Wann wir schreiten Seit` an Seit`

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5. September 2005, 19.30 Uhr
Wann wir schreiten Seit’ an Seit’
Die Neue Deutsche Linke und ihre historischen Vorläufer
Von Hannelore Dauer
Spr. vom Dienst
Wann wir schreiten Seit’ an Seit’
Die Neue Deutsche Linke und ihre historischen Vorläufer
Von Hannelore Dauer
O-Ton 1 (a- d)
(Sigmar Gabriel) Ich glaube, dass das keine neue Linke ist, sondern dass es die alte
Linke ist. Das ist die alte Linke aus den Ostkadern und den Westsektierern. Das sind
die Leute, die immer genau wissen, wogegen sie sind und denen es ausreicht, sich
wohl zu fühlen und Recht zu haben.
(Müntefering) Das ist die PDS mit Hospitanten aus dem Westen, das ist die schlichte
Wahrheit, und deshalb kann es eine Zusammenarbeit auch nicht geben...
(Schröder) Ich jedenfalls werde nie etwas mit dieser merkwürdigen Gruppierung da
am linken Rand machen, auch wenn die in den Bundestag kommen sollte.
(Helmut Lippelt) In der neuen Linkspartei seh’ ich nicht das Geringste von einem
epochalen Widerspruch. Insofern waren die Grünen wirklich ein Aufbruch zu ganz
neuen Ufern, alles Sachen, die ich, wenn ich das mal so sagen darf, bei diesen
gescheiterten Existenzen heute überhaupt nicht wahrnehme.
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Sprecherin
Die Etiketten wurden dem Produkt bereits aufgeklebt - da standen Namen, Inhalt
und Zusammensetzung noch nicht fest. Konsens herrscht nur über den Standort:
links von der SPD.
Die „Neue Deutsche Linke“ - soviel sei als Arbeitstitel erlaubt - formiert sich seit
einem Jahr.
Sprecher
Im grellen Licht des Wahlkampfs werden zukünftige Gefahren und geschichtliche
Erfahrungen beschworen: das „Ende der großen Volksparteien“ - ja, der
„Parteiendemokratie“ überhaupt, eine Wiederkehr „Weimarer Verhältnisse“, ein „Sieg
der Demagogen und Populisten, eine neue Volksfront“, die „größte Krise der
Sozialdemokratie seit Bestehen der Bundesrepublik“: Allerdings könnte die
Zersplitterung der Linken, in anderen westeuropäischen Parlamenten längst eine
Normalität, im neuen Bundestag durchaus zu einer Verschiebung des etablierten
Parteiengefüges führen - und damit zu erweiterten Koalitionsmöglichkeiten. Darüber
hinaus weckt sie in Deutschland traumatische Erinnerungen an Spaltungen der
Arbeiterbewegung, die die deutsche Geschichte geprägt haben.
MUSIK
(Lied) „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’
O-Ton 2 (Lothar Bisky)
Ich gehe davon aus, dass es sich hierbei um ein Projekt der Zukunft handelt - und
vielleicht auch um ein Projekt, in dem gezeigt werden kann, dass Vereinigung auf
andere Weise zustande kommen kann, als wir es in den letzten 15 Jahren erlebt
haben. Wenn wir - also PDS und W-A-S-G den eben skizzierten Weg einschlagen,
könnte das Jahr 2005 zu einem Meilenstein für die Linke in Deutschland werden.
Angestrebt wird das Zusammengehen zweier linker Kräfte, die einen erheblichen
Vorrat an Gemeinsamkeiten in ihren politischen Absichten und Zielen haben, die
aber einen unterschiedlichen historischen Hintergrund haben und sich auch auf
unterschiedliche soziale und politische Milieus stützen.
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Sprecherin( liegt über O-Ton 2)
‘W-A-S-G’ - das geht ihm noch nicht geläufig über die Lippen - Lothar Bisky, PDSParteivorsitzender, am 11.Juni 2005 - dafür aber die gewohnten rhetorischen
Rituale: ein paar optimistische Ausblicke auf die Zukunft der Linken, ein paar
Seitenhiebe auf die Vergangenheit des deutschen Vereinigungsprozesses.
