haben. Garovis grosszügiger Blick reicht bis zur römischen Wasserorgel von Avenches zurück und übersieht zum Glück auch Komponistinnen nicht. Obwohl sie im Namenregister fehlt, ist sogar die mit Wagner bekannte Lenzburgerin Fanny Hünerwadel im Kapitel «Komponistinnen der Deutschschweiz» anzutreffen. Wie der Autor die lange Geschichte der mittelalterlichen Musik in Kirchen und Klöstern rafft, ist meisterhaft. Auf solchen souveränen Weitblick folgt im 20. Jahrhundert eine oft kurzsichtige Betrachtungsweise. So wird in der Zen- tralschweiz der eine oder andere bedeutungslose Komponist bevorteilt. Während aus den anderen Landesteilen wichtige Komponisten durch Abwesenheit glänzen, erscheint des Autors Vater Josef Garovi auf den nur gerade 160 Buchseiten gleich dreimal. Über die nach 1970 entstandene Musik informiert anstelle einer eigenen Stellungnahme ein ausführlich zitierter Text von Ulrich Dibelius. Missproportionen Unter auffallend unglücklicher Proportionierung leiden besonders stark die vielen Komponisten aus dem Aargau. So fehlen nicht nur Zeitgenossen wie Jürg Frey, Max Eugen Keller, Fabian Müller oder Michael Schneider, sondern auch so bekannte Verstorbene wie Carl Attenhofer aus Wettingen, Emil Frey aus Baden, Walther Geiser und Hermann Haller aus Zofingen, Peter Mieg aus Lenzburg, Walter Müller von Kulm, Alfred Wälchli aus Zofingen, Werner Wehrli und Ernst Widmer aus Aarau oder die durch ihren Wohnort mit dem Aargau eng verbundenen Walter Lang und János Tamás. Zu unverdienten Ehren kommt hingegen der Lengnauer Bürger Ernest Bloch, der nachweislich weltweit am häufigsten aufgeführte Schweizer Komponist. Dessen Skizzen zum Opernfragment «Jezebel» von 1918 verwandelt Garovi fantasievoll in eine fertige Kompo- sition, indem er voreilig kundtut: «Bloch hatte damals bereits zwei bedeutende Opern ‹Macbeth› und ‹Jézabel› geschrieben.» Die Vorzüge des leicht lesbaren Buches bestehen in der wunderbar weit ausholenden Geschichtsschreibung, in speziellen Kapiteln wie «Europäische Musik am Konzil von Basel» oder «Das Luzerner Orgelspiel – ein einzigartiges Staatstheater» im handlichen Format. Angelo Garovi Musikgeschichte der Schweiz, Stämpfli Verlag, Bern 2015, 160 Seiten Fr. 19.90.