Regie: Bisky O-Ton kurz hochziehen
Sprecherin
Eine ostdeutsche Partei trifft auf eine westdeutsche. Ehemalige SED-Mitglieder auf
ehemalige Sozialdemokraten. FDGB-Pensionäre auf aktive Betriebsräte. Erfahrene
Kommunalpolitiker auf politische Neulinge. Partei-Veteranen auf
Demonstrationsprofis. DDR-Nostalgiker auf Linksruck-Trotzkisten. Endzeit- auf
Gründerzeit-Stimmung.
Sprecher
Die WASG, die „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“, existiert als Partei
seit gut einem halben Jahr. Sie hat ca. 11 000 Mitglieder – nur doppelt so viele wie
die PDS allein an Mandatsträgern und Bürgermeistern stellt. Die PDS, 1989 als
SED/PDS gegründet, im Juli 2005 umbenannt in „Linkspartei“, gilt als „Milieupartei“,
d.h. ihre Mitglieder weisen relativ einheitliche Lebenserfahrungen auf. Der WASG
besteht dagegen aus unterschiedlichen Gruppierungen, denen die gemeinsame
kulturelle Unterfütterung fehlt. Die einigende Klammer ist die Kritik an der SchröderRegierung und ihrer Agenda-Politik, an den sozialen Einschnitten als Folge der Hartz
IV-Gesetze. Ansonsten sind die beiden Parteien so unterschiedlich, dass WASGVorstandsmitglied Klaus Ernst vor einem Jahr eine Zusammenarbeit mit der PDS als
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„vor der Wahl unvorstellbar“ bezeichnete. Eine Einschätzung, die noch im Juni 2005
von vielen geteilt wurde:
O-Ton 3 (WASG - Kreisverband Lüneburg)
Die kurzfristige Gründung einer Wahlpartei mit der PDS durch Gespräche und
Entscheidungen lediglich auf Bundesebene würde unserem basisdemokratischen
Anspruch nicht gerecht und zu einer tiefgreifenden Verunsicherung unserer
Mitglieder und Wähler bereits zu Beginn unseres Bestehens führen. Da die PDS
keine Akzeptanz in den alten Ländern hat, würde ein Zusammenschluss bei einer
großen Anzahl von Wählern zu einer tiefen Verunsicherung führen. Die
Entscheidung der WASG - Mitglieder war und ist eine bewusste Entscheidung gegen
die PDS, ansonsten hätten sie ja gleich in die PDS eintreten können. Also
letztendlich kann man es auch ganz einfach formulieren: wir wollen als WASG-Partei
eigenständig in den Bundestagswahlkampf eintreten und eigenständig die
entsprechenden Kandidaten der WASG aufstellen.
Sprecherin (über Schluss von O-Ton 3)
WASG-Kreisverband Lüneburg, 7.Juni 2005. Die Basis probt den Aufstand - einen
Monat lang. In Niedersachsen wie auch in Nordrhein-Westfalen, in Thüringen und in
Sachsen.
Sprecher
Während die PDS bereits langfristig die Strategie der „Westausdehnung“ verfolgte mit den nicht sehr erfolgreichen Linken bzw. Offenen Listen bei den Wahlen der
neunziger Jahre - geriet die WASG durch die vorgezogene Bundestagswahl unter
Zeitdruck. Die Initiative zur Annäherung an die PDS kam von oben: Die
Bundesebene - allen voran der Mitbegründer und IG-Metall-Funktionär Klaus Ernst drängte zur Zusammenarbeit bei der Wahl - und erhielt dafür Zwei-Drittel-Mehrheiten
auf dem WASG-Parteitag und bei der Urabstimmung unter den Mitgliedern.
Zugeständnis an die skeptischen Minderheiten in beiden Parteien: eine Fusion soll
erst binnen zwei Jahren nach der Bundestagswahl erfolgen. Die künftigen
Schwierigkeiten werfen jedoch ihre Schatten voraus: In Nordrhein-Westfalen droht
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eine innerparteiliche WASG-Opposition, der „Leverkusener Kreis“, mit Parteispaltung
wegen der Zusammenarbeit mit der Linkspartei; in Bayern und Berlin kam es zu
heftigen Auseinandersetzungen um die Kandidaten auf den Wahllisten, über die gemäß geltendem Wahlrecht - ausschließlich die Delegierten der Linkspartei
bestimmten.
Sprecherin
Ein ‘Vereinigungsprozess’ der besseren Art? Steht gar die ‘Vollendung der
Deutschen Einheit’ auf dem Spiel - oder nur der Einzug in den deutschen
Bundestag? Pathos überlagert das Kalkül: Gregor Gysi auf dem Sonderparteitag der
PDS am 17. Juli 2005:
O-Ton 4 (Gregor Gysi)
Jetzt haben wir plötzlich im Jahre 2005 beginnend die Chance, Deutschland
europäisch zu normalisieren, indem eine Partei links von der Sozialdemokratie sich
zum akzeptierten politischen Bestandteil ganz Deutschlands von Bayern bis
Mecklenburg-Vorpommern entwickeln kann, und die Kernkraft dabei sind wir. Das
hätte keiner 1989/90 geglaubt. Das ist die Wahrheit. (Beifall)
Sprecherin
Allerdings: kein Händedruck mit Klaus Ernst, der als Gast auf dem PDS-Parteitag im
Berliner Kongresszentrum spricht. Kein bedeutsames Symbol vor den Kameras. Das
wird nachgeholt: Ende August auf dem Programmparteitag der Linkspartei.
Lafontaine umarmt den Ehrenvorsitzenden der PDS, Hans Modrow - als wenn sich
damit jener Händedruck vergessen ließe, mit dem vor fast 60 Jahren im ehemaligen
„Admiralspalast“ SPD und KPD zur SED zwangsvereinigt wurden.
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Sprecher
Der Appell an die „Einheit der Arbeiterbewegung“ hat in der Geschichte der
Sozialdemokratie eine lange Tradition - er ist untrennbar verbunden mit den
historischen Erfahrungen, dass Zersplitterung die Bewegung schwächt. „Einigkeit
macht stark’’, so der Schriftzug - über einem Händedruck - auf der alten SPDParteifahne: ein Verweis auf die jahrzehntelangen ideologischen
Auseinandersetzungen vor Gründung der Partei - aber auch auf die organisatorische
Voraussetzung für den zukünftigen Kampf gegen einen übermächtigen politischen
Gegner. Der Zusammenhalt der Partei war immer ein hohes Gut: in Zeiten der
Verfolgung überlebenswichtig, bei Streiks und Demonstrationen gefestigt und in der
parlamentarischen Opposition bewährt - entsprechend schwerwiegend war stets der
Vorwurf der Parteispaltung:
O-Ton 5 (Karl-Heinz Hansen)
Ja - betroffen? Konkret hat Helmut Schmidt nur abfällige Bemerkungen gemacht - er
hat sich nicht groß darum gekümmert. Also 1982 war die Situation etwas anders, als
sie heute ist in Bezug auf die Linkspartei. Da waren wir einige wenige: Ich wurde
wegen einer Rede gegen Helmut Schmidt und seine Stationierungspolitik
ausgeschlossen. Daraufhin haben wir den Entschluss gefasst, eine eigene Partei zu
gründen, und diese Partei nannte sich dann „Demokratische Sozialisten“. Jedenfalls
hat diese Partei nicht sehr lange überlebt.
Sprecherin
Karl-Heinz Hansen, SPD-Rebell der siebziger und achtziger Jahre gegen
Nachrüstung und Sozialabbau der Regierung Helmut Schmidts. Heute parteilos, hat
er eine der vielen Unterschriftenlisten initiiert, die zu einer Zusammenarbeit von
WASG und PDS aufforderten - eine Unterstützung, die es für die „Demokratischen
Sozialisten“ Anfang der achtziger Jahre nicht gab:
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O-Ton 6 (Karl-Heinz Hansen)
Ich sehe vor allen Dingen, dass die Zeit nicht reif war für eine solche Partei, weil das
Parteiengefüge in der Bundesrepublik doch relativ gefestigt war, und unsere Partei
ist eben nicht gescheitert daran, dass ihre Ziele falsch gewesen wären, sondern
dass das Echo noch nicht da sein konnte - von den realen Gegebenheiten. Und nun
ist das aber mehr geworden. Früher wären die mit großer Arroganz darüber
hinweggegangen: das sind ein paar Verrückte. Und das halte ich für im Kern ganz
wichtig: also eine Handvoll Leute - die bringen es fertig, den Kurs der SPD in ihren
Verlautbarungen zu ändern.
MUSIK
(Wann wir schreiten Seit an Seit...) ...mit uns zieht die neue Zeit...
Sprecherin
Es war die Zeit, als der Bundestag Hartz IV beschloss, als die SPD einzelne Kritiker
aus der Partei ausschloss, als die Linken in der SPD den Diskussionskreis
„Denkfabrik“ gründeten, als der Streit um die Agenda-Politik den SPDGewerkschaftsrat fast spaltete und einige Gewerkschafter eigene Wege gingen.
O-Ton 7 (Thomas Händel)
Ja, meine sehr verehrten Damen und Herren, mein Name ist Thomas Händel, ich bin
einer der Initiatoren der Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit. Wir wollen in
diesem Sinne keine Organisation klassischen Typs sein mit den üblichen
Ortsvereinsleben oder gar mit Parteischiedskommissionen, sondern wir wollen auch
in diesen Parteistrukturen, wenn es denn welche werden, möglichst viel Offenheit für
die sozialen Bewegungen schaffen und möglichst viel Mitsprache der Menschen
ermöglichen. Außerparlamentarische Bewegungen und auch parlamentarisch als
wählbare Alternative zur Verfügung zu stehen, sind zwei Seiten ein und derselben
Medaille unseres politischen Auftritts.
Sprecherin
Berlin, 20.Juni 2004, Audimax der Humboldt-Universität. Ein erstes bundesweites
Treffen der Protestbewegung gegen Hartz IV .700 Menschen haben sich versammelt
mit der Perspektive, zunächst einen Verein, dann eine neue Partei zu gründen:
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O-Ton 8 (Thomas Händel)
Ein Schiff beginnt man auch nicht mit dem Schnitzen der Galionsfigur, sondern ein
Schiff beginnt man damit, das Ding erst einmal auf Kiel zu legen, den Rumpf zu
bauen, sich dann um die Innenausstattung und die Mannschaft zu kümmern und
dann zu schauen, ob das Ding schwimmt. Aber es geht uns jetzt nicht darum,
sozusagen eine Talk-Show-Persönlichkeit zu kreieren, die dann wieder für viele
Menschen von oben nach unten redet und die Menschen das Gefühl kriegen
müssen, sie haben ja eigentlich da gar nichts zu sagen, sondern sie können sich nur
dazu verhalten, was der Mensch am Wochenende bei Christiansen verkündet hat
über den künftigen Kurs dieser Bewegung.
Sprecherin
Ein Jahr später - und sie haben nicht nur eine, sondern zwei Galionsfiguren: Oskar
Lafontaine und Gregor Gysi, Spitzenkandidaten ihrer Parteien. Protest auf dem
WASG-Parteitag am 3.Juli 2005: „Wir konnten uns die Galionsfigur nicht schnitzen“.
Die ist inzwischen so riesig geworden, dass das Partei-Schiff dahinter verschwindet.
Eigenmächtig setzt Lafontaine auf das Wählerpotential am rechten Rand. Und muss
aufgefordert werden, sich an den WASG-Parteitagsbeschluß zu halten, in dem es
heißt: „Keine Ethnisierung der sozialen Frage!“
Sprecher
Die PDS hat sich in den Wahlen der neunziger Jahre immer schon
überdurchschnittlich auf Personen und Kandidaten konzentriert, vor allem „auf die
politische Kommunikationsleistung ihres Spitzenkandidaten Gregor Gysi“ - schreibt
Patrick Moreau in einer Parteigeschichte der PDS. Wahlanalysen haben ergeben,
dass die Erfolge der PDS untrennbar mit der Person Gregor Gysis verknüpft waren.
Die WASG dagegen hat sich noch auf ihrem Bundeskongress im November 2004
intensiv mit Strukturen auseinandergesetzt, die dem Ausbau persönlicher Macht
entgegenwirken sollten, mit der Rotation und der Trennung von Amt und Mandat, wie
von den Grünen lange Jahre praktiziert. Jetzt leistet die WASG mit der Konzentration
auf medienwirksame Spitzenkandidaten genau der Personalisierung von Politik
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Vorschub, die sie zuvor als typisches Merkmal herkömmlicher Parteien abgelehnt
hatte.
O-Ton 9 (Helmut Lippelt)
Und damit sind wir beim Problem, schon allein die Namensbildung. Nicht? Das bringt
ja weiter keinen Inhalt zum Ausdruck. Die Frage ist: brauchen wir diese Linkspartei?
Ich glaube, es ist eine Protestpartei. Ich glaube, sie ist rückwärtsgewandt, sie hat
sehr stark persönliche Elemente: dies ist jetzt die letzte Phase des Fiaskos der
Brandt-Enkel, und dass nun Oskar Lafontaine sein altes Duell mit Schröder hier nun
noch wieder neu auslebt, ist ja auch sehr bezeichnend. Es wird ihnen so gehen wie
vielen dieser Neugründungen, die gewissermaßen auf keinen Ideen nach vorn
beruhen, sie bringen einen Protest zum Ausdruck, aber ich sehe keine Chance für
sie auf lange Dauer.
Sprecherin
Helmut Lippelt, einer der Gründungsväter der Grünen Bundespartei - keine SPDAbspaltung im eigentlichen Sinn, aber doch entstanden durch politische ThemenLücken vor allem der Schmidt-Regierung. Lippelt ist Mitglied der Grünen in
Niedersachsen, dem Landesverband, in dem am längsten um die ursprünglichen
Ideen von innerparteilicher Organisation gerungen wurde:
O-Ton 10 (Helmut Lippelt)
Ja, wir waren ein Kulturbruch, das ist ganz klar. Und ich hatte Schwierigkeiten, diese
neuen Politikformen zu verstehen zu Anfang. Also mir standen die Haare zu Berge wenn dann die Gruppen, die sich da versammelten im Plenum - wenn die sagten:
also ich komme von da und da her, habe das Mandat so und so weit zu gehen, ich
kann dem zustimmen, weiter geht mein Mandat nicht, da muss ich erst wieder nach
Haus usw. -und so ungefähr 50 solcher Gruppierungen. Ein Kulturbruch war das!
MUSIK
(Wann wir schreiten Seit an Seit) ...und die alten Lieder singen...
10
Sprecherin
Ein „Kulturbruch“ ist sie nicht - die „Neue deutsche Linke“. Im Gegenteil: Die
Linkspartei/PDS ist überaltert, in den letzten 10 Jahren hat sie die Hälfte ihrer
Mitglieder verloren - vor allem durch Todesfälle. Die WASG-Mitglieder - in der
„Spiegel“ -Berichterstattung innerhalb eines Jahres vom „bunt zusammengewürfelten
Haufen“ zur „Alt-Herren-Riege“ mutiert - sind überwiegend zwischen 45 und 55 Jahre
alt. Und sie erklären: Die Partei gehört nicht Schröder - Eigentlich sind wir die
Partei“...
Sprecher
Abspaltungen von der Sozialdemokratie nahmen immer für sich in Anspruch, die
alten Parteiideale wie die „soziale Gerechtigkeit“ -„gegen eine systemkonform
gewordene “Mutterpartei! - so die Definition im Lexikon der Politik von Everhard
Holtmann - zu verteidigen. Das galt für die „Demokratischen Sozialisten“ von1982,
die sich unter anderem gegen die Reduzierung von Kindergeld und Sozialhilfe durch
die Schmidt-Regierung wandten, wie für die SAP 1931. Damals, gegen Ende der
Weimarer Republik, kritisierten die Abweichler die „Anpassungspoltik“ der SPD. Der
letzte sozialdemokratische Ministerpräsident Hermann Müller hatte vor dem
Hintergrund der Weltwirtschaftskrise viele der erst vor einem Jahrzehnt erworbenen
sozialen Errungenschaften zurückgenommen. Auch heute ist eine soziale
Besitzstandswahrung für die Neue Linke zentral.
„Die SPD hat in der Regierung ihre Seele verraten“, befand Heiner Geißler, CDU.
Dazu der Politologe Gerd Mielke - unter den SPD-Ministerpräsidenten Scharping und
Beck bis 2004 in der Grundsatzabteilung der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei für
die Umsetzung der Parteirichtlinien in politisches Handeln zuständig:
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O-Ton 12 (Gerd Mielke)
Für die Union hat sich eine Abspaltung aus christlichen Motiven nie so dramatisch
dargestellt, weil die Frage einer christlichen Politik sich niemals so konkret mit
sozialstaatlichen, wohlfahrtsstaatlichen, Renten-, Gesundheitsthematiken verbunden
hat, wie das jetzt bei der Frage der sozialen Gerechtigkeit der Fall ist. Insofern ist
das ‘C’ für die Unionsparteien nicht von derselben Bedeutung wie das Thema soziale
Gerechtigkeit und Wohlfahrtsstaat für die Sozialdemokratie. Die SPD hat ja
eigentlich ihre historische Daseinberechtigung immer daraus bezogen, dass sie mit
Hilfe staatlicher Programme, mit Hilfe staatlich gesteuerter Politik die in der
Gesellschaft, in der Wirtschaft Zukurzgekommenen und Benachteiligten versucht
hat, aus ihren Benachteiligungen zu befreien und ihnen einen besseren Status in der
Gesellschaft zu verschaffen. Und das war ja immer eine sehr, sehr konkrete
Aufgabe.
Sprecher
Die Forderungen der neuen Linken haben bereits eine Sogwirkung auf die anderen
Parteien entfaltet - vor allem auf die SPD. Auch in ihrem Wahlmanifest werden
Mindestlöhne - im außertariflichen Bereich - gefordert, eine so genannte
Reichensteuer, eine Bürgerversicherung. Und so sind es vor allem die genauen
Zahlenangaben im Programm der Neuen Linken - deren Höhe zudem noch zwischen
WASG und Linkspartei umstritten ist - für Mindestlöhne, für eine Wochenarbeitszeit
und eine Grundsicherung, die Zweifel an der Durchführbarkeit wecken: „Eingriff in
die Tarifautonomie“ - so urteilt DGB-Chef Michael Sommer. Ein Programm „nicht von
dieser Welt“, so Finanzminister Hans Eichel angesichts von Fehlbeträgen im
Programm der Neuen Linken, die in seinem Ministerium errechnet worden sind. Dem
hält Bert Rürup, Ökonom und ‘Wirtschaftsweiser“, entgegen: „Solide durchgerechnet
ist keines der Wahlprogramme“, Deckungslücken weisen sie alle auf. Die eigentliche
Trennlinie ergibt sich daher auch nicht aus den Einzelmaßnahmen, sondern eher
aus einer abweichenden Analyse, die sich vor allem an Theorien des englischen
Wirtschaftsklassikers Keynes orientiert:
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O-Ton 13 (Joachim Bischoff)
Die große Herausforderung besteht jetzt darin, dass man zu einer Neugruppierung
der politischen Linken kommen muss, das kann aber nur erfolgreich sein, wenn wir
uns ein genaueres Bild von der Veränderung der gegenwärtigen kapitalistischen
Gesellschaften machen, d.h. wir müssen ein neues System von Steuerung, von
Regulation entwickeln und können mit dem, was wir also aus den 50er und 60er
Jahren ererbt haben, das nicht bewältigen.
Sprecherin
Joachim Bischoff, Mitglied des WASG-Bundesvorstands, Verlagslektor mit den
Schwerpunkten Soziologie und Politik, Mitglied der WASG-Programm-Kommission
und der „Memorandum-Gruppe“, einer Vereinigung alternativer
Wirtschaftswissenschaftler:
O-Ton 14 Bischoff
Die wichtigste Ebene der gesamten Politik ist: wie kann man Wachstum in der
Gesellschaft, wie können Sie gesamtgesellschaftliche Wertschöpfung wieder so
entwickeln, dass wir aus dem Zustand von Stagnation, in dem wir uns augenblicklich
befinden, herauskommen. Dieser Zustand der Stagnation - weniger
Wirtschaftswachstum - heißt eben auch: dass die bisherigen Systeme sozialer
Sicherung nicht mehr funktionieren können und dass die Verteilungsspielräume
enger werden und wenn sich dann in diesen verengten Verteilungsspielräumen die
Share-Holder und die Vermögenden stärker bedienen - dann haben sie eben eine
Tendenz zur sozialen Polarisierung, zu Armutsprozessen etc. Man muss zu einem
Politikwechsel kommen.
Sprecher
Die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion der Neuen Linken wird vor allem von
Theoretikern innerhalb der WASG getragen. Hier wie auch im Umkreis der großen
Gewerkschaften IG-Metall und Verdi werden konkrete Alternativen erarbeitet - nicht
nur zum so genannten „neoliberalen Mainstream“, sondern auch in Anlehnung an
Erfolge neoliberaler Konzepte wie von New Labour mit seiner vergleichsweise hohen
Vermögensbesteuerung, mit Mindestlöhnen und faktisch höheren
13
Unternehmenssteuern. Allerdings geraten die Verfechter einer nachfrageorientierten
Wirtschaftspolitik in die Defensive, wenn es darum geht zu erklären, wie im Zeitalter
einer Weltwirtschaft mit mobilem Kapital und mobilen Arbeitskräften dem
international agierenden Kapital Regeln und Kontrollen vorgeschrieben werden
sollen - außer durch einheitliche soziale und steuerpolitische EU-Standards und
Besteuerung internationaler Devisen-Transaktionen. Dies ist eine in weiter Zukunft
liegende Perspektive, übrigens auch von der SPD angepeilt, die die Neue Linke gar
nicht zu konkretisieren braucht - angesichts einer von der großen Mehrheit der
Bevölkerung wahrgenommenen „Gerechtigkeitslücke“, so der Politologe Gerd
Mielke, Mitglied der „Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg“:
O-Ton 15 (Gerd Mielke)
Das ist die Achillesferse für die sozialdemokratische Bundesregierung, dass nämlich
in den letzten Jahrzehnten, aber eben auch in den sieben Jahren Rot-Grün, sich die
Spaltung zwischen oben und unten, zwischen Arm und Reich, die
Einkommensentwicklung im Kapitalbereich, in lohnabhängigen Bereichen
unterschiedlich vollzogen hat. Und das heißt also: diese neue Linkspartei braucht
überhaupt keine revolutionären oder systemsprengenden Forderungen zu
formulieren. Sie hat ja den Vorteil, dass sie von den augenblicklich sichtbaren
Parteien im Bundestagswahlkampf die eigentlich bewahrende und konservative Rolle
spielt, in dem Sinne ist diese neue Linkspartei ja eigentlich keine Linkspartei, so wie
sie früher- also bis in die siebziger, achtziger Jahre - zu finden waren. Da waren die
Linksparteien immer systemüberwindende Parteien: also man hat die Banken
verstaatlichen wollen oder Investitionslenkung oder was auch immer im Visier
gehabt, das ist ja alles jetzt überhaupt nicht der Fall, sondern besinnt sich auf ganz
einfache sozialpolitische Grundsätze - also das wäre in dem Sinne fragwürdig
eigentlich, das als Linkspartei zu bezeichnen.
Sprecher
„Sozialismus? Ich weiß gar nicht, was das heute sein soll“ - so WASGGründungsmitglied Axel Troost. „Keine Enteignung, keine Vergesellschaftung“,
mahnt Klaus Ernst. „Eine Phantomdebatte“ so der parteilose Staats - und
Völkerrechtler Norman Paech, der auf Platz 1 der ‘Linkspartei’ in Hamburg
14
kandidiert. Vor allem die WASG hat daraus ein Tabu-Thema gemacht, die
Linkspartei hat die Diskussion um einen „demokratischen Sozialismus“ - als Formel
mehrfach im Parteiprogramm vorhanden - weitgehend an ihre „Kommunistische
Plattform“ delegiert. Pragmatismus beherrscht die Neue Linke, Politik im Hier und
Jetzt.
Sprecherin
Zum Beispiel in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern, wo die PDS die Umsetzung
der Hartz-IV-Gesetze mitträgt.
17. Juli 2005 - PDS-Parteitag - der letzte unter diesem Namen. Petra Pau im Spagat
zwischen dem rot-roten Diesseits und dem tiefroten Jenseits vom Kapitalismus.
O-Ton 16 Pau (schon unter Sprecherin, dann frei)
Deshalb werbe ich für den Zusatz PDS - denn PDS: das ist mehr als drei
Buchstaben. Mittelfristig (Beifall) ...mittelfristig geht es um eine neue Linkspartei,
und dabei geht es übrigens nicht nur um Namen und Rechtsfragen, es geht um
Inhalte, es geht um Programm, es geht um Strategien. Und darüber müssen wir
endlich miteinander reden: ganz ehrlich und ganz offen. Und dabei haben wir als
PDS einiges einzubringen. Wir sind die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Wir sind
die Partei für Friedenspolitik, und wir sind die Partei mit Ostkompetenz und ich
denke, all das ist unverzichtbar auch für die neue Linkspartei. Und ich komme aus
Berlin und weiß, worüber ich rede. Ja, wir haben auch in Berlin bewiesen, dass wir
den Kapitalismus verwalten können, besser und sozialer als andere. Und das ist für
Hartz-IV-Betroffene mehr als nichts. Und deshalb wären wir auch dumm, wenn wir
die Hartz-IV-Lösungen in Berlin gering schätzen oder gar im Wahlkampf verstecken
wollten. Sie sind auch ein Gütesiegel für die PDS Und wir bleiben aber auch dabei,
dass der Kapitalismus eben nicht das letzte Wort der Geschichte sein darf, und
deshalb wären wir dumm, wenn wir unser hart erstrittenes Parteiprogramm gering
schätzen würden. Ich denke, es kann Kompass für viele Linke sein und uns in die
neue Linkspartei begleiten.
Regie auf Ende von O-Ton 16 Musik und Sprecherin:
MUSIK
(Wann wir schreiten Seit’ an Seit’)...und die alten Lieder singen...
15
Sprecherin
Lehren aus der Geschichte:
Sprecher
Zu Abspaltungen bzw. Partei-Neugründungen kam es immer dann, wenn die SPD
regierte oder sich staatstragend gab - wie im Rahmen der Burgfriedenspolitik im
Ersten Weltkrieg. Am einschneidendsten bis heute: die Gründung der USPD im
Jahre 1917. Hier hatten sich - durchaus nicht unähnlich der Neuen Linken heute ganz unterschiedliche Strömungen zusammengefunden: Vertreter der Parteimitte
aus der Vorkriegszeit wie der ehemalige Vorsitzende Hugo Haase, die alten
Parteitheoretiker Kautsky und Bernstein, aber auch oppositionelle Gewerkschafter
und radikale marxistische Linke. Fachleute des rechten Flügels arbeiteten an der
Weimarer Verfassung mit, bei den Reichstagswahlen 1920 gelang es der USPD, fast
gleichauf mit der SPD zu ziehen. Und doch war es eine Spaltung, die sich letztlich
als Schwächung im Kampf gegen Rechts am Ende der Weimarer Republik
auswirkte. Für viele Sozialdemokraten deshalb bis heute eine schmerzliche
Erinnerung:
O-Ton 17 (Gabriel)
Es ist sicherlich nicht vergleichbar mit der Spaltung der USPD damals, die ist ja zum
Teil zurückgekommen, zum Teil dann über die Spartakisten zur KPD gegangen, das
hat ja verheerende Folgen gehabt in der Weimarer Republik - so dramatisch sehe
ich das hier bei weitem nicht.
Sprecher
Tröstlich für Sigmar Gabriel, ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident und
Bewerber um ein Bundestagsmandat: Keine der Abspaltungen der SPD war
16
langfristig erfolgreich. Einmal in der Opposition angekommen - nicht zuletzt als
Ergebnis der Parteispaltung - machte ein Linksruck der SPD diese Spaltung wieder
überflüssig:
O-Ton 18 (Sigmar Gabriel)
Bei der jetzigen Linkspartei, glaube ich, muss man einfach zugestehen, dass durch
den Eindruck, dass wir die soziale Balance nicht hinreichend berücksichtig haben,
diese Partei sich etablieren konnte. Wir müssen das korrigieren - auch durch die
Inhalte unserer Politik. Und dann glaube ich - das wäre zurzeit jedenfalls meine
Prognose, dass, wenn die jetzt in den Bundestag kämen, das eine Legislaturperiode
dauert. Dann sind die weg. Das wäre meine Prognose - jedenfalls in der Stärke.
Spr. vom Dienst
Wann wir schreiten Seit’ an Seit’
Die „Neue Deutsche Linke“ und ihre historischen Vorläufer
Von Hannelore Dauer
Es sprachen: Viola Sauer und Markus Hoffmann
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Steffi Ruh
Redaktion: Stephan Pape
Produktion: Deutschlandradio Kultur 2005
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